Francisco García Chicote
(Universidad de Buenos Aires)
Provisorisches zu György Lukács’ Aktualität[1]
„Wenn etwas einmal problematisch geworden ist […],
so kann das Heil nur aus der äußersten Zuspitzung der Fragwürdigkeit,
aus einem radikalen Bis-zu-Endegehen in jeder Problematik entspringen.“
Lukács (GLW 1: 209)
1. Zwei Seelen in einer Brust
In seinem anlässlich Lukács’ 50. Todestages gehaltenen Vortrag „Ein Jahrhundertphilosoph“ legte Wolfgang Müller-Funk auf die Diskontinuität des Werkes des ungarischen Philosophen Gewicht. Den für die mitteleuropäische Intelligenz höchst einflussreichen frühen Essays – und hier wurden Die Seele und die Formen, Die Theorie des Romans und Geschichte und Klassenbewusstsein behandelt – stellte er die späteren Arbeiten gegenüber, die von einem parteiischen, dogmatischen Optimismus ergriffen worden wären. Die nach Müller-Funk diesen Schriften der Reife zugrundeliegende „Denkfigur“ setze „die große Erzählung des langen Marsches oder Atems der Geschichte hin zur dialektischen Wende hin zum Sozialismus“ voraus (s. hier) – eine Figur, die historisch erklärbar sei: Lukács sei zugleich „Täter“ und „Opfer“ der „handfesten ‚Dialektik’“ der kommunistischen Politik gewesen, der er sich „spätestens seit Ende der 1920er Jahre gebeugt” habe. So scheint der Weg zur Erledigung der strittigen Sache des Erbes Lukács’ bereitet zu sein: sein Werk sei vom historischen Wert, von dokumentarischer Bedeutung. Lukács sei ein „Jahrhundertphilosoph“, weil er “sein Jahrhundert auf höchst unterschiedliche Weise zu lesen und zu beschreiben versucht” habe, und „weil wir dieses Jahrhundert kaum verstehen können, wenn wir sein vielfältig in sich gebrochenes Werk ignorieren” (s. ebd.).
Müller-Funks Ansicht ist gut fundiert. Die Idee, dass in Lukács’ Brust zwei sich von einander trennen wollende Seelen wohnen, hat eigentlich eine lange Geschichte. Man findet ihren Ursprung in den frühen, gleich nach der Veröffentlichung erschienenen Besprechungen von Geschichte und Klassenbewusstsein; der Gedanke wurde dann von zentralen und auch von Randfiguren der sogenannten „Frankfurter Schule“ in den zwanziger, dreißiger, fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts weiterentwickelt, fand in der amerikanischen Rezeption des westlichen Marxismus während der folgenden Jahrzehnte einen energischen Impuls, und wirkte nach der Jahrhundertwende noch lebendig weiter. Die einfache, abstrakte Formulierung dieser als Interpretationsschlüssel zum ungarischen Philosophen dienenden Idee könnte so lauten: es gebe im marxistischen Werk von Lukács zwei gegensätzliche Momente; einerseits eine unerhörte soziologische Scharfsichtigkeit, durch die es ihm gelinge, bis zur Tiefe der Mannigfaltigkeit der modernen Erscheinungen durchzudringen und aus deren Scheinheterogenität reale, konkret wirkende Zusammenhänge zu enthüllen. Diese ‚helle Einsicht’ stehe andererseits aber im schroffen, ja tragischen Gegensatz zu einem idealistischen a priori, das jedem enthüllten Element eine im Vorhinein fixierte Bedeutung zurechne, und es nach einem Sollen – respektive einer Geschichtsphilosophie – bewerte.
So behauptet zum Beispiel 1926 Siegfried Kracauer anlässlich der Debatten, die sich um Geschichte und Klassenbewusstsein – und um die Fraktionskämpfe innerhalb der ungarischen und russischen kommunistischen Parteien – drehten, dass Lukács die materialistische Kritik der „Realien“ „zugunsten seiner an den Idealismus fixierten formalen Systematisierung“ preisgegeben hätte (in Bloch 1985: 273).[2] Spuren dieser Lesart lassen sich bei Susan Buck-Morss (1977: 26ff.) finden, deren Beitrag zur Deutung und Bewertung des Komplexes „Kritische Theorie“ die nachkommenden Arbeiten maßgeblich bedingte. Buck-Morss zufolge habe Lukács’ „Verständnis des dialektischen Materialismus“ zwei Komponenten: eine scharfsinnige, negative Kritik der Beziehung zwischen bürgerlichen Denkweisen und kapitalistischen Daseinsformen und einen positiven Geschichtsbegriff Hegelscher Färbung, der den Gang des Proletariats mit dem der Geschichte zusammenfließen lasse.[3] Und noch ein Vierteljahrhundert später bedauert Werner Jung (2001:115ff.), dass Lukács’ Auseinandersetzung mit den “Strukturen der Lebens- und Arbeitswelt” von “nicht überwundenen idealistischen Resterben”, die alles “einem vorausgesetzten historischen Telos” unterordnen, verdorben werde.
Sobald dieser dualistische Schlüssel auf das Problem der theoretischen Entwicklung von Lukács, also diachronisch angewendet wird, ruft er die Konstruktion eines – die Provokation sei gestattet – „erkenntnistheoretischen Bruchs“ zwischen dem jungen und dem alten Philosophen hervor. Je nachdem welche Periode des Werkes gelobt wird, werden der anderen idealistische Züge vorgeworfen. Adorno (1961: 153f.) hält 1958 die Lukácschen Arbeiten der fünfziger Jahre für einen Beweis dafür, dass der Philosoph bei aller früheren Scharfsichtigkeit einen Kompromiss mit der sowjetischen Ideologie eingegangen sei, und deswegen seine eigene Vernunft zerstört habe. Und an einer anderen Stelle lässt sich von demselben Adorno lesen, „der kardinale Fehler aller späteren essayistischen Arbeiten von Lukács“ sei die „bündige Ableitung“ der Inhalte aus einer systematischen Theorie (1958: 38).[4] Eine symmetrisch gegensätzliche Interpretation, die angeblich mit den autobiographischen Überlegungen des Philosophen übereinstimmen soll, betrachtet die aus den zwanziger, dreißiger und (je nach Fall) vierziger Jahren stammenden Texte als Beispiele eines „Protomarxismus“ (Oldrini 2009, Infranca 2013), der eventuell auf richtige Bahnen habe führen können. Die daraus folgende Bevorzugung der so konstruierten reifen Phase erweckt ab und zu den Eindruck, dass solche Lektüren den ‚Weg zu Marx’ mit einem Weg-zur-Wahrheit gleichstellen.
Eine offene Konfrontation mit so verbreiteten Deutungen ist hier nicht beabsichtigt – zu einem Zweifrontkampf fehlt uns die Kraft, und außerdem wird letztendlich niemand verkennen, dass es im Werk des Philosophen tatsächlich unvermeidliche theoretische Diskontinuitäten gibt, die, wie György Márkus behauptet (1977: 97), von den ganz unterschiedlichen historischen und ideologischen Zusammenhängen herrühren, in denen Lukács sein Denken entwickelte. Aber im Folgenden wird die These vertreten werden, dass bei Lukács lebenslang eine grundlegende, radikal undogmatische intellektuelle Haltung vorherrscht, die eng mit seiner Auffassung vom Essay als Form verbunden ist, und eine Perspektive voller bestimmter ethischer, erkenntnis- und kunsttheoretischer, ästhetischer Implikationen eröffnet. Lukács’ ‚essayistische’ Kritik – mindestens unserer hier dargelegten Konstruktion nach – gleicht der „wahrhaft philosophischen Kritik“, wie sie von Marx anlässlich seiner Abrechnung mit der Hegelschen Staatsauffassung definiert wurde. Der 25-jährige Marx schrieb der „wahren Kritik“ die Fähigkeit und die Pflicht zu, ihre Objekte von ihren eigenen inneren, prozesshaften Eigenschaften aus zu erklären, was, im schroffen Gegensatz zu dem „dogmatischen Irrthum“ der „vulgären Kritik“ – die empört, ein Sollen gegenüberstellend, „mit ihrem Gegenstand kämpft“ – die Rettung der Objekte selbst, ihre Rücknahme für menschenwürdigere Verhältnisse, zur Folge habe. „Dies Begreifen besteht […] darin“, so Marx, „die eigenthümliche Logik des eigenthümlichen Gegenstandes zu fassen“ (MEGA2 I.2, 100f.). Unmittelbar bedeutet diese Art theoretischer Annäherung an soziale Gegenstände die Ablehnung jeder apriorischen Methode, jeder abstrakten, ihrer Objekte fremden Systematik und folglich die Einsicht darin, dass die analytischen Kategorien Ableitungen der objektiven Struktur selbst des vorliegenden Objektes bilden.[5] Wenn auch provisorisch, wird hier dafür argumentiert, dass diese Auffassung den Ausgangspunkt für die Frage nach der Bedeutung Lukács’ bilden sollte: wenn der ungarische Philosoph noch aktuell ist, so ist dies vor allem seinem Kritikbegriff zu verdanken.
Das Argument weist zwei Momente auf. Der erste Teil widmet sich Lukács’ Überlegungen über den Essay als Form, und versucht am Beispiel seines Gattungsbegriffes bestimmte formale Züge in den frühen Schriften zu beleuchten, vor allem in Die Theorie des Romans, Geschichte und Klassenbewusstsein und der Arbeit über Moses Hess. Der zweite Teil geht dem essayistischen Charakter zweier Abhandlungen der reifen Phase des Philosophen nach: des Aufsatzes über Lessings Minna von Barnhelm und über Alexander Solschenitzyns Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch.
2. Radikalität der frühen Essayistik
Schwerlich lässt sich der Dogmatismus, der Lukács oft zugeschrieben wird, mit den Überlegungen über den Essay als Form in Einklang bringen, die der Philosoph schon im ersten Aufsatz seiner 1911 erschienenen Die Seele und die Formen skizziert hat. Dort wird der Essay – oder „die Kritik“, „nenne es vorläufig wie Du willst“ (GLW 1: 195) – so begriffen, dass er sich dem systematischen wissenschaftlichen Denken strikt entgegensetzt. Lukács tritt in Georg Simmels Fußstapfen: für den Berliner fasst „der Systematiker“ sowohl das einzelne Element, als auch das Ganze als „ein Fertiges, Abgeschlossenes, eine feste Form aus festen Formen“ auf, „geordnet nach architektonisch-einheitlichem Prinzip, das jedem überhaupt denkbaren Element seine Stelle gleichsam vorbestimmt“; das prozesshafte Wesen des Lebens kann sich jedoch „nicht zu einer irgendwie genügsamen Einheit zusammenschließen“ (GSG 15: 89). Wegen seiner Offenheit, dem unüberwindbar provisorischen und fragmentarischen Charakter seiner Behauptungen, seiner bedingungslosen Hingabe an das konkret Vorhandene und dessen reale Beziehungen, seinem prinzipiellen Humor und Ironie, seiner Ablehnung jedes Schicksalshaften und Endgültigen ist der Essay für Lukács nicht nur imstande, ein „nicht gesuchtes Ziel [zu] erreichen“, welches allerdings das Ziel schlechthin bildet: „das Leben“ (GLW 1, 206) – sondern auch die „kleinen Vollendungen wissenschaftlicher Exaktheit“ und deren Stehenbleiben an dem „scheinbar Positiven und Unmittelbaren“ als „wohlfeiles Abschließen“ zu entlarven (GLW 1: 211). Wenn auch konfus, doch weist der junge Philosoph darauf hin, dass der Essay nicht nur die entäußerte Natur der modernen Objektivationen, sondern auch das daraus folgende entfremdete Bewusstsein enthüllen könnte. Seine Abneigung dagegen, fertige, abgeschlossene erkenntnistheoretische Modelle anzuwenden, erfordere eine immanente, radikale Behandlung der Gegenstände, die für Lukács zur Rettung derselben führt: „Wenn etwas einmal problematisch geworden ist […], so kann das Heil nur aus der äußerste Zuspitzung der Fragwürdigkeit, aus einem radikalen Bis-zu-Endegehen in jeder Problematik entspringen“ (GLW 1: 209). Mit dem Einzelnen und dessen eigentümlicher Beschaffenheit beschäftige sich der Essay, daraus folge seine Flexibilität und Vielfältigkeit. Konsequent vertritt Lukács die Ansicht, die kritische Aktualität stecke hier nicht im Inhalt, sondern in der Form: „Der Essay ist ein Gericht, doch nicht das Urteil ist das Wesentliche und Wertenscheidende an ihm (wie im System), sondern der Prozess des Richtens“ (GLW 1, 212).
Die ausschlaggebende Wirkung, die Lukács’ frühe Schriften auf seine Generation ausübten, ist zweifelsohne auf deren essayistische Natur zurückzuführen. Max Webers Befürchtung, Die Theorie des Romans würde wegen ihrer „essayistischen Neigung“ seinem Verfasser den Weg zur Habilitation und damit zu einem akademischen Leben in Heidelberg versperren, schien gut begründet zu sein.[6] Schon im vom Autor vorgeschlagenen, vom Herausgeber aber nicht bewilligten Titel zeigte sich der überschreitende, dem Ethos einer „zünftigen“, „systematischen Arbeit“ (Weber in Lukács 1982: 223) widersprechende und deswegen höchst provokative Charakter dieses Essays. Wahrscheinlich von Simmel inspiriert hatte Lukács den ursprünglich als Einleitung eines nie beendeten Buches über Dostojewski geplanten Aufsatz „Die Philosophie des Romans“ nennen wollen, was die Absicht verriet, zwei für das damals vorherrschende geisteswissenschaftliche Denken unversöhnbare Bereiche des Daseins in Dialog zu bringen: den des Sinnes – der ‚Seele’, der ‚Werte’, der ‚Formen’ – und den der vollen Sinnlosigkeit – der getrübten Faktizität des Alltags.[7] Indem sie die problematische, allumfassende ‚Heimatlosigkeit’ der Moderne in ihren verschiedenen formalen Kategorien (Held, Handlung, Umwelt, usw.) explizit als problematisch subsumiere, sei diese Gattung imstande, „die Brüchigkeit des Weltaufbaus […] in die Formenwelt hineinzutragen“ (GLW 1: 534). So werde der Sinn der Weltelemente nicht mithilfe eines gegenüberstehenden Sollens oder einer systematischen Architektonik postuliert – was notwendigerweise zur „Verengung“ und „Verflüchtigung“ der Dinge selbst führen würde (GLW 1: 534) –, sondern aus der Logik der eigenen Weltelemente herausgearbeitet. J. R. Bernstein, nach dem die im Roman erfolgte formale Problematisierung der modernen Entfremdung einen „not aesthetic but ethical“ Standpunkt bildet (1984: 76), formuliert die ‚Philosophie’ dieser Gattung folgendermaßen: „The novel is immanently critical of the social world created by capital, and theoretically antinomic (problematic). The novel both expresses and is the crisis of the culture of capital“ (1984: 84, Unterstreichung hinzugefügt in „immanently“).[8]
Der Parallelismus zwischen dem ‚principium stilisationis’ des Romans und dem Ethos des Essays springt hier ins Auge: bei beiden führt die Ablehnung eines vorgeschriebenen Sollens, einer formalen Architektonik zu keiner Verherrlichung des „bloß Subjektiven“, dessen Wesenszüge, um Simmel noch einmal anzuführen, „Isoliertheit und innere Zufälligkeit“ seien (GSG 15, 76). Wie der Roman vermittelt der Essay keine willkürlich subjektivierte Erfahrung; er erweist sich vielmehr als ein angemessenes Werkzeug vis-à-vis der entfremdeten objektiven Welt, gerade weil er das ins Bewusstsein gerückte Moment dieser Welt selbst ist. „Seine Offenheit“, behauptet Adorno 1958 bezüglich des Essays als Form, „ist keine vage von Gefühl und Stimmung, sondern wird konturiert durch seinen Gehalt“ (1958: 37). Und auf den für die Lukácsche Theorie des Romans ausschlaggebenden Begriff der ‚zweiten Natur’ verweisend hielt er „das Verhältnis von Natur und Kultur“ für das „eigentliche Thema“ des Essays: „Nicht umsonst versenkt er […] sich in Kulturphänomene als in zweite Natur, zweite Unmittelbarkeit, um durch Beharrlichkeit deren Illusion aufzuheben“ (1958: 41).
Unverkennbar sind die Spuren, die Lukács’ frühe Schriften bei seinen zeitgenössischen, deutschsprachigen Lesern hinterließ. Wie sonst könnte man an den intellektuellen Komplex denken, der mit der ungenauen Namen der ‚kritischen Theorie’ oder des ‚westlichen Marxismus’ bezeichnet wird, wenn nicht unter der Wirkung von Die Theorie des Romans und Geschichte und Klassenbewusstsein? Was den ersten betrifft, so galt er als ein „Kultbuch“ für Leo Löwenthal, Max Horkheimer, Adorno, Walter Benjamin, Bloch und Kracauer.[9] Denke man dabei an zwei darin entwickelte Kernbegriffe, die mehrere Argumentationen bei diesen Theoretikern maßgeblich bedingten. Einerseits ‚die transzendentale Obdachlosigkeit’ als charakteristische subjektive Position in einer Welt ohne ‚Zusammenhang’, also in der Welt der bürgerlichen Verhältnisse. Der Begriff erwies sich besonders fruchtbar bei Kracauer, nicht nur bei dessen Ideologiekritik der Mittelschichten –vor allem der deutschen Angestellten– während der zwanziger Jahre, sondern auch in dessen oft als Vorläufer postmoderner Auffassungen missverstandenen erkenntnistheoretischen Konstruktion der ‚Exterritorialität’. Die kritische Annäherung an eine in sich zerbrochene, autonom sich bewegende, entfremdete Welt verlangt nach Kracauer ein Subjekt, das gleichsam mit dieser Welt homogen ist: ein ‚exterritoriales’.[10] Andererseits die mit der Obdachlosigkeit eng verbundene Kategorie der ‚zweiten Natur’, die sich auf die versteinerte Konstellation der modernen Objektivationen bezieht, und eine Grundlage für die später entwickelten Theorien der Entfremdung bildet. Auch hier nur ein Beispiel: der Begriff der zweiten Natur hat Adorno mehrfach gedient, er spielt etwa eine nicht unbeträchtliche Rolle bei dessen Auschwitzkritik vom Jahr 1966 (siehe Adorno 1966: 352).
Eine intellektuelle Sensation war auch Geschichte und Klassenbewusstsein und die darin angelegte Analyse des Warenfetischismus als einer Daseinsform, die weit über die Grenzen der Ökonomie hinausgehe, und deren Analyse eine entfremdete Ganzheit artikuliere. Mag er von messianisch-optimistischen Zügen getrübt sein, Lukács’ Versuch, das Auftauchen und die Entfaltung eines nicht entfremdeten Bewusstseins aus dem Prozess der Entäußerung selbst zu fassen, bedeutete einen ungeheuren intellektuellen Fortschritt angesichts des Verstehens der kapitalistischen Verhältnisse, und trug zu einer Reihe von neuen, kritischen, parteiuntreuen Interpretationen des Werkes von Marx bei, die heutzutage noch erhellend wirken, vor allem zur Auffassung des Kapitals als automatisches Subjekt der gesellschaftlichen Reproduktion.[11] Solche theoretischen Impulse bei Lukács sind einer eigenartigen Kombinatorik von unterschiedlichen Theorien, Begriffen und allgemeinen theoretischen Strömungen zu verdanken, also einer gedanklichen Konstellation, die prinzipiell undogmatisch im Dienst der Enthüllung ihrer Gegenstände steht. Denke man an die wichtigsten Aufsätze der Sammlung, die „in der Zeit einer unfreiwilligen Muße“ (GLW 2: 163) – d.h. während des vom Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale im Sommer 1922 über Lukács verfügten Berufsverbots – verfasst wurden: „Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats“ und „Methodisches zur Organisationsfrage“.[12] Ein Konzept der Versachlichung Simmelscher Färbung, eine Auffassung der Persönlichkeit, die über Dilthey hinausgeht und in Goethe einmündet, Max Webers Idealtypen, eine von Marx inspirierte Auffassung der Warenform, das ästhetische Denken der deutschen klassischen Philosophie und die Hegelschen Kategorien von Subsumption und Vermittlung – all diese theoretischen Bruchstücke werden bedenkenlos umfunktioniert, um auf die Eigenart der kapitalistischen Subjekt-Objekt Beziehung und deren Überwindung Licht zu werfen. Der begriffliche Aufbau dieser Schriften lässt sich mit dem Bild schildern, das Adorno für die allgemeine Weise bietet, wie Begriffe im Essay als Form gebraucht werden. Lukács verhalte sich wie einer, der „in fremden Land gezwungen ist, dessen Sprache zu sprechen, anstatt schulgerecht aus Elementen sie zusammenzustümpern. Er wird ohne Diktionär lesen“ (Adorno 1958: 29). Typisch für eine solche Art von Lernen sei ihre lockere, entspannte Attitüde gegenüber Irrtum, „welchen die Norm des etablierten Denkens wie den Tod fürchtet“ (Adorno 1958: 29). Es sollte daher nicht überraschen, wenn Lukács seine Chvostismus und Dialektik, also die 1925–1926 geschriebene, während seines Lebens aber nie publizierte ‚Verteidigung’ von Geschichte und Klassenbewusstsein, mit der folgenden Bemerkung anfängt: „Wenn eine Diskussion in meinem Buch [= Geschichte und Klassenbewusstsein] keinen Stein auf dem anderen gelassen, aber in dieser Hinsicht einen Fortschritt bedeutet hätte, so hätte ich mich schweigend über diesen Fortschritt gefreut und keine einzige Behauptung meines Buches verteidigt. Meine Kritiker bewegen sich jedoch in der entgegengesetzten Richtung“ (Lukács 1996: 7). Lukács sieht wie ein Fremder aus, ein – es sei mir gestattet, es mit Simmels Wörtern zu sagen – „schlechthin Beweglicher“, der „mit keinem Einzelnen durch die verwandtschaftlichen, lokalen, beruflichen Fixiertheiten organisch verbunden“ ist (GSG 6: 766): nicht einmal in seinen eigenen Schriften fühlt er sich bei sich. Keinem fixen erkenntnistheoretischen Modell wird gefolgt; es geht vielmehr um eine wagemutige, risikofreudige Haltung, die ihre Kraft aus der Heimatlosigkeit des Essays als Gattung schöpft. Für ein solches essayistisches Verfahren gibt es keinen vorgeschriebenen Weg, ihr Motto lautet, wie der alte Lukács selbst einmal andeutete: „Je prends mon bien où je le trouve“ (siehe GLW 5, 564f.), ich nehme mein Gut, wo ich es finde, und was unterwegs gefunden wird ist ein nicht gesuchtes Ziel, das aber viel reicher –und voller von Verantwortungen– sich erweist als das, welches im Vorhinein gesetzt wurde.
Lukács’ Ablehnung der philosophischen Wahrsagerei steht mit dieser essayistischen Haltung im Einklang, und wird mindestens seit den zwanziger Jahren kontinuierlich und explizit. Schon in der am Vorabend der Erklärung der ungarischen Räterepublik gehaltenen Vorlesung Alte Kultur und neue Kultur hielt der künftige Kommissar die Versuche, bezüglich des Inhalts der kommenden sozialen Verhältnisse „im voraus etwas zu sagen“, für „lächerlich“ (1975: 150). Und in der fundierten Auseinandersetzung mit dem radikalen Junghegelianismus, die er 1926 unter dem Titel Moses Hess und die Probleme der idealistischen Dialektik veröffentlichte, werden die „apriorisch konstruierten, logischen Merkmale von Geschichtsepochen“ als „Differenzierungen innerhalb des Begriffes, die dann – reichlich gewaltsam –, auf die geschichtliche Wirklichkeit angewendet werden“, bestimmt (GLW 2: 656). Die daraus folgenden Widersprüche zwischen dem abstrakt Gedachten und dem konkret Seienden begünstigen Lukács zufolge nicht nur eine passive, kontemplative, sondern eine geradezu kompromissvolle, ja reaktionäre Haltung: „Jeder abstrakter Utopismus muss deshalb, gerade dort, wo er abstrakt-utopisch ist, der oberflächlichen Empirie größere Konzessionen machen, als ein wirklicher dialektischer Realismus: Er muss vorübergehende Formen der Gegenwart verabsolutieren, die Entwicklung an solche Momente der Gegenwart festnageln, reaktionär werden“ (GLW 2: 650f.). Die Implikation dieser erkenntnistheoretischen Einstellung, die Lukács in diesem Aufsatz einem „dialektischen Realismus“ zuweist, ähnelt der Radikalität, die Adorno 30 Jahre später dem Essay als Gattung zuschreibt: dieser sei „radikal im Nichtradikalismus, in der Enthaltung von aller Reduktion auf ein Prinzip, im Akzentuieren des Partiellen gegenüber der Totale, im Stückhaften“ (1958: 22). Ganz im Einklang mit dem Standpunkt des konkret Seienden, den Lukács für eine wahre Philosophie verlangt, steht das dort angedeutete Bild, nach dem die echte Kritik mit der Laterne von Diogenes in dem Lügendreckhaufen […] herumstöbert, um womöglich noch […] brauchbare Gegenstände hier aufzugabeln“ (GLW 2: 661f.).[13] In den sechziger Jahren kehrt Lukács zu diesem Problem zurück, jetzt aber sich auf eine ontologische Theorie des gesellschaftlichen Seins stützend. Er weist darauf hin, inwieweit jede abstrakt-utopische Einstellung mit einer „totalen“ gedanklichen „Ausschaltung der wirklich lebenden Einzelmenschen“ verknüpft sei, und Marx folgend behauptet er, dass gerade ein kritisches Vermeiden des abstrakten Utopismus die Einsicht in konkret existierende Elemente ermögliche, in denen den Weg zur Überwindung der Entfremdungen schon angedeutet sei (GLW 14: 534).[14]
3. Lessing und Solschenizyn beim späten Lukács
Diese Art von Kritik lebt beim späten Lukács eindeutig weiter. Sie zeigt sich zum Beispiel in zwei Essays aus den sechziger Jahren, die relativ wenig Aufmerksamkeit erregt haben, besonders wenn man in Betracht zieht, dass sie in mancherlei Hinsicht eine kontrapunktisches Gewebe mit den Schriften der Jugend bilden. Gemeint sind hier der Aufsatz über Lessings Minna von Barnhelm (1963) und der über Solschenizyns Ein Tag im Leben des Iwan Denissovitsch (1964).
Vor allem fällt ein gemeinsamer Zug auf: in beiden Fällen hebt Lukács die Tatsache hervor, es handle sich um eine Übergangsperiode, also um eine „Mitte“, in der gewisse soziale Gefüge, Beziehungen und Anschauungsweisen nicht mehr vorhanden oder nicht mehr wirksam sind, und die kommenden Formationen nur noch als Möglichkeit, als Latenz vorausgeahnt werden können. Angesichts der vielen Vorurteilen, die dem alten Lukács eine teleologische, geschlossene und damit autoritäre Auffassung des geschichtlichen Prozesses zuschreiben, verdient dieses Interesse an Verzweigungszeiten, das die Gegenwart als einen Zwischenzustand von Vergangenheit und Zukunftsmöglichkeiten versteht, Beachtung. Lukács scheint hier seinem eigenen, von Simmel inspirierten, in früheren Schriften entwickelten Gedanken über das Wesen der Moderne als unaufhörliche Beweglichkeit zu folgen. Schon im Jahr 1918 hatte er die Gegenwart als eine Zeit der „Auflockerung“ der Tatbestände geschildert, als eine Krisenepoche, in der „der Verlauf der Wirklichkeit [ihre sonnst] eindeutige Gerichtetheit verliert, als wäre man erneut vor eine Wahl gestellt, als müsste man erneut darüber entscheiden, ob man auf dem einmal eingeschlagenen Weg unserer Wirklichkeit bleiben soll oder einen von ihm dem Wesen nach fremden Pfad betritt“ (GLW 1: 747). Und in einem anderen Zusammenhang, als Lukács über die theoretische Leistung des unlängst verstorbenen Simmels schreibt, laufen seine Überlegungen darauf hinaus, dass die Übergangsperioden kraft der offensichtlichen Korrosion der in ihnen sich befindenden und schon als obsolet sich erweisenden geistigen und materiellen Formen eine Philosophie im Dienst des konkret Lebenden, des latent Möglichen verlangen, eine Philosophie, die kein „Zentrum“ habe, die „nur ein ‚Experiment’ und kein Abschluss“ sei, deren „labyrinthischer“ Aufbau eine angemessenere Formulierung darstelle, als das die „Fülle des Lebens vergewaltigende Ewig-Apriorische“ der Systematik (GLW 1: 634-637).[15]
Der Fall Lessing verkörpere einen gespannten Moment der Aufklärung: bei Lessing seien „die Enge und Zaghaftigkeit“ der ersten deutschen aufklärerischen Ansätze schon vorbei, aber die gleich nach ihm zunehmende „getrübte“ und „widerspruchsvolle“ Kritik des Reichs der Vernunft sei bei ihm noch nicht zu sehen (GLW 7: 22). Sein Minna von Barnhelm gestalte eine krisenhafte Situation, in der zwei ‚obdachlose’ Geliebte nach einem menschenwürdigen Leben streben, vor ihnen zeichnet sich aber kein klarer dahin führender Weg ab. Die verfügbaren moralischen Systeme – eine bedingungsloser Kadavergehorsam der Obrigkeit gegenüber kontra ein bedenkenloses epikureisches Abenteurertum – treten miteinander in Konflikt und zeigen sich beide abstrakt, obsolet und lebensfremd. Die Geliebten sehen sich dann genötigt, einen „ethischen“ Zweifrontkampf gegen solche gegensätzliche Gebote und Verbote auszufechten, also einen Kampf, der eine in der Praxis fundierte Erhöhung der Selbstreflexivität erfordere – unabhängig davon, ob diese Erhöhung eventuell zu einer Aufhebung der Entfremdung oder hingegen zum Auftauchen neuerer und komplizierterer Formen der Entfremdung führt. So entsteht Lukács zufolge in der Lessingschen Komödie die ethische Überwindung der Moral: „[Z]ur Zeit der historischen Alleinherrschaft eines moralischen Systems“ ist es „eine Selbstverständlichkeit […], seine Gebote zu befolgen“, aber „wenn die Menschen in die Alternative zwischen einander bekämpfende moralische Systeme gestellt werden”, sind sie gezwungen, „eine Wahl zu treffen und aus ihr alle Konsequenzen zu ziehen […] So erwächst das ethische Verhalten aus den Konflikten der moralischen Pflichten” (GLW 7, 25).[16]
Bei Solschenitsyn gehe es um die gerade erst beginnenden, ganz schüchternen und von vielen Schwierigkeiten begleiteten Versuche der Überwindung der Stalinzeit. Es gelinge Solschenitsyn, in dem Lukács ein mögliche Wiedergeburt der zur groben Manipulation reduzierten sowjetischen Literatur sieht, aus der Gestaltung des Lebens im Gulag ein Symbol des Alltags in der Stalinzeit zu machen. Auch hier wird die Gegenwart als ein Kraftfeld voller Wechselwirkungen gefasst, in dem keine apriorisch gesetzte Richtung weiterhilft. Die Heldenfiguren, die ihre eigene Gewissheit durch einen marmornen, in vorgeschriebenen Prinzipien wurzelnden Widerstand gegen die Degradation nähren, gehen zweifellos unter. Um das Leben im Gulag zu bewahren, muss jede Entscheidung eher auf einer höchstmöglich vorurteilslosen, objektiven Untersuchung der verfügbaren Mittel beruhen. Deswegen betont Lukács die Bedeutsamkeit der Realität bei Solschenitsyn, also der konkreten Menschen und Dinge: „Hier ist jedes Detail eine Alternative von Rettung oder Untergang; jeder Gegenstand ein Auslöser von heilsamen oder verderblichen Geschicken“ (GLW 5: 555). Dieses Stehenbleiben bei der alltäglichen Welt, dieses bedingungslose Beharren auf der Analyse der objektiven Struktur der die Menschen umgebenden Dinge bilde bei Solschenitsyn einen – gewiss extrem – zugespitzten Beweis dafür, dass das Wohin und Wozu immer offen und unter kontinuierlichem Experiment stehend bleibt. Der alt gewordene Philosoph bleibt hier seinen Jugendgedanken treu: „Jedes weitere, die Zukunft vorwegnehmende Urteil über den Stil der kommenden Periode wäre aber theoretisch eine leere Scholastik, künstlerisch eine Beckmesserei“ (GLW 5: 563).
Beide Aufsätze beziehen sich auf die frühen Schriften, wenn auch implizit. Stets ist die zentrale Frage die Frage nach der Entfremdung und deren Aufhebung,[17] und Lukács bedient sich dazu einer Vermittlungskategorie, die er erst in der Phase von Geschichte und Klassenbewusstsein programmatisch formulierte. Die Überwindung des degradierten Lebens, so Lukács im Sommer 1922, ist „nichts von auβen (subjektiv) in die Gegenstände Hineingetragenes, ist kein Werturteil oder Sollen […], sondern ist das Offenbarwerden ihrer eigentlichen, objektiven gegenständlichen Struktur selbst” (GLW 2: 346). Aber auch noch in anderen Hinsichten knüpfen sich diese Schriften an die Essays der Jugendzeit an. Lukács’ Deutung von Minna von Barnhelm darf als eine echte Revision, ja selbst eine Umkehrung der Prämissen vieler Stellen in Die Seele und die Formen gelten, besonders jener Voraussetzungen, auf denen der darin entwickelte Begriff der Tragödie aufgebaut ist. Im Aufsatz von 1963 wird Paul Ernst – der damals verherrlichte tragische Dramatiker – ohne Bedenken widerlegt, und es wird behauptet, dass bei Lessing die Komödie kraft ihrer Flexibilität und Beweglichkeit ein höheres kritisches Potenzial erreiche als die Tragödie. Die Lessingsche Komödie hebe die Erstarrungstendenzen und die daraus folgenden falschen moralisierenden Ansichten auf, die in der Tragödie einen legitimierenden Ausdruck finden. Sie hebe solche Entfremdungen auf, indem sie keine These, keinen Standpunkt fixieren lasse: „[D]a die Komposition der ganzen Komödie darauf angelegt ist, in einem bewegten Auf und Ab die falschen moralisierenden Anschauungen […] von einer menschlichen Ethik aus aufzuheben (im Hegelschen dreifachen Sinn), kann sich keine einzelne gedankliche Formulierung rein auf gedanklicher Ebene festhalten, fixieren und vollenden. Sie taucht vielmehr entweder in dem Strom menschlich-ethischer Gegenwirkungen, die die ihr lebenhaft zugrunde liegende menschliche Verhaltensart auslöst, unter, oder wenn sie – von anderen menschlichen Konflikten, nicht von ihrer immanent eigenen Logik getrieben – doch wiederkehrt, so tut sie dies als etwas im konkret menschlichen hic et nunc anders Gewordenes” (GLW 7: 35). Die bewegliche, höchst dynamische Form der Komödie nähere sich den flüssigen, sich stets verwandelnden Strukturen des Märchens an, der Gattung, die Lukács in seiner Jugend als Alternative zur Tragödie und damit als möglichen Ausdruck eines glücklichen Lebens betrachtete.[18] Aber der Komödie gelinge die Gestaltung einer Atmosphäre voller Sauerstoff nicht kraft der Magie und der Flucht in eine wunderbare Welt, sondern dank dem Stehenbleiben bei unserer Empirie und der unermüdlichen, riskanten Arbeit mit den darin konkret bestehenden Dingen (GLW 7: 34).
Märchenhafte Züge finden sich auch im Aufsatz über Solschenitsyn: überall stößt man auf überraschende Andeutungen, auf Einladungen zu einer überschreitenden Denkweise ohne jede andere Beschränkung als den Respekt vor den konkreten Gegenständen. Denke man zum Beispiel an die positive Anspielung auf Victor Nekrasov, oder die teils ironische Behauptung, die wie ein basso ostinato im ganzen Text wirkt, die besten Erscheinungen des sozialistischen Realismus seien diejenigen, die in den zwanziger Jahren entstanden sind, also bevor dem Begriff ein normativer Inhalt, ja selbst ein Name verliehen wurde. Oder denke man an die Elemente, die eine Art kontrapunktisches Gewebe mit den frühen Schriften bilden. Es fällt einerseits die Anwendung seines alten – jetzt aber neu formulierten – Begriffs der zweiten Natur auf: die Novelle schaffe eine Schilderung des sozialen Gefüges unter der Stalinära, die dessen Fetischcharakter enthüllt. Andererseits geht es hier wieder um eine philosophische Überlegung über die Ausdrucksmöglichkeiten einer epischen Gattung, also der Novelle.[19] Lukács schlägt die höchst provozierende These vor, die Novelle als Form sei imstande eine historische Welt literarisch zu gestalten, der die große Epik – der Roman – nicht mehr oder noch nicht Form geben könne. Die Überlegungen über die Gattung führen aber zu keiner normativen, dogmatischen Definition. Ganz im Gegenteil: Lukács zeigt, inwieweit die Bedeutsamkeit von Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch gerade darin liegt, dass sie von der traditionellen Form der Novelle teilweise abweicht, indem sie ohne das kennzeichnende Merkmal der Gattung zurechtkommt. Nichts Besonderes passiert in der Erzählung, es gibt keine ‚unerhörte Begebenheit’ (GLW 5, 550). Jedes bedeutende Kunstwerk, glaubte Lukács, erfüllt und überschreitet gleichzeitig die Gesetze seiner Gattung, und dieses Überschreiten folgt keiner arbiträren, subjektivistischen Willkür, sondern ausschließlich der eigentümlichen Logik des eigentümlichen Gegenstandes.
4. Provisorisches zur Frage der Aktualität
Faule Synthesen erregen Verdacht. Eine Stellungnahme angesichts der Frage, ob Lukács als ein philosophisches Dokument der Vergangenheit oder als ein Denker voller Aktualität angesehen werden sollte, bedarf einer gründlichen Auseinandersetzung mit einem höchst heterogenen Werk. Provisorisch lässt sich aber sagen: wie jeder ist Lukács ein Kind seiner Zeit, aber die Zeit – und besonders dieser unser dunkle Augenblick – ist keineswegs homogen; hinter ihrer entfremdeten und entfremdenden Wirklichkeit birgt sie, wie Lukács stets behauptete, latente Möglichkeiten eines menschenwürdigeren Lebens in sich, die nur durch experimentellen, detektivischen, überschreitenden Scharfsinn aus ihrer Latenz enthoben werden können. „Denken“, so Bloch im Bezug auf Lessing, „ist Überschreiten“, und das Beste an der Zeit ist, dass sie Überschreitende schafft (Bloch 1968: 23). Am Beispiel seiner Essayauffassung habe ich versucht, kurz aufzuzeigen, dass bei Lukács eine allgemeine, grundlegende und weit ins Erkenntnistheoretische, Ethische und Ästhetische reichende kritische Einstellung wirkt, die dieses Überschreiten als eine im Prinzip vorurteilslose, stets auf Selbstkritik vorbereitete, jedes Systematische ablehnende Hingabe an den Gegenstand selbst fasst. So wird der Aufklärung der strittigen Frage nach seiner Aktualität ein Weg eröffnet: Unzufriedenheit ist gewiss etwas Subjektives, der aber, der aufrecht gehen will, soll von der herrschenden Mode Abstand wahrend das Objekt und dessen objektive Struktur als Leitfaden der Kritik erachten. Um es im Geist des jungen Marx zu sagen: um die Verhältnisse einer entfremdeten, in sich selbst verlorenen Welt zum tanzen zu zwingen, darf man dieser Welt keine Moral, keine Dogma, kein Apriori gegenüberstellen. Man soll vielmehr diesen Verhältnissen ihre eigene Melodie vorsingen, damit sie zum Erwachen kommen.
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[1] Die folgenden Zeilen bilden eine erweiterte Version eines Diskussionsbeitrags, der bei der von der Internationalen Stiftung Lukács Archiv und der Eötvös-Loránd-Universität anlässlich des 50. Todestages Lukács’ organisierten Tagung Lukács50 in Budapest gehalten wurde; der Beitrag war als Opposition zu Wolfgang Müller-Funks Vortrag gedacht. Für die Kommentare und Kritik, die aus der Diskussionen während und nach der Tagung entsprangen, bin ich nicht nur Müller-Funk, sondern auch Miklós Mesterházi sehr dankbar.
[2] In Bezug auf diese Interpretation von Geschichte und Klassenbewusstsein, die Bloch Walter Benjamin mitgeteilt haben dürfte, schrieb dieser am 3. Juni 1926 an Kracauer: „Ihren Bloch-Brief empfand ich als Bestätigung unserer neueren Konvergenzen und hoffe im gleichen Sinne bald wieder direkt von Ihnen zu hören, insbesondere wenn möglich, von Ihren Marxstudien.“ (WBGB III: 169). Zur Lukács’ Position in den Fraktionskämpfen innerhalb der ins Exil gegangenen KPU siehe Mesterházi (2015).
[3] Seinerseits spricht Martin Jay (1984: 115) von einem „normativen“ Totalitätsbegriff in Geschichte und Klassenbewusstsein als Beweis für „Lukács’ Unfähigkeit, den Idealismus zu überwinden“.
[4] Kracauer äußerte sich 1959 im selben Ton: „Dieser Mann [=Lukács, FGCH] – persönlich mochten wir ihn –, der Unvergessliches über die chronologische Zeit und Flaubert sagte [= Die Theorie des Romans, FGCH], ist ein Verräter an der Literatur und seiner Vergangenheit (oder auch möglichen Zukunft). Er hätte zumindest die Paradoxie seiner Situation im Kommunismus nicht so völlig preiszugeben brauchen“ (Adorno & Kracauer 2008: 503). Leszek Kolakowski, dessen scharfsinnige Darstellung des kautskyschen Marxismus allerdings ohne den Einfluss von Lukács’ Behandlung der „Antinomien des bürgerlichen Denkens“ ganz unmöglich gewesen wäre (siehe 1978a: 31ff.), bietet eine psychologische Erklärung für den „absolute dogmatism“ des ungarischen Denkers: „Lukács in fact was a true intellectual, a man of immense culture (unlike the vast majority of Stalinist ideologists), but one who craved intellectual security and could not endure the uncertainties of a sceptical or empirical outlook. In the Communist party he found what many intellectuals need: absolute certainty in defiance of facts, an opportunity of total commitment that supersedes criticism and stills every anxiety. In his case, too, the commitment was such as to afford its own assurance of truth and invalidate all other intellectual criteria“ (1978b: 306f.).
[5] Auf Hegel verweisend hat Fredric Jameson 1971 diese Idee so ausgedrückt: „Dialectical thinking is […] a way in which a certain type of material lifts itself to awareness, not only as the object of our thought, but also as a set of mental operations proposed by the intrinsic nature of that particular object“ (1974: 240f.). Und das verbreitete Vorurteil widerlegend, dass es bei Hegels Logik eine Methode gebe, behauptete Stephen Houlgate vor einigen Jahren: „Since dialectical ‚method’ is nothing but the manner in which the category of being develops into further categories, we can only understand what that method is supposed to be as we come to understand that course of development. There can be no prior understanding of that method“ (2006: 35).
[6] Am 14. August 1916 schrieb Weber an Lukács: “Weil Ihr plötzliches Abschwanken zu Dostojewskij – jener Ansicht [= ‘Lukács ist ein geborener Essayist, er wird nicht bei systematischer (zünftiger) Arbeit bleiben; er sollte sich deshalb nicht habilitieren’] Recht zu geben schien, hasste ich diese Ihre Arbeit [= Die Theorie des Romans] und hasse sie noch” (in Lukács 1982: 372).
[7] Siehe dazu Kristóf Nyíris Interview vom 1975 mit Arnold Hauser: “The Theorie des Romans is one of the most successful works of Lukács, even stylistically, and if I [=Hauser] may make a modest comment, I am its god-father, because its original title would have been Philosophie des Romans, but [Max] Dessoir, then the editor of the Zeitschrift der Aesthetik, and who had a strange bias about the application of the term philosophy, considered it unsuitable in this context. Then I suggested to Lukács that it would perhaps be more correct and even de facto better in this case to call it Theorie des Romans, and he then immediately accepted it” (Nyíri 1980: 93).
[8] Eine ähnliche Ansicht vertritt Mesterházi, wenn er von der Muse des Romans als „paraolympischer Muse“ spricht: „Die problematische Natur des Romans, das, dass man beim Lesen Der Theorie des Romans zu einem Punkt kommt, wo man von der Suggestion überwältigt wird, die Erörterungen können unmöglich in eine andere Konklusion münden, als dass es unvorstellbar sei, dass etwas, das kraft seines principium stilisationis so tief in einer kunstfeindlichen Welt stapft, Kunst sein könnte, ist nur die andere Seite dessen, dass er ein Detektiv ist, auf der Suche nach uns, ein Detektiv, der, wie jemand [= Ernst Bloch] es […] sagte, mit der Unterwelt, in der er unsere Spuren sucht, homogen sein muss“ (Mesterházi 2019: 15; Unterstreichung hinzugefügt in „homogen“).
[9] „Das war für uns alle ein Kultbuch, das wir praktisch auswendig kannten“ – so äußerte sich 1990 Löwenthal (Löwenthal & Kracauer 2003: 271).
[10] Auf einem verwässerten Verständnis des Begriffs ‚Exterritorialität’ sich stützend pflegt die amerikanische und deutsche Rezeption der Werke Kracauers im Autor einen Postmodernen ‚avant la lettre’ zu sehen, was notwendigerweise zur Unterschätzung –manchmal sogar Verneinung– der Bedeutung von Lukács, Marx und Hegel in dessen Schriften führt (siehe u.a. Mülder-Bach 1998). Nach Löwenthal hingegen ist Kracauers Vorbehalt, endgültige Standpunkte zu vertreten, –i.e. das Hauptprinzip einer ‚exterritorialen’ Kritik– eng mit Lukács Auffassung der Moderne als „heimatlos“ verbunden: „Aber nicht absolute Verpflichtung, denn er [=Kracauer] wollte die Endgültigkeit absoluter Verpflichtung vermeiden. Er bezeichnete sich in einem gewissen Sinn als obdachlos. An dieser Stelle ein kurzer Sprung zurück in die Geschichte: Im Oktober 1923, anlässlich der Hochzeit mit meiner ersten Frau, erhielt ich einen Glückwunschbrief in einem von Kracauer und Adorno dekorierten Umschlag und mit dem Absender: Allgemeines Hauptquartier des Wohlfahrtsbüros für transzendental Heimatlose, und weiter unten in Teddies [=Adorno] Handschrift: ‚Kracauer und Wiesengrund. Generaldirektion des Fürsorgeamts für Transzendental Obdachlose.‘ Das war natürlich eine Anspielung auf Lukács‘ Theorie des Romans. Aber ‚transzendental obdachlos‘ bleibt eine treffende Kategorie für Kracauer“ (Löwenthal & Kracauer, 2003: 275f.).
[11] Michael Heinrich zufolge (2017: 14) ist Geschichte und Klassenbewusstsein ein bahnbrechender Vorläufer in der Diskussion um die Marxsche Werttheorie. Zu den Lichtern und Schatten des ‚messianischen Optimismus’ im Buch siehe Tamás Krausz und Mesterházis Aufsatz (1993), besonders seine die Behandlung von Lukács’ Idealismus als eine historisch bedingte „brilliant limitation“: „Lukács was not alone in ‘mixing’ the development of proletarian class consciousness and the realization of the identity of subject-object […] because such an approach sprang from the messianic attitude of that period. We are not talking here about any logical or conceptual errors, but of the period’s brilliant limitations. After all, it cannot be denied that the period’s ‘messianic emotionalism’ was a fertile ground for the revival of the critical, humanistic, and non-specialized aspects of the Marxian thought, that is, those features that were on the decline in the Marxist tradition. The diminishing of this expectation and perspective led to the fact that not only the Bolshevik critics, but also Lukács himself began to feel that History and Class Consciousness was no longer timely. Theory became confronted with a new problem […] that of the ‚post revolutionary’ situation“ (1993: 162, Unterstreichung hinzugefügt).
[12] Zu diesem Verbot und den daran geknüpften Intrigen der zwanziger Jahre siehe Mesterházi (2015).
[13] Es sei an diesem Punkt nur erwähnt, dass Michael Löwy hier zu einem gegensätzlichen Schluss kommt. Nach Löwy verbirgt die Argumentation in „Moses Hess und die Probleme der idealistischen Dialektik“ eine angebliche Rechtfertigung der sowjetischen Unterdrückung: „After a utopian-revolutionary stage lasting from 1919 to 1921, and a short but monumental climax of revolutionary realism from 1922 to 1924, from 1926 Lukács drew nearer to realism pure and simple and, as a consequence, politically closer to the non-revolutionary Realpolitik of Stalin. His „Moses Hess“ of 1926 had far-reaching political implications: it provided the methodological basis for his support for the Soviet ‚Thermidor’“ (1979: 196).
[14] Solche Einsicht eröffne die „Perspektive, […] einen Vertreter, ein Organ der nicht mehr stummen Gattungsmässigkeit zu formen“, eine Perspektive, die konsequent „kein subjektiver Affekt von der Art der Hoffnung, sondern die Bewusstseinsmässige Widerspiegelung und weiterführende Ergänzung der objektiv ökonomischen Entwicklung selbst“ sei (GLW 14: 296).
[15] Es ist hier nicht der Ort, um eine ausführliche Darstellung des Begriffs „Übergang“ beim Philosophen zu bieten. Es sei aber nur als Beleg für eine dauernde Wirkung darauf hingewiesen, dass der Begriff Lukács’ Auseinandersetzungen mit der Satire als „freie“, „bewegliche“, „lebhafteste“ „schöpferische Methode“ (GLW 4, 106f.) und mit dem Roman „in statu nascendi“·als einer Form, die einen „Zweifrontenkampf“ gegen vorbürgerliche und bürgerliche Arten der menschlichen Degradation ausfechte (Lukács 1981: 32f.), in den dreißiger Jahren grundlegend bedingte.
[16] Guido Oldrini (2010) hat gezeigt, inwieweit dieser Essay ein frühes Anzeichen für die später kaum skizzierte Ethik von Lukács bildet.
[17] Gleichgültig, mit welchem Ausdruck dieses Problem bezeichnet wird. Der „eine Gedanke“ Lukács’ sei nach Márkus z. B. die Frage nach der Möglichkeit der Kultur gewesen: „Culture was the ‚one and only’ thought of Lukács’ life. […] The question of culture was always identical for Lukács with the question of life, or as he put it, with ‚meaning immanent in life’“ (1977: 97).
[18] Siehe zum Beispiel das um 1910 geschriebene Fragment „Die Ästhetik der ‚Romance’. Versuch einer metaphysischen Grundlegung der Form des untragischen Dramas“ (Lukács 1990) oder die kürzere, publizierte Fassung „Das Problem des untragischen Dramas“, nach der jene das Tragische überwindende dramatische Form eine „Annäherung […] an das Märchen“ bildet (GLW 1, 181).
[19] Was die Tiefe der Lukácschen Kritik der Stalinära verrät. Jameson hält diesen Aufsatz für „one of the moments of ‚high seriousness’ in the history of recent Marxist thought“ und lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass „when the aged Lukács responded to the urgency of supporting Solzhenitsyn’s denunciation of Stalinism […] he did so by sitting down at his desk and writing a genre study, incidentally one of his finest“ (1975: 160).