Werner Jung
Das frühe Werk[1]
1. Kindheit und Jugend
Ungarn am Ende des 19. Jahrhunderts: »Die herrschende Gesellschaftsschicht bestand aus (durchwegs adeligen und kirchlichen) Großgrundbesitzern und (vor allem jüdischen) Unternehmern sowie Bankiers. In der Politik vertraten die Großgrundbesitzer im allgemeinen konservative und habsburgtreue Ansichten, die Unternehmer und Bankiers (zu denen auch Lukács‘ Vater zählte) waren eher kosmopolitisch eingestellt; der Landadel bekannte sich zu den nationalistisch-separatistischen Ideen. Die mächtige Schicht des Bauerntums besaß noch kein politisches Bewußtsein, und die ungarische Arbeiterklasse war zur Jahrhundertwende politisch noch keine ausschlaggebende Kraft.« (Hanak 1973. S. 8)
Georg Lukács wird am 13. April 1885 als zweites Kind des Ehepaars Jozsef Lukács und Adele Wertheimer geboren. Der Vater wurde mit vierundzwanzig Jahren Direktor der Englisch- Österreichischen Bank und 1899 in den Adelsstand erhoben. Sein Karrierestreben endete mit der Mitgliedschaft im Budapester Stadtrat und in der Würde eines Konsuls. Dennoch war er allem Geistigen gegenüber aufgeschlossen, trat als Kunstmäzen auf und pflegte auch im eigenen Haus die ästhetische Kultur des Großbürgertums. Der Sohn hat dem Vater gegenüber zeitlebens mehr als nur pflichtschuldigen Respekt bezeigt, denn der Vater hatte, obwohl er von seinem Sohn eine juristische Karriere erhoffte, soviel Toleranz und Liberalität bewiesen, dass er ihn seinen literarischen und philosophischen Neigungen nachgehen ließ und ihm seine diesbezüglichen Studien und Aufenthalte in Berlin und später in Heidelberg finanzierte. Aufschlussreich über die Vater- Sohn-Beziehung ein Brief von Jozsef Lukács aus dem August 1909: »Du sagst es selbst, daß ich Dir großzügig Freiheit bei Deiner Entwicklung und Wahl der Entwicklungswege gewähre. Ich tue das bewußt, weil ich Dir grenzenlos vertraue und Dich unendlich liebe – ich will alle Opfer bringen, um Dich groß, anerkannt, berühmt werden zu sehen, es wird mein größtes Glück sein, wenn es über mich heißt, ich sei der Vater von Georg Lukács.« (Briefwechsel, S. 79)
Anders dagegen das Verhältnis zur Mutter. Adele Wertheimer war eine gebürtige Österreicherin. Sie sprach mit ihren Kindern deutsch und war eine Konventionen und Etikette betonende Gesellschaftsdame, zu der Lukacs, will man seinen späten Aufzeichnungen Glauben schenken, immer ein »sehr schlechtes Verhältnis« gehabt hat. Er führte einen »Partisanenkrieg« gegen das Regiment der Mutter und praktizierte eine ständige »Unterwerfung mit Bewußtsein« gegen das gesellschaftliche Protokoll im Hause Lukács. (vgl. GD, S. 40f. u. 241f.)
Früher als sein älterer Bruder Janos lernt der begabte Georg lesen und verschlingt – im Alter von neun Jahren – die ungarische Prosaübersetzung der Ilias, die Werke Mark Twains und Auerbachs Spinoza-Roman. Auf der Schule kommen dann die prägenden Eindrücke von Ibsen und Hebbel dazu – Autoren, die auch der späte Lukacs noch häufiger zitieren wird. Früh hat er den Konservatismus im geistigen und kulturellen Leben Ungarns durchschaut und schon auf der Schule dagegen revoltiert. »Meine Versuche, mich geistig von der intellektuellen Sklaverei des offiziellen Ungarn zu befreien, erhielten den Akzent einer Verherrlichung des internationalen Modernismus gegenüber dem als beschränkt konservativ eingeschätzten Ungarn, das ich unter diesen Umständen weitgehend mit der gesamten damaligen offiziellen Welt identifizierte. Dieser Oppositionsgeist kam zuerst in meinen Schulaufsätzen zum Ausdruck, die bei den Lehrern heftige Entrüstung auslösten.« (zit. nach Fekete-Karádi 1981. S. 15)
Die konsequente Fortsetzung dieser Protesthaltung findet sich in Lukács‘ ersten Veröffentlichungen, in Theaterkritiken, die er in dem vom Vater seines Jugendfreundes Marcell Benedek herausgegebenen Blatt »Magyarsag« zwischen 1902 und 1903 publiziert. Hart geht er mit dem ungarischen Theater und der ungarischen Dramenproduktion ins Gericht, gegen die er die westeuropäische Moderne als Alternative ins Feld führt. In zwei größeren Artikeln, »Dem neuen Hauptmann« (1903) und »Gedanken über Henrik Ibsen« (1906), für den »Magyar Szalon« hält er ein Plädoyer für die Moderne, worunter er ein Theater versteht, »das die Enge des Naturalismus hinter sich gelassen hatte und im Rahmen der Stilkunstbewegung nach 1900 sich auf einen die Tradition der Klassik unter zeitgenössischen Bedingungen wieder aufgreifenden Stil zubewegte.« (Keller 1984. S. 33f.)
Im Zeichen einer Erneuerung der ungarischen Dramatik sowie der Theaterkultur gründet Lukács 1904 gemeinsam mit Marcell Benedek, László Banoczi und Sándor Hevesi nach den Modellen von Otto Brahms »Freier Bühne« und des »Wiener Akademischen Vereins« die »Thalia«. Ziel war es, in den Worten Hevesis, solche Dramen aufzuführen, »welche im edelsten Sinne des Wortes modern sind, auch wenn sie zweitausend Jahre alt sein sollten – Werke der Mode und des Kompromisses dagegen haben darin keinen Platz. Modern heißt für die »Thalia« künstlerisch wahr, mag Darbietung und Stil auch welche Form wie immer annehmen … Dieses Prinzip soll auch auf der Ebene schauspielerischer Darstellung und der Regie zur Geltung kommen.« (zit. nach Keller 1984. S. 45) Auf dem Programm der Thalia, die zwischen 1904 und 1908 mit wechselnden Erfolgen auf verschiedenen Budapester Bühnen spielte, standen neben Stücken von Hauptmann, Ibsen, Schnitzler, Wilde und Gorki auch Molière, Lessing, Goethe und Hebbel, dessen »Maria Magdalena« zu den meistgespielten Dramen zählte. Lukács‘ Arbeit bei der Thalia bestand im Wesentlichen darin, Übersetzungen anzufertigen; so übersetzte er z. B. für die Abschiedsvorstellung Ibsens »Wildente«. (vgl. dazu insgesamt Schütte 1985)
Dennoch war die Mitarbeit Lukács‘ bei der Thalia nur eine – wenn auch entscheidende – Nebentätigkeit. Nach dem Abitur 1902 absolvierte er in Klausenburg (Cluj-Napoca) ein Jurastudium bei dem progressiven Rechtwissenschaftler Felix Somlo, wo er 1906 zum Dr. jur. promoviert wurde. (vgl. dazu Varga 1985) Für kurze Zeit nahm er – auf Wunsch des Vaters – eine Stellung als Hilfskonzipist im Ministerium an, setzte aber dann – wiederum unterstützt durch den Vater – seine literarischen und philosophischen Studien fort.
Erster Studienort war Berlin, wo er an den Veranstaltungen Georg Simmels teilnahm, durch dessen Brille er sich auch das Marxsche Werk aneignete. In späten Interviews fasst er den positiven Einfluss der Simmelschen Philosophie und Soziologie dahingehend zusammen, »daß Simmel den gesellschaftlichen Charakter der Kunst ins Gespräch gebracht« und damit auch einen Gesichtspunkt geliefert hat, auf dessen Grundlage nun Literatur abgehandelt werden konnte. (vgl. GD, S. 58) Und im Nachruf auf Simmel für den »Pester Lloyd« bemerkte Lukács 1918: »Georg Simmel war zweifellos die bedeutendste und interessanteste Übergangserscheinung in der ganzen modernen Philosophie. Deshalb war er für alle wirklich philosophisch Veranlagten der jüngeren Denkergeneration (die mehr als bloß kluge oder fleißige Einzelwissenschaftler in philosophischen Einzeldisziplinen waren) so überaus anziehend, daß es fast keinen unter ihnen gibt, der nicht für kürzere oder längere Zeit dem Zauber seines Denkens erlegen wäre.« (zit. nach Fekete-Karádi 1981. S. 30; GW 1,2. SXXX)
Eine ähnliche Rolle spielte auch Wilhelm Dilthey, dessen Konzept der Hermeneutik Lukacs als Einspruch der Geisteswissenschaften gegen eine positivistisch verflachte akademische Philosophie begriff. Wie ein Brief des Jugendfreundes Franz Baumgarten von 1909 belegt, scheint sich Lukács darüber hinaus auch an der stilistischen Brillanz der Diltheyschen Essays gemessen zu haben. (vgl. Briefwechsel, S. 71) Allerdings erkannte Lukács schon früh die Problematik des lebensphilosophisch – hermeneutischen Konzepts. In einem »fast grausamen Dilthey« Nekrolog« (Márkus 1977b. S. 199) resümiert er die Kritik an Dilthey, die er – systematisch und die Aporien der geistesgeschichtlichen Methoden nachweisend – bereits in seinem Aufsatz »Zur Theorie der Literaturgeschichte« von 1910 entwickelt hat. »Es wäre eine Hypokrisie, über seinen Tod als unersetzbaren Verlust bekümmert zu sein; die wenigen Menschen, die an eine philosophische Renaissance glauben, blicken auf ihn schon längst nicht mehr mit Erwartungen, und sie sehen sogar in seinen schon veröffentlichten Werken keine Vorboten eines im Begriff seienden großen Dinges. Diltheys Tod ist ein größerer Verlust für den kulturliebenden Menschen als für die Philosophie.« (GW 1,2. S. XXX) Nachdem Lukács kurz Diltheys biographische und kulturhistorische Leistungen gewürdigt hat, fällt er über Diltheys psychologische Hermeneutik ein umso härteres Urteil. Dilthey, so Lukács, »teilte (…) ein anderes, genauso verhängnisvolles Vorurteil dieses Zeitalters: nämlich den Glauben an die Psychologie als eine Wissenschaft, die die allgemeinen philosophischen Fragen zu lösen berufen ist. Und in ihm war ebenso lebhaft die Furcht vor der Metaphysik, die auch alle seine Zeitgenossen, (…) charakterisierte. (…). Seine Geschichtsauffassung kommt in einigen Punkten in ziemlich unmittelbare Berührung mit Bergsons Irrationalismus, aber Dilthey hatte nie den Mut, alle Konsequenzen seines Denkens zu ziehen. Demzufolge operierte er sein ganzes Leben hindurch mit dem psychologischen Zentralbegriff des Erlebnisses, mit diesem unklaren, zur Grundlegung und Systembildung unfähigen Begriff.« (GW 1, 2. S.XXX; zum Verhältnis Lukács‘ zu Dilthey vgl. auch Jung 2017. S. 58-78)
Von beiden, Simmel und Dilthey, hat sich Lukács jedoch eine Bereicherung seines philosophischen Weltbildes erhofft – was übrigens auch für Ernst Bloch gilt, der ebenfalls Simmels Berliner Schüler gewesen ist. In einem seinen Heidelberger Habilitationsakten beigefügten Lebenslauf bemerkt Lukács noch 1918: »Während meiner Budapester Universitätszeit hat keiner der dortigen Professoren einen wesentlichen Einfluß auf meine Entwicklung gehabt, um so entscheidender war die Anregung und Förderung, die mir das Hören der Vorlesungen der Professoren Dilthey und Simmel bot. Der Einfluß Diltheys bestand hauptsächlich in der Erweckung des Interesses für kulturhistorische Zusammenhänge, der Simmels in dem Aufzeigen der Möglichkeit der soziologischen Behandlungen von Kulturobjektivationen. (Curriculum vitae, S. 5; GW 1,1. S. 33)
Während der Berliner Zeit schreibt Lukács jene Arbeit zu Ende, die durch ein Preisausschreiben der Kisfaludy-Gesellschaft, einer im 19. Jahrhundert gegründeten literarischen Gesellschaft, veranlasst worden ist: »Die Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas«. Das zweibändige Werk wird im Januar 1908 preisgekrönt, erscheint jedoch erst 1911, nachdem Lukács, gefördert durch die intensive Auseinandersetzung mit der Simmelschen Philosophie und Soziologie, seine Abhandlung weitgehend umgearbeitet hat.
2. Die Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas
Die zentrale Frage des ersten systematischen Teils der Dramengeschichte, dessen zweites Kapitel noch separat unter dem Titel »Zur Soziologie des modernen Dramas« 1914 im »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« veröffentlicht worden ist, ist die, ob es ein modernes Drama gibt. Dabei, so Lukács, spiele die bloße Faktizität, die Tatsache, dass es eine breite Dramenproduktion gebe, keine Rolle. Die Richtung seiner Fragestellung geht vielmehr nach dem Wesen, dem Kern der modernen Dramatik. Und die Antwort, die in verschiedenen Variationen geboten wird, fällt negativ aus. Es gibt und kann auch überhaupt kein bürgerliches Drama geben, da dafür der modernen Gesellschaft und ihrer Trägerschicht, dem Bürgertum, alle Voraussetzungen fehlen. Für Lukács besteht der Kern eines Dramas, dessen Gipfelpunkt er in der Tragödie sieht, in der Veranschaulichung des »Kampf(es) eines Menschen mit der äußeren Welt und dem Schicksal um sein zentrales Lebensproblem.« (vgl. E, S. 25) Dies sei aber in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft unmöglich geworden. Noch vor seiner intensiven Beschäftigung mit der Hegelschen Philosophie formuliert Lukács Einsichten, die dem nahekommen, was Hegel in seiner Ästhetik über die Kunst der Moderne ausgeführt hat. Wie Hegel, der für seine Zeit den Roman als die zeittypische Form annonciert hat, weil das Leben in der bürgerlichen Gesellschaft insgesamt breiter geworden und die Wirklichkeit auch »bereits zur Prosa geordnet« ist, spricht Lukács davon, dass »(d)as Leben, als Stoff der Dichtkunst, (…) – ganz kurz gesagt – epischer, oder genauer noch, romanhafter geworden (ist), als es je gewesen ist (…).« (a. a. O. S. 100) »Die Transponierung ins Drama«, fährt er fort, »ist immer nur durch Symptomatisierung der Lebenstatsachen zu erreichen.« (ebd.)
Das moderne Drama, ein Drama, dem erstmals in der Geschichte der bisher tragende Hintergrund, ein mystisch-religiöses Empfinden, fehlt, ist das Drama des Bürgertums, ein bürgerliches Drama. (vgl. a. a. O. S. 54) Damit ist es zugleich das Drama des Individualismus und stets auch historisch ausgerichtet. (a. a. O. S. 91ff.) In diesen drei Formulierungen bringt Lukacs das Problem auf den Begriff. Bereits am Beginn der modernen Dramenentwicklung, in Lessings Konzept des bürgerlichen Trauerspiels, steckt implizit schon die ganze Problematik. »Das bürgerliche Drama ist das erste, welches aus bewußtem Klassengegensatz erwachsen ist; das erste, dessen Ziel es war, der Gefühls« und Denkweise einer um Freiheit und Macht kämpfenden Klasse, ihrer Beziehung zu den anderen Klassen, Ausdruck zu geben.« (a. a. O. S. 74) Dabei wurden, namentlich bei Lessing, die bürgerlichen Tugenden »immer polemisch empfunden, in offenem oder heimlichem Gegensatz gegenüber denen der herrschenden Klasse. Ihr Wert, ihre Schönheit, ihre Größe konnte nur im Kampf, nur in Konfrontation mit einer anderen Ethik, also in dialektischer Form ausgedrückt werden.« (a. a. O. S. 76) Doch nachdem sich die historische Formation des Kapitalismus und die in ihr ausgebildete bürgerliche Gesellschaft durchgesetzt haben, fehlt dieser entscheidende Hintergrund. An die Stelle der sich im tragischen Konflikt einander gegenüberstehenden Leidenschaften sind nun Ideologien und Weltanschauungen getreten. Und statt der um Anerkennung miteinander rivalisierenden Klassen sind die Beziehungen von Menschen in einer Klasse Mittelpunkt des Dramas. Es wird darin nun um Werte, um konkurrierende Meinungen und divergierende Weltanschauungen gestritten, und Generationskonflikte in Gestalt von Eltern-Kinder-Relationen, wie paradigmatisch etwa Hebbels »Maria Magdalena«, jenem bürgerlichen Trauerspiel, das das Trauerspiel der ganzen bürgerlichen Klasse des 19. Jahrhunderts inszeniert, werden bühnenbeherrschend. Ein Resultat dessen ist, dass sich der tragische Konflikt immer mehr in die Innerlichkeit, die Seele, verschiebt. Damit aber ergibt sich eine weitere Paradoxie. Denn in dem Moment, in dem sich der Individualismus – und im Zeichen von Subjektivität und Individualität ist ja die bürgerliche Ideologie auf den Plan getreten – dramatisch exponieren will, droht ihm von außen durch »Versachlichung des Lebens« (a. a. O. S. 94) die Vernichtung. »Einerseits ist das zur Geltungbringen und Aufrechterhalten der Persönlichkeit als Lebensproblem bewußt und die Sehnsucht, sie durchzusetzen, stets heftiger und stärker geworden; andererseits wuchsen jene äußeren Umstände, welche dies von vornherein unmöglich machen, zu immer größerer Macht an. Daher wird die bloße Erhaltung des Individualismus, die Integrität der Individualität zum Zentrum des Dramas.« (a. a. O. S. 97) Obwohl also die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft eine bürgerliche Tragödie verunmöglicht, entziffert Lukács dennoch das neue Drama als »Drama des Individualismus, der bewußtgewordenen Persönlichkeitsforderung.« (a. a. O. S. 100)
Die Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas ist in erster Linie ein geschichtsphilosophischer Entwurf, der vorderhand zwar die Entwicklungsgeschichte einer literarischen Gattung rekonstruiert, hintergründig aber die gesamte bürgerliche Kultur und Gesellschaftsentwicklung der letzten zweihundert Jahre seziert. Eine Lösung vermag Lukács freilich noch nicht anzudeuten. Lediglich das Todesurteil über die bürgerliche Gesellschaft steht für ihn fest. »Der 22-23jährige Verfasser der Dramengeschichte prophezeit nichts, bietet nichts an und empfiehlt nichts, er zeichnet bloß kühl und zielbewußt Möglichkeiten auf und überläßt es dem Leser, sie zu erwägen.« (Fehér 1977a. S. 29f.) Wo diese zu suchen sind, deutet Lukács in einer Formulierung an, die in eins mit den Grenzen der dramatischen Gestaltung auf die ihrer gesellschaftlichen Basis verweist. »Nur in der Sehnsucht ist ein Vorgefühl der großen Gemeinsamkeiten vorhanden und nur im Händereichen großer pathetischer Begegnungen oder in der Ekstase der Vernichtung ist, wenn auch nur für einen Augenblick, etwas wie der Schatten einer Erfüllung möglich. Das wahre Wesen eines jeden Menschen ist eine einsame Insel inmitten des brausenden Meeres, und es gibt keine Stimme, welche zu ihm so zu dringen vermöchte, daß die Stimme des ihn umbrausenden Meeres, sich in seine Rede mischend, diese nicht fälschte; sofern sie nicht überhaupt völlig erdrückt wird, dergestalt, daß er nur die sich sehnsuchtvoll entgegenstreckenden Arme des andern zu gewahren vermag – auch dann noch dessen Gesten mißdeutend.« (a. a. O. S. 105f.) Es geht um die neue Menschengemeinschaft.
Die auf den ersten Teil folgenden Bücher zwei bis sechs zeichnen dann die Entwicklung des modernen Dramas von Lessing bis zum Naturalismus und Impressionismus nach. Beeindruckend dabei die Konsequenz, mit der Lukács die im systematischen Teil skizzierte Theorie am dramatischen Material exponiert. Schon über die Anfänge des modernen Dramas im 18. Jahrhundert (bei Lessing, aber auch bei Schiller) fällt Lukács das resümierende Urteil, dass diese Tragödien des Individualismus und Idealismus aufgrund der »ewigen Unstimmigkeit von Idee und Tatsache« (a. a. O. S. 149) scheitern müssen. Was noch bleibt und weiterhin Gültigkeit besitzt, ist die Tragik des bürgerlichen Autoren selbst, dessen Verhältnis zum Leben nun am reinsten »das ganze Verhältnis des Menschen und des Schicksals« symbolisiert. (vgl. a. a. O. S. 147) Diesem wahren Tragiker – Lukács verweist dabei insbesondere auf Hebbel und HofmannsthaI – steht die Masse der bloßen Unterhaltungsschriftsteller im Geist des französischen Tendenzdramas gegenüber. (vgl. a. a. O. S. 196) Die notwendige Lehre aus den Fehlentwicklungen ist, dass es weder »ein rein ästhetisches Drama« noch ein »ausschließlich aus den Bedürfnissen des Publikums« abgeleitetes geben kann. (vgl. a. a. O. S. 202)
In diesem Punkt setzt Lukács eine Argumentation fort, die er schon in einem Aufsatz von 1906, »Gedanken über Henrik Ibsen«, entwickelt hat. Darin spricht er – gegen die herrschende Vereinnahmung Ibsens als eines sozialkritischen Schriftstellers – von Ibsen, diesem Idol seiner Jugend, als einem Romantiker. Ibsens Zeitkritik sei romantisch inspiriert und sei ein Einspruch gegen die Moderne im Zeichen der romantischen Subjektivität und Innerlichkeit, die sich freilich nicht handelnd entfalten können und deshalb zum Untergang bestimmt sind. »Romantik«, so definiert Lukács gleich zu Beginn seines Essays, »ist in erster Linie eine Rebellion der Gefühle gegen alles, was sie in Fesseln schlägt, ihr wohnt also keine praktische Ausrichtung inne, sie protestiert sogar gegen jede rationalistische Beschränkung scharf. Sie erstreckt sich auf Gebiete, alles will sie erobern, alles umfassen, ihre ganze Weltanschauung einer einzigen großen Synthese der Gefühle unterordnen, einer Synthese, in der Wissenschaft und Kunst, Dichtung und Mathematik vereint sind. Bei den Romantikern ist das Kunstgefühl die Grundlage für alles, ihr Mystizismus – ebenso wie der Mystizismus der mit ihnen in dieser Hinsicht verwandten Renaissance – ist nichts anderes als eine vorschnelle, nur auf dem Kunstgefühl basierende monistische Weltauffassung. Sie ist die höchste Stufe des Individualismus, auf der das Objekt, die Realität, überhaupt nicht zählt (siehe die Philosophie von Fichte), eine Philosophie, bei der jede Schranke fällt, und das souveräne Individuum die Welt nach seinem eigenen Bilde neu erschafft.« (GW 1,1. S. 50) Die Romantik kann also, das wird aus diesen Zeilen deutlich, für Lukács keine künstlerische Lösung sein. Damit ist hier auch schon das negative Urteil über den Impressionismus und den Versuch einer Erneuerung romantischer Tendenzen vorgezeichnet.
Nachdem Lukács seinen Rückblick auf die Dramengeschichte abgeschlossen hat, entwirft er noch Grundzüge davon, wie er sich eine neue Dramatik vorstellt. Literarische Gewährsmänner sind ihm – wie übrigens auch schon im historischen Teil – die Neoklassizisten Wilhelm von Scholz und Paul Ernst, mit dem Lukács seit 1910 freundschaftlich verbunden ist. In Ernsts Stücken »Ariadne auf Naxos« (1912) und »Brunhild« (1908), die er in begeisterten Rezensionen feiert, sieht Lukács den Gipfel moderner Dramatik erreicht – »einsame Berggipfel, umgeben von einer morastigen Ebene.« (Ariadne auf Naxos, GW 1,2. S.XXX) Diese Hochschätzung von Paul Ernst macht zugleich auch Lukács‘ Schranke im Konzept der Entwicklungsgeschichte deutlich: seinen elitären Aristokratismus, der außer dem großen Einzelnen und einer Communio einsamer Einzelner nichts zulässt – einer (aristokratischen) neuen Menschengemeinschaft, die beständiges Thema des Briefwechsels zwischen Ernst und Lukács aus dieser Zeit ist und der Ernst zudem die dramatische Signatur verpasst.
3. Die Seele und die Formen
3.1. Die Liebe und die Formen: Georg Lukács und Irma Seidler
Noch während der Umarbeitungsphase seiner Dramengeschichte schreibt Lukacs eine Reihe von Essays, die zunächst – zwischen 1908 und 1911 – in ungarischen und deutschen Zeitschriften erscheinen. 1910 erfolgt dann die ungarische Buchpublikation, 1911 – nach langwierigen Verhandlungen – die deutsche Ausgabe von »Die Seele und die Formen« bei Egon FleischeI, die gegenüber der ungarischen Fassung um drei Essays erweitert ist.
»Die Einheit des Buches«, schreibt Lukács an Franz Blei Ende Dezember 1910, »ist das Formproblem: seine verschiedenen Möglichkeiten werden an scheinbar disparaten und willkürlich gewählten Punkten des Lebens und der Kunst erörtert. Das Ganze wird aber (hoffe ich) doch eine Totalität: es umspannt das ganze Gebiet der Literatur in ihren wichtigsten Formproblemen. und behandelt zugleich das Problem der Lebenskunst; das Verhältnis von Form und Leben. Es ist also ein Buch; keine »Sammlung« von Essays. Es soll aber zugleich ein Essay- Buch sein; der Zusammenhang, die Einheit soll bloß immanent sein; die Oberfläche kann und soll willkürlich, ja selbst manchmal widerspruchvoll erscheinen.« (Briefwechsel, S. 190) Diese Selbstanzeige verweist auf die zentralen Punkte des Buches: auf die Formproblematik und – zugleich und in eins damit auf das Lebensproblem. Leo Popper, Lukacs‘ intimster Freund jener Jahre, hat in einer Rezension der ungarischen Ausgabe betont, daß Lukacs‘ Schriften »gar keine Kritiken, sondern Abhandlungen über das Leben« sind. (vgl. Popper 1987. S. 43)
Tatsächlich ist das Buch seiner Gesamtkomposition nach ein frühexistentialistisches Werk, das Antworten auf die Frage sucht, wie ein authentisches Leben möglich ist. Es philosophiert über die Formen und deren Möglichkeiten, in denen Lukacs Lösungen auf Fragen sieht, die das Leben selbst stellt. »Die Form selbst, als Ordnungsprinzip der Kunst, wird«, so hat es der italienische Lukács-Philologe Asor-Rosa formuliert, »zum höchsten Ordnungsprinzip des Lebens.« (Asor-Rosa 1974. S. 92) Die Seele und die Formen – wie kann das Leben zur Form werden? Und welche Form ist der der Seele angemessene Ausdruck?
Eine eindeutige Antwort ist dem Lukacs des Essaybandes nicht mehr möglich. Ausdrücklich weist er – wiederum in einem Brief – seine eigenen »früheren Anschauungen«, die »sehr stark soziologisch orientiert waren«, zurück und behauptet, daß man »zur metaphysischen Vertiefung« dieser soziologischen Probleme gelangen müsse. (vgl. Briefwechsel, S. 232) Um Lukács‘ Wandlung – sein Interesse an der Metaphysik, trotz Marx und trotz seiner 1908 wiederaufgenommenen Hegellektüre – verstehen zu können, ist es notwendig, sich mit Lukács‘ Leben zwischen 1907 und 1911 auseinanderzusetzen. Denn die Essays von »Die Seele und die Formen« sind auch darin existentialistisch, daß sie Lukács‘ eigenes Lebensproblem artikulieren. Sie sind in Nietzsches Sinne »auf den eigenen Leib« bezogen; freilich nicht in physiologischer, sondern vielmehr existentieller Hinsicht. Es handelt sich, wie Agnes Heller gezeigt hat, um Versuche, in denen Lukács sein Verhältnis zu seiner Geliebten Irma Seidler immer wieder neu zu bestimmen versucht. Er hat dieses Verhältnis »gedichtet und gemäß den Gesetzen des »platonischen« Verhaltens durch das Prisma des Schicksals anderer, des Werkes anderer, der »Formen« anderer neugedichtet.« (Heller 1977. S. 54)
Am 18. Dezember 1907 haben sie sich auf einer Budapester Gesellschaft kennengelernt. Aber es bleibt zunächst noch bei flüchtigen Kontakten; darin sind beide den gesellschaftlichen Konventionen ihrer Klasse verpflichtet, über deren Schatten sie nicht springen können. Als Irma am 28. März 1908 nach Florenz reist, fahren ihr Lukács und sein Freund Béla Balázs nach. Die erste Annäherung: »Sonnabend 5. Juni S. Croce und S. Lorenzo mit Irma. Wir kaufen Bilder. Bargello. Am Abend allein; ein Kuß im Dunkel.« (Lukács‘ Tagebuch, zit. nach Heller a. a. O. S. 59) Lukács kehrt nach Budapest zurück, während Irma Seidler nach Nagybanya fährt, um dort malen zu lernen. Schon nach dieser kurzen Gemeinsamkeit scheint es, als verzehre sich Lukács in Selbstzweifeln, ob er eine Beziehung mit Irma eingehen solle oder nicht. »In allem, was Sie schreiben«, bemerkt Irma in einem Brief unmittelbar nach der Ankunft in Nagybanya, »liegt viel Wahres. Viele Wahrheiten, über die ich mir auch schon den Kopf zerbrochen habe. Nun aber – Gyurika, hören Sie zu: Glauben Sie, daß eine echte, nicht oberflächliche Entwicklung zweier Menschen zueinander ganz schmerzlos vor sich gehen kann?« (Briefwechsel, S. 33) Lukács kann sich nicht entscheiden. Er leidet unter Nervosität, Schlaflosigkeit und Anämie. Und auch Irma klagt über Depressionen. Sie bittet Lukács darum, nicht alles zu Tode zu analysieren (vgl. Correspondence, S. 47), und schließt einen Brief vom 5. August mit der Hoffnung, daß sie sich eines Tages treffen werden. (a. a. O. S. 48) Der Briefwechsel dauert bis zum Oktober. Am 25. Oktober schickt Irma einen ersten Abschiedsbrief, erkennend, daß sie beide »nicht miteinander gehen können …«. »Gyuri, wir waren viel zusammen. Zusammen im wahren Sinn des Wortes; ich machte in Ihrem Leben, in Ihrer Entwicklung eine große Etappe mit Ihnen zusammen durch, und Sie schenkten mir seelische Erlebnisse – insbesondere über das Geistige. Doch waren wir nicht zusammen mit allen Teilen unseres Wesens. Wir waren nicht zusammen dort, wo sich mein entsetzlich menschliches, aus Blut und pulsierendem Stoff bestehendes, in handgreiflichen Dingen lebendiges Leben abspielt.« (Briefwechsel, S. 44) Irma benennt damit den Grundkonflikt des jungen Lukács, der nicht nur dessen Weltanschauung charakterisiert, sondern hier auch auf das eigene Leben und Erleben bezogen wird: den Dualismus von Alltagsleben und wesentlichem Leben, von bloßem Leben und geistigem Leben, von dem, was Lukács selbst dann in »Die Seele und die Formen« als den Gegensatz von Leben und dem Leben bezeichnen wird. »Es gibt also zwei Typen seelischer Wirklichkeit: das Leben ist der eine und das Leben der andere; beide sind gleich wirklich, sie können aber nie gleichzeitig wirklich sein. In jedem Erlebnis eines jeden Menschen sind beider Elemente enthalten, wenn auch in immer verschiedener Stärke und Tiefe; auch in der Erinnerung bald dieses, bald jenes, auf einmal können wir aber nur in einer Form empfinden. Seitdem es ein Leben gibt und die Menschen das Leben begreifen und ordnen wollen, gab es immer diese Zweiheit in ihren Erlebnissen.« (SF, S. 11f.) Irma schließt ihren Brief damit, daß sie divinatorisch Lukács‘ weiteren Entwicklungsweg vorzeichnet. »Sie, Gyuri, werden höher wachsen können ohne mich, ohne ein ständiges Band, das Sie zwingt, sich auf einen Menschen zu konzentrieren. Sie und Ihre Arbeit brauchen Menschen, die vielerlei Kräfte befreiende, zur Tätigkeit anregende Wirkung vieler Menschen«. (Briefwechsel, S. 45) Lukacs, obwohl der Verzweiflung nah und mit Selbstmordgedanken ringend, antwortet auf Irmas Abschiedsbrief und versichert ihr seine Liebe – »Nie war mir ein Mensch so nahe wie Sie, und ich sehe keine Möglichkeit, daß mir noch einmal jemand so nahekommt« (a.a.O. S. 47) –, zugleich jedoch bestätigt er Irmas Feststellung über seine Arbeit: »Kalt stelle ich fest, daß ich sehr begabt bin.« (a.a.O. S. 48) Aber der Brief bleibt Konzept; Lukács findet nicht den Mut, ihn Irma zu schicken. Das Unausgesprochene bleibt in der Luft; die Zeit, mag er wohl gedacht haben, würde die Trennung schon definitiv werden lassen.
Der Rest ist kurz erzählt: Irma heiratet den Maler Károly Réthy, Lukács schreibt seine Essays; die Ehe verläuft unglücklich, Lukács veröffentlicht die ungarische Ausgabe von »Die Seele und die Formen«, die er ihr am 23. März 1910 schickt: »Dieses Buch ist, wie Sie vielleicht noch wissen, die wissenschaftliche Zusammenfassung meines bisherigen Lebens, der Abschluß meiner sogenannten Jugend.« (a.a.O. S. 106) Irma trennt sich von ihrem Mann, Lukács bereitet die deutsche Ausgabe der Essays vor; ein erstes Wiedersehen findet nach drei Jahren im März 1911 statt. Doch es gibt keine neuerliche Annäherung. Stattdessen Briefe. Lukács unterliegt einem ständigen Rechtfertigungszwang für sein Verhalten; seine Gefühle transzendiert er dabei ins Metaphysische. »Ich spüre es nur immer stärker: die wirklich wichtigen Dinge geschehen, wenn man allein ist, man kann über sie nicht einmal reden, geschweige denn sich über sie verständigen oder durch sie verstanden werden; Freundschaften aber stellen diesen Anspruch. Und weil er nie erfüllt wird, ist das Gerede unter Freunden »Geschwätz«. Das klingt wie mattes Gerede, ist es aber nicht ganz«. (a.a.O. S. 212) Am 18. Mai 1911 nimmt sich Irma das Leben, Lukacs kompensiert seine Niedergeschlagenheit durch Arbeit. »Wenn irgend jemand sie hätte retten können, wäre ich es gewesen … und ich wollte und konnte es nicht: ich war ihr »guter Freund«, ich weiß – doch nicht dies hatte sie nötig. Anders. Mehr. Und die Bereitschaft zu handeln war nicht in mir vorhanden. Und damit ist das Urteil gefällt. (…) In einigen Tagen werde ich sogar arbeiten können – und in der Zukunft gibt es und wird es sowieso nur dieses eine geben«. (An Leo Popper, 26. Mai 1911; Briefwechsel, S. 226)
Im November erscheint dann, nachdem kurz zuvor, am 21.10.1911, auch Lukacs‘ intimster Freund Leo Popper an Tuberkulose gestorben ist, die deutsche Ausgabe von »Die Seele und die Formen«. Sie trägt die Widmung »Dem Andenken Irma Seidlers und wird eingeleitet durch einen fiktiven Brief an Leo Popper. Lukacs‘ Tagebuch von 1910/11 faßt die Wirkungen der Ereignisse dieses Jahres zusammen: am 25.11. stellt er sich vor die Alternative »Arbeit oder Verkommen in Frivolität« (Naplo, S. 53); am 15.12. heißt es: »Die Krise scheint zu Ende zu sein« (a.a.O. S. 55); und am 16.12. schließlich: »Und alles führt auf die alte Frage zurück: wie kann ich Philosoph sein? D.h. da ich als Mensch nie aus der ethischen Sphaere herauskommen kann – wie kann ich das Höhere gestalten?« (a. a. O. S. 56)
3.2 Die Form des Essays – Essays über die Formen
Der einleitende Essay »Über Wesen und Form des Essays: Ein Brief an Leo Popper« ist in Form eines (fiktiven) Briefs an den Jugendfreund geschrieben; dies geschieht mit Bedacht, verdankt doch Lukács seinem Freund bzw. der symphilosophierenden Gemeinsamkeit mit ihm wesentliche Anregungen bezüglich der Formproblematik. Poppers essayistisches Werk, von dem zu Lebzeiten einige Texte in der »Fackel«, der »Neuen Rundschau« sowie in »Kunst und Künstler« erschienen, kreiste um den Begriff der Form. Und in einem Nachruf auf Leo Popper für den »Pester Lloyd« unterstreicht Lukács diesen zentralen Aspekt in Poppers Essays: »Die Form ist der Gedanke Leo Poppers … Die Kluft zwischen Leben und Werk, zwischen Welt und Form 00. hat noch nie jemand so weit aufgerissen, wie er. Die grauenvolle Inadäquatheit des Lebens, wo alles von blinden Kräften getrieben und von verfälschenden Fiktionen aufgefangen wird, war die Voraussetzung dieser Formenwelt, das notwendige, irreparable Mißverständnis jeder Äußerung, ihre Wiege und ihr Weg: die trennende Einheit von Sein und Form«. (Popper, S. 26; zur Aktualität von Lukács-Essayverständnis vgl. auch Butler 2011, Largier 2016)
Der einleitende Essay versucht die dem Essay eigentümliche Form zu bestimmen. Der Essay gehört weder zur Wissenschaft noch zur Kunst. Denn während jene uns »Tatsachen und ihre Zusammenhänge« bietet und diese »Seelen und Schicksale« vorstellt, bildet der Essay etwas Drittes ab. (vgl. SF, S. 9) Er schreibt immer »bei Gelegenheit von«, d.h. er benutzt bereits Geformtes – in der Kunst formgewordene Schicksalserlebnisse -, um daran »das Schicksalhafte« zu verdeutlichen. »Der Kritiker ist der, der das Schicksalhafte in den Formen erblickt, dessen stärkstes Erlebnis jener Seelengehalt ist, den die Formen indirekt und unbewußt in sich bergen. Die Form ist sein großes Erlebnis, sie ist als unmittelbare Wirklichkeit das Bildhafte, das wirklich Lebendige in seinen Schriften«. (a.a.O. S. 16) Und an anderer Stelle: »Vielleicht ist der Unterschied am kürzesten so formulierbar: die Dichtung nimmt aus dem Leben (und der Kunst) ihre Motive; für den Essay dient die Kunst (und das Leben) als Modell«. (a.a.O. S. 20) Das literarische Werk ist dem Essay Anlaß, um Aufschlüsse über das dahinterstehende Leben zu erhalten. Denn die Literatur repräsentiert für Lukács die ewigen Schemata von Schicksalsverhältnissen.
Beständiger Streitpunkt zwischen beiden symphilosophierenden Kunstphilosophen Lukács und Popper ist dabei die Frage nach dem Status des Kunstwerks gewesen. Schon der junge Lukács hat die Ansicht vertreten, daß jedes Kunstwerk – dieses faktum brutum aller Ästhetik – im eigentlichen immer ein geschlossenes ist. (vgl. Briefwechsel, S. 86) Popper hat darauf mit einem »Dialog über Kunst« geantwortet, in dem zwei Sprecher, Lukacs und Popper, ihre Kunsttheorien entwickeln. Während A – Lukács – die These vertritt, daß das Werk in der Fertigkeit unfertig ist, plädiert B – Popper – dafür, es in seiner Unfertigkeit dennoch als fertig anzusehen. Und er schließt mit einer Formulierung, die der Rezeptionsästhetik den Weg weist: »Eines jeden Kunstwerkes letzter Schluß ist der Empfangende«. (Popper 1987. S. 10)
Auch wenn Lukács einerseits am Konzept des geschlossenen, organischen Kunstwerks festhält, akzeptiert er andererseits doch in »Die Seele und die Formen« Poppers Forderung nach dem Abschluß im Rezipienten. Er spricht davon, »daß im Werk alles aus einem Stoff geformt sei, daß jeder seiner Teile von einem Punkt aus übersichtlich geordnet sei« (SF, S. 14), betont aber gleichzeitig die Rolle des Essayisten, der als Kunstinterpret Wert und Bedeutung des Werkes allererst vermittelt.
Entscheidend ist nun allerdings, daß die Aufgabe des Essayisten, »der Prozeß des Richtens« (SF, S. 31), das Gebiet der Ästhetik transzendiert und sich im Leben erfüllt. Der Kritiker nämlich, so führt Lukács aus, spricht »immer von den letzten Fragen des Lebens«, »aber doch immer in dem Ton, als ob nur von Bildern und Büchern, nur von den wesenlosen und hübschen Ornamenten des großen Lebens die Rede wäre; und auch hier nicht vom Innersten des Innern, sondern bloß von einer schönen und nutzlosen Oberfläche«. (SF, S. 19) Daran wird deutlich, daß das Ziel von Lukács‘ kunstphilosophischen Essays eine neue Metaphysik ist. Vordergründig eine metaphysische Ästhetik, die im Stil Simmels über künstlerische Formen spekuliert, erweist sich diese bei näherem Hinsehen zugleich als ästhetische Metaphysik im Sinne des jungen Nietzsche. Obwohl dessen Name und Werk im Frühwerk Lukács‘ nur selten fällt, wissen wir aufgrund der für das Dramabuch benutzten Literatur sowie durch Lukács‘ Hochschätzung von Simmel, Beer-Hofmann, Kassner und George, daß er mit Nietzsches Werk gut vertraut gewesen sein muß. (vgl. dazu Kiss 1985 und Marcus-Tar 1982) Ähnlich der Tragödienschrift Nietzsches, die nur eine uneigentliche Rede über Kunst ist und im eigentlichen nach der Überwindung einer entfremdeten, das Subjekt vereinzelnden Kultur strebt, sucht auch Lukács nach Lösungen zur Überwindung dieser modernen bürgerlichen Kultur.
Bereits die erste Seite des einleitenden Essays zeugt von der metaphysischen Bürde, mit der Lukacs den Essay belastet. Dort bestimmt er die vornehmste Aufgabe des Essays als »Kraft zu einem begrifflichen Neuordnen des Lebens«. (SF, S. 7) Und am Ende stilisiert er sich schließlich selbst in der Rolle eines Schopenhauer, der seine »Parerga und Paralipomena« geschrieben hat und nun auf das abschließende System hofft. »Der Essayist ist ein Schopenhauer, der die Parerga schreibt, auf die Ankunft seiner (oder eines anderen) » Welt als Wille und Vorstellung« wartend; er ist ein Täufer, der auszieht, um in der Wüste zu predigen von einem, der da kommen soll, von einem, dessen Schuhriemen zu lösen er nicht würdig sei«. (SF, S. 29) Er ist »der reine Typus des Vorläufers« (ebd.), dessen Arbeit sich erschöpft hat, wenn das »große(), erlösende() System« (ebd.) eingetroffen und wenn – um ein anderes Bild zu gebrauchen – die herrschende »Gestalt des Lebens« alt geworden ist und ihre Konturen »Grau in Grau« (Hegel) von der Philosophie nachgezeichnet worden sind.
Während seiner Essayphase, also in der Zeit zwischen 1907 und 1910, schließt sich Lukacs der von Dilthey geprägten lebensphilosophisch-hermeneutischen Methode an. In einem Aufsatz von 1910, »Zur Theorie der Literaturgeschichte«, der u.a. eine Kritik soziologischer Literaturtheorien enthält, stellt Lukacs seine eigene Methode vor. Unter Rückgriff auf Diltheys Erlebnisbegriff und eine davon abgeleitete Verstehenstheorie plädiert er unverhohlen für einen Subjektivismus in den Literatur- und Kunstwissenschaften. Weil die gemeinsame Grundlage des Kunstschaffenden wie des Rezipienten das Erlebnis ist und weil für einen Menschen, der völlig andere Erlebnisse hat, alle feinen und tiefen Interpretationen überflüssig sind, wird sich auch eine Wissenschaft, die sich mit Literatur beschäftigt, über diesen Subjektivismus nie erheben können. (vgl. Literaturgeschichte, S. 49; GW 1, 1. S. 165) Ja, selbst die Grundbegriffe der Literaturgeschichte sind für Lukács »von erlebnishafter, subjektiv erlebnishafter Natur«. (ebd.) Lukács benennt hierin die grundsätzliche Problematik des lebensphilosophisch-hermeneutischen Ansatzes, zieht aber daraus die umgekehrte Konsequenz. Statt eines soziologischen Quasiobjektivismus, der nur einen Fragmentenhaufen zu einem Ganzen zusammenfälscht, fordert Lukács geradezu, die geniale Anschauung Diltheys zur intuitiven Methode zu erheben. Nur die Intuition nämlich erfaßt das »einzige() wirkliche() Leben«, und sie liegt diesseits aller diskursiven Erkenntnisse. (vgl. a.a.O. S. 51; GW 1, 1. S. 167)
Der Essay erscheint Lukács, wie den Frühromantikern das Fragment, als der geeignete Ort, an dem sich die Intuition artikulieren kann. Im Essay philosophiert der Kritiker über die Formen der Kunst, in denen bestimmte Lebensmöglichkeiten objektiv geworden sind. Diese zu dechiffrieren und als Antworten auf die Frage zu lesen, wie man heute leben kann und soll, ist die höchste Aufgabe des Kritikers. Der Essay ist ein Gericht über das Leben, eine Konfrontation zwischen dem inauthentischen, bloßen Leben und dem wesenhaften, formgewordenen Leben. Solcherart ist er immer etwas nur Vorläufiges, Antizipation des gelungenen Lebens, das sich in der Realität erst noch zu bilden hat.
Wie kann und muß man heute leben? – Auf diese zentrale Frage sucht Lukács in den Essays von SF Antworten zu finden. Dabei steht für ihn die Krisenheftigkeit der bürgerlichen Kultur und Gesellschaft fest; und seit der Lektüre von Simmels Oeuvre, vor allem der »Philosophie des Geldes«, erscheint sie ihm unter dem Siegel des Dualismus von objektiver und subjektiver Kultur, der Tatsache, »daß zwar die Dinge immer kultivierter werden, die Menschen aber nur in geringerem Maße imstande sind, aus der Vollkommenheit der Objekte eine Vollendung des subjektiven Lebens zu gewinnen«. (Simmel 1984. S. 91) Wenn Lukács‘ Essays gewiß auch immer Selbstporträts sind (vgl. dazu schon Popper, Briefwechsel, S. 73) und Lukacs gelegentlich einmal von intellektuellen Gedichten gesprochen hat (vgl. Briefwechsel, S. 198), darf doch nicht vergessen werden, daß sie immer aufs Ganze der Kultur zielen. Bezeichnenderweise taucht der Begriff Totalität – seit der »Theorie des Romans« dann im Zentrum von Lukács‘ Terminologie – schon in SF auf. Der Essay enthält nämlich »eine ursprüngliche und tiefe Stellungnahme zum Ganzen des Lebens«, (vgl. SF, S. 30) Zwar werden von Lukacs verschiedene Lösungen skizziert und divergierende Antworten auf den tragischen Konflikt der modernen Kultur gegeben, immer aber bezieht Lukács diese – etwa Kierkegaards Flucht in die gestische Lebensbewältigung, Georges Lyrik einer neuen Einsamkeit oder Storms bewußt gewählte Bürgerlichkeit – auf das Ganze des Lebens, hebt er sie auf den Prüfstand des Allgemeinen.
Zwei Essays formulieren Perspektiven: der Novalis-Essay und der Ernst-Essay. Während der früheste und zugleich auch, wie Lukacs betont hat, erste ernstzunehmende Essay über Novalis und die Frühromantik diese Perspektive, die »Idee der Gemeinschaft«, noch modo negativo kritisiert, hält der späteste, die Sammlung abschließende Essay über Paul Ernst diese – wenn auch problematische – Perspektive dennoch als allein mögliche fest.
Zielpunkt der frühromantischen Bewegung war eine neue Kultur. »Eine neue Welt schien damals zu entstehen und Menschen mit neuen Lebensmöglichkeiten hervorzubringen, doch das alte, noch fortdauernde Leben war so beschaffen, daß für seine besten Söhne kein Platz in ihr zu finden war. Das Dasein, die Zugehörigkeit zum Leben, die Plazierung und die Stellungnahme des großen Menschen in der Gegenwart ist immer gefahrvoller und zweifelhafter geworden«. (SF, S. 69) Die Problematik, ja Tragik der ganzen Bewegung bestand – so Lukacs – darin, daß sie ihr Heil in der Kunst und nur in der Kunst suchte und dabei den Fehler beging, dieses nur Vorletzte – die Kunst – selbst schon für das Letzte – das Leben – zu halten. Ihr Panpoetismus schuf auf der einen Seite zwar »eine homogene, in sich einheitliche und organische Welt«, verwechselte aber auf der anderen Seite die so beschaffene mit der tatsächlichen Welt. »Dadurch erhielt die ihre etwas engelgleich zwischen Himmel und Erde schwebendes, etwas ganz körperlos Leuchtendes; die ungeheure Spannung aber, die zwischen Poesie und Leben besteht, die beiden die wirklichen und werteschaffenden Kräfte verleiht, ging ihnen dadurch verloren«. (SF, S. 75) So läuft am Ende alles darauf hinaus, daß den Frühromantikern »unmerklich fast, jeder Boden unter ihren Füßen« verschwindet, »darum verwandelten sich ihre monumentalen und starken Bauten allmählich in Luftschlösser, um sich schließlich in leeren Nebel aufzulösen«, (SF, S. 76) Die historische Dialektik besiegelt das Schicksal der Bewegung. Sie kam zu früh und zog aus einer richtigen Einsicht falsche Konsequenzen. Dezisionistisch aus der Geschichte herauszuspringen und gegen das historisch erst beginnende Drama der Vereinzelung eine neue Gemeinschaft zu setzen, ist für Lukács notwendigerweise regressiv, reaktionär – »der uralte Traum von einem goldenen Zeitalter«. (SF, S. 72)
Es ist Lukács‘ Einsicht, daß das Drama der Vereinzelung und Isolation durchlebt und durchlitten werden muß. Das ist eine der Kernaussagen des Ernst-Essays, den zahlreiche Interpreten auch für den bedeutendsten gehalten haben. (vgl. etwa Asor-Rosa 1974, Goldmann 1974, Fehér 1977c oder Grauer 1987) Einer existenzialontologischen Deutung des modernen Daseins läßt Lukacs seinen Versuch der Lösung, d.h. der Überwindung der bürgerlichen Kultur, folgen. »Das Leben ist eine Anarchie des Helldunkels: nichts erfüllt sich je in ihm ganz und nie kommt etwas zum Ende, immer mischen sich neue Stimmen, verwirrende, in den Chor jener, die schon früher klangen. Alles fließt und fließt ineinander, hemmungslos, in unreiner Mischung; alles wird zerstört und alles zerschlagen, nie blüht etwas bis zum wirklichen Leben«. (SF, S. 219) Wieder begegnen wir dem Antagonismus von wirklichem, authentischem Leben und bloßem Alltagsleben, dieser »Anarchie des Helldunkels«, die Bloch – an Lukács anknüpfend – im »Geist der Utopie« dann das »Dunkel des gelebten Augenblicks« nennen wird. »Das wahre Leben ist immer unwirklich, ja immer unmöglich für die Empirie des Lebens«. (ebd.) Das Drama der Vereinzelung, der Nicht-mehr-Eingebundenheit in die Gemeinschaft, der Dichotomie von innen und außen und von Seele und Schicksal (vgl. a.a.O. S. 222), ist vor allem eine Erfahrung des modernen bürgerlichen Intellektuellen. Er steht an der Spitze des gesellschaftlichen Seins, ist dessen Pointe und daher die Inkarnation des Problematischen der Lage. Deshalb bildet gerade sein Schicksal den Vorwurf der modernen Tragödie. Diese ist der adäquate Ausdruck für die Lage des Intellektuellen und wird deshalb von Lukacs als die zeitparadigmatische Form der Kunst begriffen. Denn »der metaphysische Grund der Tragödie« besteht gerade in der »tiefste(n) Sehnsucht der menschlichen Existenz«. (vgl. SF, S. 233) Nur im tragischen Augenblick, im Nu, der Pointe seines Seins, erreicht sich der problematische Mensch. »Dieser Augenblick ist ein Anfang und ein Ende. Nichts kann darauf und daraus folgen, nichts kann es mit dem Leben verbinden. Es ist ein Augenblick; er bedeutet nicht das Leben, er ist das Leben, ein anderes, jenem gewöhnlichen ausschließend entgegengesetztes«. (SF, S. 226)
Im letzten Kapitel der »Metaphysik der Tragödie« bietet Lukács schließlich noch eine Zusammenfassung seines gesamten Essaybandes. Hier wird deutlich, daß Literatur für Lukács, für den Essayisten, der ‚nur‘ bei Gelegenheit spricht, eine Propädeutik für das Leben darstellt. Sie vikariert für das, was dem Leben und der Wirklichkeit noch fehlt, und liefert diesen ein Modell. Damit schreiben die Essays das Programm einer ästhetischen Erziehung weiter. »Die Form ist die höchste Richterin des Lebens. Eine richtende Kraft, ein Ethisches ist das Gestaltenkönnen und ein Werturteil ist in jedem Gestaltetsein enthalten. Jede Art der Gestaltung, jede Form der Literatur ist eine Stufe in der Hierarchie der Lebensmöglichkeiten: über einen Menschen und sein Schicksal ist das alles entscheidende Wort ausgesprochen, wenn bestimmt worden ist, welche Form seine Lebensäußerungen ertragen, und welche ihre Höhepunkte erfordern«. (SF, S. 248)
4. Das gefundene System
4.1 Evangelist in Heidelberg, Führer in Budapest
Zwischen 1911 und 1918 hält sich Lukács überwiegend in Budapest und Heidelberg auf. Nachdem er seine Berliner Studien abgeschlossen hat und damit auch, wie es in »Gelebtes Denken« heißt, seine »Essayzeit«, verbringt Lukács zunächst ein Jahr in Florenz. Aufgegeben hat er zwei größere Buchprojekte, die er noch während der Überarbeitung an der Entwicklungsgeschichte und bei der Abfassung der Essays konzipiert hatte. Eins sollte eine Monographie über Friedrich Schlegel mit dem anspruchsvollen komparatistischen Titel »Die Romantik des XIX. Jahrhunderts« darstellen, in der nicht nur eine Unterscheidung zwischen der klassischen und romantischen Kunsttheorie und eine Unterscheidung zwischen der älteren und der jüngeren Romantik angestellt werden sollte, sondern in der auch ausführlich über den Unterschied zwischen der deutschen und französischen Entwicklung sowie über den Ausgang der Romantik bis zu den »Romantik à rebours Typen« Schopenhauer, Baudelaire, Kierkegaard, Flaubert und Storm referiert werden sollte. Erhalten geblieben von diesem Projekt sind lediglich Werkskizzen. Dies gilt auch für Lukacs‘ zweite geplante Arbeit über die Mystik. In der Auseinandersetzung mit Meister Eckhardt, Sebastian Franck und Valentin Weigel suchte Lukács nach einer Überwindung der modernen Gesellschaft und nach einem Ausweg. (vgl. dazu insgesamt Keller 1984. S. 133-145) Doch scheint der Florentiner Aufenthalt diesen Projekten ein baldiges Ende gesetzt zu haben.
Ernsthaft bemüht er sich um eine Habilitation. Aber die Pläne, sich in Budapest zu habilitieren, scheitern. Bernhard Alexander, Lukács‘ philosophischer Mentor aus Budapest, teilt ihm am 4. Mai 1911 mit, daß die Abstimmung vor allem deshalb negativ ausgefallen sei, weil die Fakultät Lukács für zu jung halte und überdies Schwierigkeiten mit dem Fach »Literaturästhetik« habe, in dem Lukacs Veranstaltungen zu halten gedachte. (vgl. Briefwechsel, S. 222ff.) In die Florenzer Zeit fällt auch die erste Ausarbeitung von Lukács‘ erster systematischer Ästhetik. (vgl. GD, S. 251; GW 1,1. S. 206) Auf Drängen Blochs, den Lukács im Berliner Simmelkreis kennen gelernt und mit dem ihn seither eine intensive Freundschaft verbunden hat, geht Lukács an die Heidelberger Universität, wo Alfred und Max Weber, Wilhelm Windelband, Emil Lask und Gustav Radbruch lehrten. Bloch war es auch, der Lukács den endgültigen Weg zur Philosophie finden läßt. Obwohl Bloch, wie Lukács in der Autobiographie vermerkt, »keinerlei direkte(n) oder konkrete(n) Einfluß« ausgeübt hat, spricht Lukács dennoch von einem »Erlebnis«, das die Begegnung mit Bloch ausgelöst hat: »eine Philosophie im klassischen (und nicht im heutigen epigonalen Universitäts- )Stil durch B s Persönlichkeit für bewiesen und damit auch für mich als Lebensweg eröffnet«. (GD, S. 251; GW 1, 1. S. 206)
Nachdem auch ein zweiter Versuch, sich in Freiburg zu habilitieren, fehlschlägt, konzentriert sich Lukács darauf, an der Heidelberger Universität zu reussieren. Nach kurzer Zeit schon wird er ständiges Mitglied des Weber-Kreises und beherrscht – neben Bloch – die Diskussionen. Helmuth Plessner betont in einer Erinnerung an die Heidelberger Zeit diese herausragende Rolle Lukács‘: »An den von Alfred Weber geleiteten soziologischen Abenden war Lukács zu hören, sehr kultiviert, intelligent und von seltsamer Monotonie des Vortrags. […] Sonntag nachmittags hatten Webers ihren Jour. Da kam ein Kreis meist jüngerer Leute zusammen, Historiker und Nationalökonomen zur Hauptsache, gelegentlich auch Ernst Troeltsch, der in dem schönen Hausrathschen Haus, unweit der Einmündung der alten Neckarbrücke in die Ziegelhäuser Landstraße, die zweite Etage über der Weberschen bewohnt. Jaspers, der sich gerade für Psychatrie bei Nissl habilitiert hatte, und Emil Lask, die Hoffnung damals des süddeutschen Neokantianismus, ein liebenswerter, scheuer Mann, beide enge Freunde des Hauses, bin ich dort nicht begegnet. Wohl Lukacs und Bloch, die bald das Gespräch beherrschten. Von ihnen ging die Sage, die seien Gnostiker. […] Wer sind die vier Evangelisten, fragte man damals: Marcus, Matthäus, Lukács und Bloch«, (Plessner 1963. S. 30) Die Beschäftigung mit Dostojewski spielt eine zentrale Rolle. Immer wieder sind Gestalt und Werk Dostojewskis Gegenstand der Diskussionsrunden. Und gewiß ist diese gemeinsame Hochschätzung Dostojewskis einer der wesentlichen Punkte auch für Webers Interesse an Lukács gewesen.
Unmittelbarer Anlaß jedoch für die Kontaktaufnahme war Lukacs‘ Bemühen um eine Habilitation in Heidelberg. Und mit Interesse nimmt Weber die ersten Kapitel, die Lukács ihm zur Begutachtung vorgelegt hat, zur Kenntnis. »Heft 1 habe ich gelesen – d.h. durchgeflogen. Die Grundthese akzeptiere ich, so viel ich sehe. […]. Daß, nachdem man Ästhetik vom »Standpunkt« des Rezipierenden, dann jetzt von dem des Schaffenden zu treiben versucht hat, nun endlich das »Werk« als solches zu Wort kommt, ist eine Wohltat«. (Weber an Lukács vom 10.3.13; Briefwechsel, S. 320) Früh erkennt Weber aber auch schon die Schwächen der Grundkonzeption. »Das Problematische der Kategorie: »Erlebniswirklichkeit« wird sich wohl nicht beseitigen lassen, das führt zu weit. Aber da liegt wohl das Unerledigte, was man spürt«. (Briefwechsel, S. 321) Nachhaltig ist umgekehrt aber auch Lukács von Webers Theorie beeinflußt. Das gilt nicht erst für »Geschichte und Klassenbewußtsein« oder das große Weber-Kapitel aus der »Zerstörung der Vernunft«, sondern zeigt sich schon in Rezensionen Lukacs‘ aus dem Jahre 1915, worin sich Lukács Webers Wertfreiheitspostulat anschließt und zudem – mit Blick auf Croces »Theorie und Geschichte der Historiographie« – an einer Unterscheidung von Geisteswissenschaft und Geschichtsphilosophie ganz in Weberschem Sinne festhält. (vgl. Grunenberg 1976, Kammler 1974, Maretzky 1978, Beiersdörfer 1985, Tar-Marcus 1984) Gewiß ist es dem Drängen Webers zu verdanken, daß Lukács – nach großen inneren Kämpfen und langen Arbeitsunterbrechungen – die Arbeit an der Ästhetik überhaupt weiter fortsetzt.
Während eines Rimini-Urlaubs mit Béla Balázs im August 1913 lernt Lukács die russische Malerin und ehemalige Terroristin Jelena Andrejewna Grabenko kennen. Schon nach kurzer Zeit, im Frühjahr 1914, heiraten sie. Doch ist von Beginn an ihre Beziehung bzelastet, denn Jelena liebt gleichzeitig den Pianisten Bruno Steinbach. Lukács versucht sich mit der prekären Situation zu arrangieren. Sie ziehen zusammen und führen eine Ehe zu dritt. Daß diese problematische Beziehung nicht unbedingt arbeitsfördernd ist, liegt auf der Hand. Dennoch schreibt er unermüdlich an seiner Ästhetik weiter. Unterbrochen wird die Arbeit erst durch den Kriegsausbruch. Der ersten Einberufung kann er sich zwar noch durch ein von Karl Jaspers verfaßtes Gutachten entziehen, doch eine Nachmusterung stellt seine bedingte Tauglichkeit fest, und er wird 1915 eingezogen, um bei der Briefzensur in Budapest seinen Dienst zu verrichten.
Trotz der Kriegswirren der ersten Monate und trotz auch der chaotischen persönlichen Beziehungen ist es Lukács noch gelungen, nachdem die Weiterarbeit an der großen Ästhetik ins Stocken geraten war, im Verlauf von vier Monaten eine zunächst als großangelegte Dostojewski-Monographie geplante Arbeit, die Lukacs schließlich jedoch angesichts der überbordenden und systematisch nicht zu bewältigenden Stoffmenge auf romantheoretische Aspekte reduziert, zu realisieren. Paul Ernst teilt er im März 1915 mit, daß er sein Dostojewski-Buch in Angriff nehmen will. »Es wird aber viel mehr als Dostojewski enthalten: große Teile meiner – metaphysischen Ethik und Geschichtsphilosophie etc. […]; speciell im ersten Teil kommen viele Fragen der epischen Form zur Frage, wo mir ein Meinungsaustausch mit Ihnen sehr wertvoll wäre … « (Briefwechsel, S. 345) Und am 2.August kann er demselben mitteilen, daß dieser erste Teil, ein großer Essay, fertig geworden ist. Titel: Die Ästhetik des Romans. (vgl. Briefwechsel, S. 358) Im folgenden Jahr dann publiziert Max Dessoirs »Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft« diesen Essay unter dem Titel »Die Theorie des Romans«.
Lukács‘ Haltung zum Weltkrieg ist eine tiefster Ablehnung – »eine«, wie er im Vorwort der Neuausgabe der Theorie des Romans von 1962 sagt, »vehemente, globale, besonders anfangs wenig artikulierte Ablehnung des Krieges, vor allem aber der Kriegsbegeisterung«. (ThR, S. 5) Das verbindet ihn mit der jungen expressionistischen Generation um Franz Pfemfert und setzt ihn gleichzeitig in Distanz zur akademischen deutschen Intelligenz, die – wie etwa Simmel oder auch Scheler – enthusiastisch den Kriegsausbruch bejubelt hatte, aber auch zu einigen Budapester Freunden. Lukacs‘ Ablehnung des Krieges hat darüber hinaus die erste Verstimmung in der Freundschaft mit Paul Ernst zur Folge, der aus Gründen der Ergebenheit zum Staat – »ein Theil meines Selbst ist mit in ihm« (Briefwechsel, S. 350) – den Krieg gutgeheißen hatte. Scharf geht Lukács daraufhin mit dieser deutschen Form der Staatsvergötterung ins Gericht: »Es ist aber eine Todsünde an dem Geist, was das deutsche Denken seit Hegel erfüllt: jede Macht mit metaphysischer Weihe zu versehen. Ja, der Staat ist eine Macht – muß er aber deshalb als Seiendes, im utopischen Sinn der Philosophie: im essentiell handelnden Sinn der wahren Ethik – anerkannt werden? Ich glaube nicht. […]. Der Staat (auch alle Gebilde, die aus ihm stammen) sind eine Macht; aber ein Erdbeben oder eine Epidemie sind es auch. Ja, noch unwiderstehlicher, denn diese können wir nur mechanisch bekämpfen, während uns hier ethische Mittel zur Verfügung stehen […]«. (Briefwechsel, S. 349) 1917 dann, wiederum in einem Brief an Ernst, plädiert Lukács für einen Frieden ohne wenn und aber.( vgl. Correspondence, S. 276) Die Kriegsbegeisterung der deutschen Intelligenz hatte Lukacs schon zuvor, in einem 1915 geschriebenen, jedoch wohl aus persönlichen Rücksichten damals nicht veröffentlichten Essay kritisiert. Darin widerlegt er – mit Weberscher Terminologie und Methodik (gegebene »Grundtatsachen«, »ohne irgendwie wertend Stellung zu nehmen«, zu analysieren) – die deutsche intellektuelle Hypokrisie, wonach der Krieg eine neue Gemeinschaft stifte und ein neues Heldentum hervorbringe, mit dem Hinweis, daß dies nur Reminiszenzen an primitive Zeiten seien, während faktisch dieser Krieg auf einen »primitiven Vernichtungskrieg« hinauslaufe. (GW 1,2. S.XXX)
Noch in Heidelberg erhält Lukács einen Brief seines Freundes Béla Balázs, in dem dieser Lukacs dazu auffordert, unter seiner Führerschaft die protestierende junge ungarische Intelligenz zu einer neuen (geistigen) Gemeinschaft zu vereinen. »Ich überdenke jetzt erneut, wie man die ehrlichen Menschen organisieren und in einen sozialen, ethischen Krieg der Kasten führen könnte, anderenfalls wird dieses Land endgültig vermodern«. (Briefwechsel, S. 343) Als Lukács dann nach Budapest zur Briefzensur eingezogen wird, konkretisiert sich dieser Plan. Am 23.12.1915 findet die erste Zusammenkunft eines Kreises junger Intellektueller im Haus von Béla Balazs statt. Dieser – nach dem Vorbild des Weber-Zirkels in Heidelberg eingerichtete – »Sonntagskreis« wird schnell zur festen Einrichtung und trifft sich, auch wenn Lukacs dessen Ende auf seinen eigenen Eintritt in die ungarische KP datiert, noch bis zu Balázs Übersiedlung nach Berlin 1926. Über ein solches Treffen notiert Balazs in seinem Tagebuch: »Sonnabends (beziehungsweise neuerdings am Sonntagnachmittag) ist bei mir »Herrenjour«, aus dem vielleicht eine Akademie des »Geistes« und der Ethik werden könnte. Nur »ernsthafte« und zur Metaphysik neigende Leute werden eingeladen. Jeder neue Gast wird vorher proponiert, und jedes Mitglied der Gesellschaft hat Vetorecht. Es ist schon bei der ersten Gelegenheit so gut gelungen, wir spürten alle eine so »gute Atmosphäre«, daß es zur Herzensache aller Anwesenden wurde. Gyuri, Béla Fogarasi, Mannheim, Emma Ritoók. Doch wird der Kreis noch wachsen«. (zitiert nach Karádi/Vezér 1985. S. 107) Tatsächlich gesellen sich nach kurzer Zeit eine Reihe weiterer, später bekannt gewordener Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler wie die Schriftstellerin Anna Lesznai oder der Kunstsoziologe Arnold Hauser hinzu. Und auch Balázs Hoffnung auf eine »Akademie des Geistes« erfüllt sich 1917 mit der von den Sonntäglern organisierten »Freien Schule der Geisteswissenschaften«, die wiederum einige jüngere Persönlichkeiten an den Kreis heranführt: etwa den späteren Wirtschaftswissenschaftler und Ehemann von Anna Seghers Ladislaus Radványi, den Wirtschaftshistoriker Karl Polányi und seinen Bruder, den Chemiker Michael Polányi, den Marxisten und Syndikalisten Ervin Szabó, aber auch die Musiker Zoltán Kodály oder Béla Bartók. Überragende Figur des Sonntagskreises ist jedoch Georg Lukács. Er beherrscht die Diskussion, setzt die Akzente und bestimmt die Themen. Dies wird von allen Kreismitgliedern einmütig bestätigt. Arnold Hauser erinnert sich in einem Gespräch mit David Kettler, daß man von drei Uhr nachmittags bis in die frühen Morgenstunden tagte – »zehn von den zwölf Stunden sprach Lukacs. Wir redeten nie über Politik, sondern über Literatur, Philosophie und Religion. Damals war noch keiner an Soziologie interessiert … Die Schutzheiligen der Gruppe waren in jenen frühen Zeiten Kierkegaard und Dostojewski«. (zit. nach Fekete/Karádi 1981. S. 70) Balazs notiert 1918 in seinem Tagebuch: »Bei all unseren theoretischen Zweifeln gibt Gyuris Anwesenheit eine solche Sicherheit wie die des Herrn Lehrers den kleinen Jungen. Zuletzt kann man ihn fragen, wie es nun wirklich ist. Die überlegene Sicherheit seines Gehirns hat etwas von enormer Monumentalität«. (zit. nach Karádi/Vezér 1984. S. 117)
Im Sonntagskreis diskutiert man über Gott und die Welt, über Probleme der Geistes- und Kulturwissenschaften, über Fragen der Ethik und Geschichtsphilosophie, wieder und wieder über Dostojewski und das hier aufgeworfene Problem des Terrorismus und der Erneuerung der Kultur. Einigkeit besteht bei den Kreismitgliedern in der Ablehnung der wissenschaftlichen Philosophie, worunter man in erster Linie den herrschenden Positivismus verstand, aber auch einen positivistisch halbierten Materialismus, wie ihn vor allem die führenden Vertreter der zweiten Internationale (Kautsky und Bernstein) vertraten. Einig ist man sich schließlich auch darin, daß Fragen der Ethik die zentrale Rolle spielen. Wie kann und muß man heute leben? Wie ist die schlechte Kultur der Gegenwart zu überwinden? Wie sieht die neue Gemeinschaft aus?
Auf Intervention des Vaters und unter Mithilfe eines ehemaligen Schulfreundes gelingt es Lukács, bereits im Sommer 1916 wieder aus dem Dienst bei der Briefzensur entlassen zu werden. Unverzüglich kehrt er nach Heidelberg zurück und setzt dort – bestärkt durch Max Webers ständigen Zuspruch – seine Arbeit an der Ästhetik fort. In ständigem Wechsel zwischen Heidelberg und Budapest in den Jahren 1916 bis 1918 beendet er schließlich das umfangreiche Werk und reicht es – des Zuspruchs Webers und auch Radbruchs sicher – der Philosophischen Fakultät in Heidelberg am 25.5.1918 als Habilitationsschrift ein. Erster Gutachter ist Heinrich Rickert, der am 18.6. bereits sein Gutachten der Fakultät vorlegt. Dennoch verzögert sich das ordnungsgemäße Verfahren, da einige Fakultätsmitglieder Bedenken gegen den Verfahrensablauf äußern und zudem politische Bedenken gegen die Habilitierung von Ausländern geltend gemacht werden. Obwohl noch zwei persönliche Gutachten aus Budapest eintreffen, vermag sich schließlich – entgegen der grundsätzlichen positiven Begutachtung durch Rickert – die reaktionäre Fraktion durchzusetzen. Schließlich teilt der neu gewählte Dekan Lukács mit, daß er sein Habilitationsgesuch zurückziehen möge, woraufhin Lukács ironisch kontert: »ich danke Ihnen für Ihre freundlichen Zeilen. Mein Gesuch zur Habilitierung in Heidelberg ziehe ich umso leichteren Herzens zurück, da ich mich der ungarischen Regierung zur Verfügung gestellt habe, und in verschiedenen Kommissionen so intensiv beschäftigt bin, dass ich in absehbarer Zeit sowieso unmöglich nach Heidelberg kommen könnte«. (zit. nach Sauder 1984. S. 107)
Mitte Dezember 1918 wurde Lukács Mitglied der eben gegründeten kommunistischen Partei Ungarns.
4.2 Die Heidelberger Ästhetik
1974 erscheinen als Bände 16 und 17 der Lukács-Werkausgabe aus dem Nachlass die »Heidelberger Philosophie der Kunst (1912-1914)« und die »Heidelberger Ästhetik (1916-1918)«. Über die Reihenfolge und Anordnung der einzelnen Kapitel, für die es keine letzte Sicherheit gibt, informiert das Nachwort des Herausgebers György Markus. Als gesichert kann jedoch gelten, dass Lukács die fünf Kapitel, die Markus als »Heidelberger Ästhetik« herausgegeben hat, auch zur Habilitation in Heidelberg vorgelegt hat. Bestätigt wird das vor allem durch Rickerts Gutachten, das einen Aufriss des eingereichten Werkes enthält: »Methodologische Erörterungen nehmen […] in den ersten Abschnitten einen breiten Raum ein. Sie sollen besonders die Notwendigkeit einer ästhetischen »Phänomenologie« dartun, die der eigentlichen Wertlehre der ästhetischen Sinngebilde voranzugehen hat. Eine umfangreiche »Skizze« dieser Phänomenologie des schöpferischen und receptiven Verhaltens füllt das zweite Kapitel. Darauf kann im dritten die Darstellung der zentralen ästhetischen Begriffe beginnen, und sie setzt mit einer Erörterung der Subjekt-Objekt-Beziehung ein. Dann geht jedoch die Untersuchung nicht wie bisher rein systematisch weiter, sondern bricht zu einer Auseinandersetzung mit der Metaphysik des Schönen ab, die in den vorgelegten Kapiteln noch nicht ihren Abschluß findet. Wie das Ganze des Systems sich aufbaut, ist noch nicht zu ersehen.« (zit. nach Márkus 1974. S. 267; vgl. auch Sauder 1984. S. 101f., dazu auch insgesamt Bertram 1993) Es ist nun das Verdienst von Markus, nachgewiesen zu haben, daß die von Lukács zu Habilitationszwecken geschriebene systematische Ästhetik, von der Lukács selbst später immer wieder als von einem Werk gesprochen hat, aus zwei Werken besteht, wovon der eine Teil, die »Philosophie der Kunst«, in Florenz 1911 geplant, dann in den Jahren vor dem Weltkrieg geschrieben worden ist, während der andere Teil, die der Fakultät schließlich 1918 eingereichte »Ästhetik«, in den Jahren zwischen 1916 und 1918 verfaßt worden ist. Obwohl beide Werke in vielen Fällen zu demselben Ergebnis kommen, besteht dennoch hinsichtlich der Methodologie und der wissenschaftstheoretischen Grundlagen ein erheblicher Unterschied: »anstelle einer Synthese von Lebensphilosophie und Kantianismus, wie in PhK zu finden, tritt in Äst ein extrem dualistisch interpretierter, konsequenter Kantianismus«. (Markus 1974. S. 262) Dieser Unterschied ist offenkundig und auch, vergegenwärtigt man sich Lukacs‘ Entwicklung, begreiflich; denn während Lukács die Arbeit an der Philosophie der Kunst unmittelbar nach Abschluss seiner Berliner Studien bei Simmel und Dilthey aufgenommen hat, macht er sich an die Ästhetik, nachdem er sich mit den Arbeiten Webers, aber auch Emil Lasks vertraut gemacht hat.
Grundfrage der Heidelberger Schriften ist die kantisch inszenierte »es gibt Kunstwerke – wie sind sie möglich?« (PhK, S. 9; Äst, S. 9) Das Kunstwerk ist für Lukács ein faktum brutum der Ästhetik, und von hier aus hat jede Ästhetik zu beginnen. Als Metaphysik dagegen verurteilt er jeden Versuch, der »über das geltende Sinngebilde »Kunstwerk« hinausgeht«. (Äst, S. 10) Wogegen sich Lukács darin wendet, sind Überlegungen, die produktions- oder rezeptionstheoretisch die Ästhetik fundieren wollen. Gewiss gesteht auch Lukács diese beiden Verhaltensweisen, den produktiven wie den rezeptiven Akt, zu; den Scheincharakter der Kunst, ihr als-ob, sei jedoch weder vom Erlebnis des Produzenten noch vom Verstehensakt des Rezipienten her begreifbar. Die Kunst, das geformte Werk, erscheint zwar als Mimesis der Erlebniswirklichkeit, geht aber nicht in dieser auf. Der Zeichencharakter, von dem Lukács in diesem Zusammenhang spricht, ist vielmehr etwas Drittes, etwas neben und außerhalb der Erlebniswirklichkeitssphären von Produzent und Rezipient Stehendes. »Die Paradoxie in der Mitteilung der Erlebnisse zeigt sich also darin, daß jedes Ausdrucksmittel sich verselbständigt und eine eigene Gesetzlichkeit erhält: indem die einzige Möglichkeit, das wirklich Unmittelbare am Erlebnis mitzuteilen, die Suggestionskraft der Mitteilungsformen ist, bekommen diese ein eigenes Leben. Sie erhalten die Fähigkeit, Erlebnisse zu erwecken, eröffnen aber dadurch nicht den Kerker der Individualität für den Sich-Mitteilenden, denn seine Erlebnisintensität schafft nur in sich selbständige Formen, durchbricht jedoch seine Schranken nicht; und sie können für den Aufnehmenden nur seine eigene Welt bereichern, doch niemals – durch Einströmenlassen von fremder Qualität – ihr Abgeschlossensein aufheben«. (PhK, S. 31) Ähnlich heißt es in Äst, dass der Schöpfer vor der Aufgabe steht, »einen konkreten und in seiner Konkretheit bestimmten Erlebnisinhalt allgemein erlebbar« zu machen (vgl. Äst, S. 123), während sich der Rezipient vor das Problem gestellt sieht, diese kunstgewordene Objektivation des Erlebnisses »als das vollendete Schema der erlebbaren Erfüllung überhaupt« zu dechiffrieren. (vgl. Äst, S. 120) »Die Werkform ist die vollendete Identität von Form und Inhalt, ihr Sinn besteht gerade in dem Sinnlos-machen dieser Entgegensetzung. Für den Schaffenden ist aber diese Identität eine Aufgabe, er soll einen (Erlebnis-)Inhalt zur Form werden lassen, sein Formbegriff ist der einer Wirkungsform (forma formans), während dieselbe Identität für den Aufnehmenden eine ihm abgeschlossene gegenüberstehende, (erlebnishafte) Anerkennung heischende Wirklichkeit ist, in der die Form als etwas unabhängig von ihm fertig Gewordenes und Daseiendes (forma formata) erscheint«. (Äst, S. 124f.) Man kann in diesem Gedanken vom Eigenweltcharakter des Kunstwerks eine Fortschreibung der klassischen idealistischen Ästhetik mit ihrem Primat von der Autonomie des Werks sehen. (vgl. dazu Bürger 1983. S. 45) Ja, man kann sogar Lukács‘ Heidelberger Schriften als theoretische Parallelaktion zur zeitgleichen Zerstörung des Autonomie-Anspruchs in den klassischen Avantgardebewegungen deuten. Denn Lukács versucht den Autonomie-Status um jeden Preis zu retten. Er begreift das Werk als ein »Form-Material-Verhältnis«, das »ein in sich fertiges und absolutes ist«. (PhK, S. 52) Und auch dem in der klassischen Ästhetik dem Autonomie-Postulat zur Seite gestellten Gedanken vom Genie als dem Produzenten des Werkes begegnen wir bei Lukács wieder. Das Genie ist der persönlichste aller Menschen, und es erweckt »das Erlebnis zum ewigen Leben«. (vgl. PhK, S. 55) Schelling steht schließllich Pate, wenn Lukacs »Bewußtheit und Unbewußtheit« als herrschende Prinzipien, die beide im Genie vorhanden sind, anruft. (vgl. PhK, S. 139)
Überaus interessant zu sehen ist nun, daß Lukács – sei es lebensphilosophisch in PhK, sei es wertphilosophisch-neukantianisch in Äst – in dem Maße, wie er den Autonomie-Status verteidigt, gerade auf – den Autonomie-Gedanken unterhöhlende – produktions- wie rezeptionstheoretische Überlegungen zurückgreifen muss. Bereits Márkus hat auf diese Paradoxie aufmerksam gemacht. »Während Lukacs immer wieder betont, er erkenne seine Aufgabe nicht in der Untersuchung der Beziehungen der ästhetischen Setzung zu den übrigen Sphären, befasst sich das Manuskript überwiegend gerade damit: mit dem Aufzeigen des Lebenssinnes der Kunst«. (Markus 1974. S. 275) Und er schließt: »Es ist vielleicht keine allzu gewagte Behauptung, wenn man erklärt, daß der sehr bewußte schöpferische Plan, in dem die Frage nach dem Werk als Formkomplex eindeutig in den Mittelpunkt gerückt wird, ständig gegen das zutiefst menschliche und denkerische Interesse des Verfassers zu hadern scheint, das vor allem der Lebensnotwendigkeit der Kunst, deren Funktion in der Totalität des Lebens galt«. (a.a.O. S. 275f.) Die Heidelberger Schriften sind, was bereits Rickert in seinem damaligen Gutachten vermerkt hat, fragmentarisch-unabgeschlossen. Innerhalb des von Lukács gewählten philosophischen Bezugsrahmens (Lebensphilosophie, Neukantianismus) ist eine Präzisierung der Autonomieästhetik nicht durchführbar.
5. Dostojewski-Notizen
Unmittelbar nach Ausbruch des Krieges nimmt Lukács die Arbeit an seinem Buch über Dostojewski auf, das, wie Ferenc Fehér bündig formuliert hat, Lukács‘ Antwort auf den deutschen Krieg enthalten sollte. (vgl. Fehér 1977c. S. 320; kritisch zum Gesamtkomplex der Notizen vgl. Hoeschen 1999) Doch bereits nach wenigen Monaten, bedingt durch die widrigen Zeitumstände, aber auch durch persönliche Probleme, gibt Lukács das großangelegte Projekt, das eine metaphysische Ethik und Geschichtsphilosophie umfassen sollte (vgl. Briefwechsel, S. 345), wieder auf. Erhalten geblieben – und durch die Entdeckung des berühmten Lukács-Koffers im Safe der Deutschen Bank in Heidelberg 1973 wieder aufgetaucht – ist ein Torso aus Fragmenten, Notizen und Exzerpten. Erhalten geblieben sind schließlich zwei Aufrisse, anhand derer die Fragestellungen des geplanten Buches deutlich werden. Danach wollte Lukács nach einer Gegenüberstellung von Epos und Roman nicht nur Dostojewskis Romane darstellen, sondern auch den europäischen mit dem russischen Atheismus vergleichen und am Ende dann die Grundzüge einer neuen Moral entwickeln. Die zweite Variante liefert den Grundriss einer Ethik und Geschichtsphilosophie, in der die Begriffe Staat, Sozialismus, Freiheit und Moralität im Vordergrund stehen. (vgl. D, S. 35-38) Auch wenn man mit J.C. Nyiri, dem Herausgeber der Dostojewski-Aufzeichnungen, von einem grandiosen Versuch und zugleich einem grandiosen Scheitern sprechen kann (vgl. D, Einleitung, S. 25), mag es dennoch interessant sein, sich die Gründe dieses Scheiterns ein wenig anzusehen.
In gewisser Weise stellen die Dostojewski-Aufzeichnungen die Fortsetzung von Überlegungen dar, die Lukács schon früher in seinem Essay» Von der Armut am Geiste« (1912) geäußert hat. Darin hat er – den Selbstmord seiner Freundin Irma Seidler verarbeitend – Grundzüge einer neuen Ethik formuliert, deren Kern der Begriff der Güte ist und die in den Dostojewski-Aufzeichnungen dann als 2.Ethik vorgeführt wird. (vgl. Heller 1974) »Güte ist keine ethische Kategorie, in keiner folgerichtigen Ethik werden Sie sie finden. Und mit Recht. Denn Ethik ist allgemein, verpflichtend und menschenfern; sie ist die erste, die primitivste Erhebung des Menschen aus dem Chaos des gewöhnlichen Lebens; sie ist sein Weggehen von sich, von seinem empirischen Zustand. Güte ist aber die Rückkehr in das wirkliche Leben, das wahre Heimfinden der Menschen. Was kümmert es mich, welches Leben Sie Leben nennen! Es kommt nur darauf an, die beiden Leben streng von einander zu scheiden«. (Armut, zit. nach: D, Einleitung, S. 23) Lukács greift hier auf die Unterscheidung vom Leben und dem Leben aus SF zurück und korreliert diese Unterscheidung mit der zwischen einer ersten und einer zweiten Ethik. Den Bereich der ersten (bloßen) Ethik weist Lukács der Welt des entfremdeten Alltags, dem Leben, zu und lehnt ihn als bloße »Erfüllung der Pflichten« ab. Demgegenüber ist die zweite Ethik, die er dem authentischen Leben zurechnet, im Begriff der Güte fundiert. Zur Güte gesellen sich dann noch die Kategorien des »Mitleidens« und der »Selbstaufopferung« hinzu. (vgl. Fehér 1977c. S. 311ff.) Mit diesen drei Kategorien ist das Feld der zweiten Ethik umschrieben. Ganz allgemein versteht Lukacs unter der ersten Ethik die »Pflichten den Gebilden gegenüber«, während die zweite Ethik die »Imperative der Seele« enthält. (vgl. Briefwechsel, S. 352)
Diese ethische Unterscheidung ergibt jedoch nur Sinn vor dem geschichtsphilosophischen Hintergrund, in den sie hineingeschrieben ist. Und dieser Hintergrund markiert zugleich die Bedeutung von Person und Werk Dostojewskis. Denn in Dostojewski erblickt Lukacs die Vision eines neuen Menschen (vgl. Keller 1984. S. 202; Löwy 1986, Nyiri 1988), der den schlechten Individualismus in der bürgerlichen Gesellschaft – einen Individualismus, der das subjektive Pendant zur Objektivität des okzidentalen Rationalismus darstellt – überwinden soll. Lukács glaubt in Dostojewskis Werken jene russische Idee gestaltet zu finden, in der die Gesellschaft zugunsten einer neuen Gemeinschaft aufgehoben ist. Mit Rußland, wie es ihm aus der Lektüre von Dostojewskis Werken entgegentritt, verbindet er chiliastische Vorstellungen: es ist ihm das »Land der nahenden Revolution, Verheißung und Träger der »Gemeinde««. (vgl. Fehér 1977c. S. 301) Aber noch in einer anderen Hinsicht sind Dostojewskis Romane für Lukács aufschlussreich. Denn er findet in ihnen einen Heldentypus, den Revolutionär und Terroristen, der als Überwinder, – mit Marx – als »Totengräber« der alten Ordnung auftritt. Intensiv beschäftigt sich Lukács mit den Biographien der russischen Sozialrevolutionäre, exzerpiert und kommentiert die Werke Boris Savinkovs, eines russischen Terroristen, der an der Ermordung des Gouverneurs von Moskau mitbeteiligt war. Lukács sieht im Terroristen einen Menschen, der den Konflikt zwischen der ersten und der zweiten Ethik dahingehend löst, dass er sich ausschließlich seiner eigenen »Seele« gegenüber verpflichtet fühlt und die blutige Tat – und damit auch die Schuld – auf sich nimmt. Die Frage der moralischen Rechtfertigung für die Tat beantwortet er mit einem Zitat aus Hebbels »Judith«: »Wenn du (Gott) zwischen mich und meine Tat eine Sünde stellst: wer bin ich, daß ich mit dir darüber hadern, daß ich mich entziehen sollte!« Die terroristische Tat ist das, was Lukács als »schnelle Heldentat« bezeichnet. (vgl. D, S. 50, 58 u.ö.) Allerdings sieht er in dieser auch das zentrale Problem, wie es mit Blick auf Savinkov/Ropschin heißt, dass der revolutionäre Terrorist durch seine Tat wieder seine Seele opfert. »Das wahre Opfer des Revolutionärs ist also (buchstäblich): seine Seele zu opfern: aus 2-ter Ethik nur 1-te tun«. (D, S. 127)
Darin zeigt sich, dass Lukács‘ Geschichtsphilosophie »nach wie vor von einer Seelenmetaphysik überlagert« bleibt. (vgl. D, Einleitung, S. 26) Der geschichtsphilosophische Impuls der Dostojewski-Aufzeichnungen wird immer wieder von einer Ethik der Seelen eingefangen und aufgeholt. Deshalb kann Lukács auch letzten Endes sein Programm, dem Westen und – paradigmatisch – Deutschland einen Ausweg aus der Tragödie der modernen Kultur zu zeigen, nicht erfüllen.
Lukács benennt in lebensphilosophisch-geistesgeschichtlicher Manier »die Tragödie Deutschlands«, dass es »nur einsame Herzen« gibt, die die »Pflicht als Versuch« begreifen, »das Luciferisch-Heldenhafte auf dem Wege der Gemeinschaft (parakletisch brüderlich) zu überwinden; aber es geht entweder zu gut – und führt ins Jehovaische (Hegel), oder es ist eine Resignation […]«. (D, S. 143) Allerdings vermag er nicht, Ethik und Geschichtsphilosophie zusammen zu denken. Ausdrücklich kritisiert er in diesem Zusammenhang die Philosophie des deutschen Idealismus, die den Staat, das Recht und die erste Ethik dem absoluten Geist zurechne und damit das Praktische logifiziere. Demgegenüber stellt er dann als »die Bedeutung von Marx« heraus, dass dieser »die Möglichkeit der Erkenntnis der wahren Struktur des objektiven Geistes« »geschichtsphilosophisch-inszeniert habe. (vgl. D, S. 90) Doch Marx ist für Lukács nur der Gelehrte (vgl. a.a.O. S. 127); und eine marxistische Ethik, die Ethik des Proletariats, lehnt er ab.
Am Ende bleibt dann alles offen, werden nur verschiedene Möglichkeiten angedeutet. »Was sollen wir tun‘? Das Problem des objektiven Geistes (Hegel oder Indien). Die Reinheit der Seele. Das Problem der Revolution (Judith, […], Marx als Prophet)« (a.a.O. S. 136f.) Also: Aktion oder Kontemplation, schnelle Heldentat oder Einkehr und Verzicht, Marx oder Kierkegaard.
Auf die Kontinuität solcher Überlegungen weist Nyiri in seiner Einleitung hin. Noch 1918 in dem ungarischen Sammelband über Béla Balázs, »Balázs Béla és akiknek nem kell«, wiederholt Lukács – unmittelbar vor seinem Eintritt in die ungarische KP – Gedanken seiner Dostojewski-Notizen. Wieder erscheint Dostojewskis Werk als die Verkündung einer neuen Menschen- resp. Seelengemeinschaft. »So wie in der Welt von Dostojewski die gesellschaftlichen Beziehungen nicht mehr konstitutiv sind, redet diese Welt nicht mehr irgendwelche gesellschaftlich determinierte Gruppe der Menschen an, sondern – unabhängig von jeder gesellschaftlichen Bindung – jene Seelen, die diese konkrete Seelenwirklichkeit bereits gefunden haben, oder sie doch wahrhaftig, mit der wahren Intensität ihrer Seele suchen«. (zit. nach D, Einleitung, S. 31f.; GW 1,2. S.XXX) Und wiederum wird dabei die proletarische Ethik in ihrer Kurzsichtigkeit abgelehnt: »Die Ideologie des Proletariats, sein Solidaritätsgedanke ist heute noch derart abstrakt, daß sie – außer den Waffen des Klassenkampfes – keine wahre, alle Äußerungen des Lebens beeinflussende Ethik zu bieten imstande ist«. (a.a.O. S. 31; GW 1,2. S.XXX; zu den Dostojewski-Skizzen und dem Ethik-Verständnis des jungen Lukács vgl. die Arbeiten von Machado 1996, 1997)
6. Theorie des Romans
1916 erschien als Zeitschriftenaufsatz »Die Theorie des Romans«, der erste und einzig ausgearbeitete Teil der geplanten Dostojewski-Monographie. Er entstand, wie Lukács in seinem Vorwort von 1962 anmerkt, »in einer Stimmung der permanenten Verzweiflung über den Weltzustand«. (ThR, S. 6) Er enthält aber auch – zumindest in Andeutungen – die Alternative, Lukács‘ Antwort auf die Katastrophe des 1. Weltkriegs. Am Ende nämlich führt er seinen Lesern Dostojewskis Welt und Werk als konkrete Utopie eines menschenwürdigen Zustands diesseits der bürgerlichen Welt der Entfremdung und Vereinzelung vor. Dostojewskis Werke zeichnen eine »neue Welt, fern von jenem Kampf gegen das Bestehende, als einfach geschaute Wirklichkeit« ab. (vgl. a.a.O. S. 137) Dennoch mischt sich zugleich auch wieder Skepsis in Lukács‘ Urteil; denn ob Dostojewski »nur ein Anfang, oder schon eine Erfüllung ist: das kann nur die Formanalyse seiner Werke aufzeigen. Und es kann erst dann Aufgabe einer geschichtsphilosophischen Zeichendeuterei sein, auszusprechen, ob wir wirklich im Begriffe sind, den Stand der vollendeten Sündhaftigkeit zu verlassen, oder ob erst bloße Hoffnungen die Ankunft des Neuen verkündigen; Anzeichen eines Kommenden, das noch so schwach ist, daß es von der unfruchtbaren Macht des bloß Seienden wann immer spielend erdrückt werden kann«. (a.a.O. S. 137f.) Hier bricht die ThR ab; wie die weitere Argumentation verlaufen wäre, deuten die Dostojewski-Skizzen an.
Interessant ist jedoch die utopische Vision, mit der der Essay schließt – eine Vision, die die ästhetische Sphäre transzendiert und auf das wirkliche Leben wieder zurückkommt. Während die Essays von SF, aber auch noch von ÄK in lebensphilosophisch-frühexistentialistischer Manier aus der Literatur noch verschiedene Lebensmodelle abgeleitet haben, zeichnet die ThR eine Möglichkeit vor – das, was die Dostojewski-Notizen mit der »russischen Idee« bezeichnet haben und was in der ThR als Dostojewskis Vision aufscheint. Der lebensphilosophische Ansatz ist dabei von einer geschichtsphilosophischen Reflexion aufgehoben worden.
Entscheidend für das Konzept der ThR – und auch das klingt im Begriff der »geschichtsphilosophischen Zeichendeuterei« aus den letzten Sätzen des Essays an – ist der geschichtsphilosophische Hintergrund, vor dem die Ästhetik des Romans entwickelt wird. Er habe sich, führt Lukács im späteren Vorwort dazu aus, »im Prozeß des Übergangs von Kant zu Hegel« befunden. (vgl. ThR, S. 6) Und an späterer Stelle heißt es weiter: »Meines Wissens ist »Die Theorie des Romans« das erste geisteswissenschaftliche Werk, in dem die Ergebnisse der HegeIschen Philosophie auf ästhetische Probleme konkret angewendet wurden. Ihr erster, allgemeiner Teil ist wesentlich von Hegel bestimmt; so die Gegenüberstellung der Art der Totalität in Epik und Dramatik, so die geschichtsphilosophische Auffassung der Zusammengehörigkeit und Gegensätzlichkeit von Epopoe und Roman usw.«. (a.a.O. S. 9; vgl. dazu insgesamt Hebing 2009) Aber nicht nur Hegel, sondern auch die Frühromantiker Novalis und Friedrich Schlegel, Fichte und Kierkegaard und – von den neueren Philosophen – selbstverständlich wiederum Simmel und Weber sowie Henri Bergson haben prägend auf das Konzept der »Theorie des Romans« gewirkt. (vgl. dazu Michel 1972. Bd.2. Kap.2 und Keller 1984. S. 167-201, Kalinowski 2015)
Der Essay umfasst zwei Kapitel, wobei das erste, »Die Formen der großen Epik in ihrer Beziehung zur Geschlossenheit oder Problematik der Gesamtkultur«, den geschichtsphilosophischen Hintergrund konturiert, während das zweite, »Versuch einer Typologie der Romanform«, im Wesentlichen eine Rekonstruktion der Geschichte des bürgerlichen Romans darstellt. Daran wird deutlich, dass die ThR nicht zuletzt auch an die Erstlingsarbeit, die Dramengeschichte, anschließt. Sieht man von der singulären Stellung ab, die Cervantes‘ »Don Quixote« einnimmt, dann behandelt die ThR denselben historischen Zeitraum wie die Dramengeschichte. Während die Dramengeschichte jedoch am Ende zu einem negativen Verdikt über die Entwicklung des modernen Dramas, das ja das Drama des Bürgertums ist, kommt, schließt die ThR unmittelbar hier an und weist nun den Roman als den der bürgerlichen Gesellschaft angemessenen literarischen Ausdruck aus.
Das erste Kapitel, das auch die beiden zentralen Kategorien Totalität und problematisches Individuum entwickelt, beginnt mit einer geschichtsphilosophischen Gegenüberstellung von Antike und Moderne, – in moderner Terminologie – von geschlossener und offener Gesellschaft. »Selig sind die Zeiten, für die der Sternenhimmel die Landkarte der gangbaren und zu gehenden Wege ist und deren Wege das Licht der Sterne erhellt. Alles ist neu für sie und. dennoch vertraut, abenteuerlich und dennoch Besitz. Die Welt ist weit und doch wie das eigene Haus, denn das Feuer, das in der Seele brennt, ist von derselben Wesensart wie die Sterne; sie scheiden sich scharf, die Welt und das Ich, das Licht und das Feuer, und werden doch niemals einander für immer fremd; denn Feuer ist die Seele eines jeden Lichts und in Licht kleidet sich ein jedes Feuer«. (ThR, S. 21) Dieses poetische Bild der Antike kontrastiert Lukács nun mit der prosaischen Moderne. Wo der Mensch der Antike noch in der Harmonie seiner ersten Natur, in Übereinstimmung mit sich und der Welt leben konnte und daher transzendental geborgen war, da klafft beim modernen vergesellschafteten Menschen ein Abgrund zwischen der Welt und dem Subjekt. Der moderne Mensch ist transzendental obdachlos geworden, seine zweite gesellschaftliche Natur hat ihn vereinzelt, und er leidet darunter. »Kants Sternenhimmel glänzt nur mehr in der dunklen Nacht der reinen Erkenntnis und erhellt keinem der einsamen Wanderer – und in der Neuen Welt heißt Mensch-sein: einsam sein – mehr die Pfade«. (a.a.O. S. 28) Der Kantsche Sternenhimmel – hier metaphorisch verstanden als Inbegriff des Erkenntnisobjekts aus der abendländischen Metaphysik – bedeutet nur demjenigen etwas, der sich als Erkenntnissubjekt weiß, lässt aber den empirischen Menschen in seinen Alltagsbezügen unbetroffen. Es gibt »unüberbrückbare Abgründe« »zwischen Erkennen und Tun, zwischen Seele und Gebilde, zwischen Ich und Welt«, und »jede Substantialität« zerflattert »jenseits des Abgrundes in Reflexivität«. (vgl. a.a.O. S. 26) Zwar gesteht Lukács zu, dass die moderne Welt »unendlich groß geworden und in jedem Winkel reicher an Geschenken und Gefahren als die griechische« ist, »aber dieser Reichtum hebt den tragenden und positiven Sinn ihres Lebens auf: die Totalität«. (ebd.)
Dieses geschichtsphilosophische Schema von der antiken Harmonie und der modernen Zerrissenheit überträgt Lukács dann in die Ästhetik. Paradigmatische literarische Form der geschlossenen Gesellschaft und ihrer Totalität ist das Epos. Ähnlich Hegel definiert auch Lukács das Epos als ein Gebilde, das »eine von sich aus geschlossene Lebenstotalität« gestaltet. (ThR, S. 51) Im Gegensatz dazu steht der Roman, die moderne bürgerliche Epopoe. Er ist »ein Ausdruck der transzendentalen Obdachlosigkeit«. (a.a.O. S. 32) Während das antike Epos die Widerspiegelung einer fertig gegebenen extensiven Totalität des Lebens ist, sucht der Roman gestaltend die verlorene Totalität wieder aufzubauen. »Der Roman ist die Epopoe eines Zeitalters, für das die extensive Totalität des Lebens nicht mehr sinnvoll gegeben ist, für das die Lebensimmanenz des Sinnes zum Problem geworden ist, und das dennoch die Gesinnung zur Totalität hat«. (a.a.O. S. 47) »Die Kunst«, sagt Lukács einmal an späterer Stelle, »ist – im Verhältnis zum Leben – immer ein Trotzdem«. (a.a.O. S. 62) Das heißt nicht, dass das Gesetz der Kunst die Verklärung und Verschönerung des Bestehenden, ein Stiftersches Pensionopolis inmitten der Entfremdung, ist. Im Gegenteil. »Alle Risse und Abgründe, die die geschichtliche Situation in sich trägt, müssen in die Gestaltung einbezogen und können und sollen nicht mit Mitteln der Komposition verdeckt werden«. (a.a.O. S. 51) Die Widersprüche und Antagonismen in der Gesellschaft sind vielmehr konstitutiv für den Roman. Und sie verobjektivieren sich gleichsam in der »Psychologie der Romanhelden: sie sind Suchende«. (ebd.) »Die einfache Tatsache des Suchens zeigt an, daß weder Ziele noch Wege‘ unmittelbar gegeben sein können, oder daß ihr psychologisch unmittelbares und unerschütterliches Gegebensein keine evidente Erkenntnis wahrhaft seiender Zusammenhänge oder ethischer Notwendigkeiten ist, sondern nur eine seelische Tatsache, der weder in der Welt der Objekte noch in der der Normen etwas entsprechen muß«. (ebd.) Deshalb nennt Lukács die Romanhelden problematische Individuen. Sie sind das Subjektkorrelat zu einer entfremdeten kontingenten Welt, in der es keine verlässliche transzendentale Topographie mehr gibt. Das problematische suchende Individuum ist ganz auf sich selbst, die eigene Innerlichkeit verwiesen. »Wenn das Individuum unproblematisch ist, so sind ihm seine Ziele in unmittelbarer Evidenz gegeben, und die Welt, deren Aufbau dieselben realistischen Ziele geleistet haben, kann ihm für ihre Verwirklichung nur Schwierigkeiten und Hindernisse bereiten, aber niemals eine innerlich ernsthafte Gefahr. Die Gefahr entsteht erst, wenn die Außenwelt nicht mehr in Bezug auf die Idee angelegt ist, wenn diese im Menschen zu subjektiven seelischen Tatsachen, zu Idealen werden. Durch das als Unerreichbar- und – im empirischen Sinn – als Unwirklich-Setzen der Ideen, durch ihre Verwandlung in Ideale, ist die unmittelbare, problemlose Organik der Individualität zerrissen. Sie ist für sich selbst zum Ziel geworden, weil sie das, was ihr wesentlich ist, was ihr Leben zum eigentlichen Leben macht, zwar in sich, aber nicht als Besitz und Grundlage des Lebens, sondern als zu Suchendes vorfindet«. (a.a.O. S. 67f.)
Soweit stimmt Lukács der HegeIschen Einschätzung des bürgerlichen Romans zu. Im Gegensatz zu Hegel jedoch, dem Anwalt der Substantialität und Objektivität des Bestehenden, verteidigt Lukács – rund hundert Jahre später – die Forderungen und Ansprüche des problematischen Menschen. Mit Hegel stellt er »das Auseinanderklaffen von Wirklichkeit und Ideal in der Umwelt des Menschen« (a.a.O. S. 68) fest, geht aber an diesem Punkt über ihn hinaus bzw. vor diesen zurück und beruft sich auf das Ironiekonzept der Frühromantiker. Unter Bezug auf Friedrich Schlegel (und den Athenäum-Kreis), der – in den Worten Lukács‘ – unter der Ironie »(d)ie Selbsterkenntnis und damit die Selbstaufhebung der Subjektivität« verstanden hat, definiert Lukács die Ironie. »Sie bedeutet, […], eine innere Spaltung des normativ dichterischen Subjekts in eine Subjektivität als Innerlichkeit, die fremden Machtkomplexen gegenübersteht und der , fremden Welt die Inhalte ihrer Sehnsucht aufzuprägen bestrebt ist, und in eine Subjektivität, die die Abstraktheit und mithin die Beschränktheit der einander fremden Subjekts- und Objektswelten durchschaut, diese in ihren, als Notwendigkeiten und Bedingungen ihrer Existenz begriffenen, Grenzen versteht und durch dieses Durchschauen die Zweiheit der Welt zwar bestehen läßt, aber zugleich in der wechselseitigen Bedingtheit der einander wesensfremden Elemente eine einheitliche Welt erblickt und gestaltet«. (a.a.O. S. 64) Lukács übersetzt nun diese korrekt beschriebene poetologische Einsicht der Frühromantik, die Schlegel und Novalis häufig auch als Oszillieren zwischen Selbstschöpfung und Selbstvernichtung gedeutet haben, in die Romansphäre und schreibt sie der Psychologie der Romanhelden, der problematischen Individuen, ein. Sie sind Suchende, und ihre Tragik ist das »Reflektierenmüssen«. (vgl. a.a.O. S. 74) Die Ironie ist dabei das Gestaltungsmittel, um die Inadäquatheit von kontingenter Welt und den an diese gestellten Idealen, Sinnhaftigkeit und Erfülltheit, auszudrücken. Denn die Ironie ist »die negative Mystik der gottlosen Zeiten: eine docta ignorantia dem Sinn gegenüber« (ThR, S. 79); zugleich erhebt sie dadurch den Roman, wie es im Schlusssatz des ersten Teils der ThR heißt, »zur repräsentativen Form des Zeitalters«. (a.a.O. S. 82)
Nachdem Lukács im ersten Teil die tragenden geschichtsphilosophischen Kategorien (Totalität und problematisches Individuum) sowie den zentralen poetologischen Begriff der Ironie entwickelt hat, versucht er im zweiten Teil die »Typologie der Romanformen« darauf zu beziehen. Die Typenunterschiede resultieren inhaltlich daraus, dass »die Seele« »entweder schmäler oder breiter als die Außenwelt« ist. (vgl. a.a.O. S. 83) Insgesamt rekonstruiert Lukács vier verschiedene Typen, wobei zwei von ihnen, der Roman des »abstrakten Idealismus« und der Roman der »Desillusionsromantik«, sozusagen reine Typen sind, während der »Erziehungsroman« sowie die – terminologisch nicht fixierten – Romane Tolstois und Dostojewskis Abschattungen und Zwischenformen darstellen.
Paradigmatische Werke des ersten Typus sind für Lukács der »Don Quixote« und Balzacs »Comédie humaine«. Don Quixotes Problematik, das Problem seiner verengten Seele, besteht darin, dass er auf groteske Weise an der faktischen Wirklichkeit vorbeihandelt, da seine – ewig gewähnten – Ideale des Rittertums historisch inadäquat geworden sind. Was bleibt, ist nur ein sinnloser Kampf gegen Windmühlen und die Verklärung einer Magd zum Objekt des Minnedienstes. Für Lukacs ist der Don Quixote »der erste große Kampf der Innerlichkeit gegen die prosaische Niedertracht des äußeren Lebens«. (a.a.O. S. 90) Fortsetzung dieses Typus sieht er in Dickens Romanen und in Gogols »Toten Seelen«. Doch erst Balzacs »Comédie humaine«, deren Grundzüge Lukacs in einer »dämonische(n) Inadäquatheit« von Welt und Seele und in einem »schicksalsschwere(n) Vorbeihandeln der Seelen aneinander« sieht (vgl. a.a.O. S. 95), setzt Cervantes‘ Tradition fort. Insgesamt charakterisiert Lukacs die Welt der Balzacschen Helden durch die Statik ihrer Psychologie (vgl. a.a.O. S. 96), womit zugleich ihre Grenze abgesteckt ist.
Während beim Roman des »abstrakten Idealismus« im eigentlichen »die unsichtbare Hand« (A. Smith) der Gesellschaft und – bei Balzac – der Ökonomie der eigentliche Akteur ist und hinter dem Rücken der Protagonisten deren Leben bestimmt, zeichnen sich die Romanhelden vom Typ der Desillusionsromantik gerade durch ihre (gesellschaftliche) Bewusstheit und durch die (tragische) Erkenntnis aus, zur Handlungslosigkeit verurteilt zu sein. Paradigmatische Werke sind hier Flauberts »Education sentimentale«, aber auch Gontscharows »Oblomow« und Jacobsens »Niels Lyhne«. Und man könnte die Reihe dieses interessanten Typus noch ins 20. Jahrhundert verlängern und auf Prousts »Recherche«, Musils »Mann ohne Eigenschaften«, ja selbst auf Thomas Manns »Zauberberg« verweisen, der dezidiert an Lukacs‘ Ausführungen in Bezug auf die Zeitproblematik anschließt. (vgl. dazu Marcus-Tar 1982. S. 39; vgl. dazu auch Pott 1990) »Während […] für die psychische Struktur des abstrakten Idealismus eine übermäßige und durch nichts gehemmte Aktivität nach außen hin bezeichnend war, ist hier mehr eine Tendenz zur Passivität vorhanden; die Tendenz, äußeren Konflikten und Kämpfen eher auszuweichen, als sie aufzunehmen; die Tendenz, alles, was die Seele betrifft, rein in der Seele zu erledigen«. (a.a.O. S. 99) Daraus resultiere nun laut Lukács – ein ganz entscheidendes Formproblem dieses Typus, nämlich »der Verlust der epischen Versinnbildlichung, die Auflösung der Form in ein nebelhaftes und ungestaltetes Nacheinander von Stimmungen und Reflexionen über Stimmungen, der Ersatz der sinnlich gestalteten Fabel durch psychologische Analyse«. (ebd.) Entscheidend dafür ist Lukács‘ Einsicht, dass beim Typ der Desillusionsromantik bereits »das Scheitern utopischer Forderungen gegenüber der Wirklichkeit als gegeben vorausgesetzt« ist. (vgl. Janz 1978. S. 687)
Noch in einem anderen wichtigen Punkt weist die ThR über die analysierten literarischen Texte hinaus und charakterisiert darin zugleich die Moderne. »Die größte Diskrepanz zwischen Idee und Wirklichkeit ist die Zeit: der Ablauf der Zeit als Dauer. Das tiefste und erniedrigendste Sich-nicht-bewähren-Können der Subjektivität besteht weniger in dem vergeblichen Kampfe gegen ideenlose Gebilde und deren menschliche Vertreter, als darin, daß sie dem trägstetigen Ablauf nicht standhalten kann, daß sie von mühsam errungenen Gipfeln langsam aber unaufhaltsam herabgleiten muß, daß dieses unfaßbar, unsichtbar-bewegliche Wesen ihr allen Besitz allmählich entwindet und ihr – unbewußt – fremde Inhalte aufzwingt«. (ThR, S. 107) Lukács bezieht sich hier unmittelbar auf Henri Bergsons Zeitanalysen, auf dessen Bestimmung der modernen Zeit als »durée«, womit Bergson die Projektion der Zeit in den Raum meinte: »wir drücken«, so folgerte er in der Essaysammlung »Zeit und Freiheit«, »die Dauer durch Ausgedehntes aus, und die Sukzession nimmt für uns die Form einer stetigen Linie oder Kette an, deren Teile sich berühren, ohne sich zu durchdringen«. (Bergson 1920 (2.Aufl.). S. 79) Lukács überträgt nun diese Einschätzung der Zeit auf die Formproblematik des Romans. Denn die Zeit wird erst dann konstitutiv, »wenn die Verbundenheit mit der transzendentalen Heimat aufgehört hat«. (a.a.O. S. 108) Sie ist »das depravierende Prinzip« (a.a.O. S. 109), weil der Held in das »ungehemmte() und ununterbrochene() Strömen« (a.a.O. S. 111) nicht mehr eingreifen kann. Sie läuft gleichsam ohne ihn ab, hinter seinem Rücken. Letzte Möglichkeiten, dem Zeitablauf noch einen Sinn abzugewinnen, sind die Faktoren »Hoffnung« und »Erinnerung« oder, wie es weiter heißt, »ein Zusammensehen des Lebens als geronnene Einheit ante rem und sein zusammensehendes Erfassen post rem«. (a.a.O. S. 110)
Im Gegensatz zu den Typen des abstrakten Idealismus und der Desillusionsromantik, deren Protagonisten handelnd nicht mehr auf die Wirklichkeit wirken können, versucht der Erziehungsroman einen Ausgleich von problematischem Individuum und Gesellschaft herzustellen. Goethes »Wilhelm Meister« und Kellers »Grüner Heinrich« sind hier Lukács‘ Bezugspunkte. Die grundsätzliche Problematik dieses Typs liegt dabei im Begriff der »Versöhnung«, die nach der falschen Seite hin – etwa in Freytags »Soll und Haben« als gelungen vorgeführt wird. Denn Versöhnung impliziert notwendigerweise die Akzeptanz der gegebenen »Welt der Konvention (a.a.O. S. 123), desjenigen also, dem Hegel noch durchaus Substantialität zugesprochen hatte. Das Erreichen der eigenen Zeit aber und den Ausgleich mit ihr, nachdem sich das Subjekt »die Hörner« abgestoßen hat, kann Lukács – gegen Hegel, für den damit die Harmonie wiederhergestellt war – nur noch tragisch deuten, nämlich als »Einsicht in die Diskrepanz zwischen Innerlichkeit und Welt«: »das Sichabfinden mit der Gesellschaft im resignierten Aufsichnehmen ihrer Lebensformen und das Insichabschließen und Fürsichbewahren der nur in der Seele realisierbaren Innerlichkeit«. (a.a.O. S. 121)
Am Ende steht auch der Erziehungsroman in derselben europäischen Tradition wie der abstrakte Idealismus und die Desillusionsromantik. Auch er ist nur eine besondere Form der »Epoche der vollendeten Sündhaftigkeit« (Fichte; vgl. a.a.O. S. 137), die den Bruch von Individuum und Gesellschaft, Subjekt und Objekt endgültig gemacht hat. Der wesentliche Mensch steht einer ihn umgebenden Welt der Kultur gegenüber, die ihn unbefriedigt und nach einer anderen, wesensvolleren Wirklichkeit suchen läßt. (vgl. a.a.O. S. 132) Ahnungen dieser anderen Wirklichkeit glaubt Lukács bei Tolstoi und Dostojewski erkennen zu können. Mit ihnen aber ist das Gebiet des Romans, dessen Form an die bürgerliche Gesellschaft gebunden ist, bereits wieder verlassen; die erschaffene – kantisch gesprochen: angesonnene – Totalität des Romans ist in der widergespiegelten Totalität eines neuen Epos, dem eine neue, lebensvolle, – marxistisch formuliert – gesellschaftliche Gesellschaft korrespondiert, aufgehoben.
Siglenverzeichnis Lukács:
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[1] Ich habe für dieses Nachwort auf meine Monographie „Georg Lukács. Stuttgart, Metzler, 1989“ zurückgegriffen, deren Kapitel über den jungen Lukács hier in überarbeiteter, gekürzter und z. T. um aktuelle Literaturhinweise ergänzter Form zum Abdruck kommen.