Die Korrespondenz zwischen Georg Lukács und George Steiner

 

1. George Steiner an Georg Lukács am 25. April 1963

Cambridge, den 25. April 1963.

Cher Maître,

Seit vielen Jahren studiere ich Ihr Werk; die Begegnung mit Lukács war für mich eines der grossen Abenteuren [!] des Geistes. Ihr Gedanke geht wie ein Leitfaden durch vieles meiner eigenen Arbeit. Ich verdanke Ihrem Beispiel den Glauben dass ein Mensch in diesem unmenschlichen Jahrhundert doch das Recht hat sich mit Dichtung und Metaphysik zu befassen, dass man Kritiker und Lehrer sein darf und muss.

Wo ich kann, habe ich über Lukács geschrieben und versucht, Ihren Gedanken zu verbreiten und kommentieren. Vielleicht haben Sie das Eine oder Andere zu Augen bekommen (Encounter, Times Literary Supplement, Kenyon Review, Esprit).[1] Ich erlaube mir einen Versuch über Sie, denn [!] ich in 1960 veröffentlicht hab, bei zu legen. In Encounter dieses Monats steht ein dummer, roher Angriff auf Ihr Werk.[2] Ich publiziere im nächsten Heft eine recht starke Antwort.[3]

Ich habe zwei Bücher geschrieben: Tolstoy or Dostoevsky und The Death of Tragedy[4] (das Zweite ist schon in Deutsch erschienen; das Erste folgt). Ich spreche Deutsch (obzwar ich im Schreiben keine Übung hab‘), Französisch und Italienisch. Ich bin Dozent in Cambridge aber amerikanischer Staatsbürger. Ich entkam mit meinen Ältern [!] aus Frankreich in 1940.

Dieses Jahr habe ich in Cambridge über Lukács vorgelesen. In einer Vorlesungsreihe die sich mit dem Einfluss auf unsere Kultur und Literaturbegriffe von Marx, Freud und Anthropologie befasste, habe ich dem Werk Lukács und seiner Ausstrahlung auf Adorno, Ernst Bloch, Lucien Goldmann zwei Vorlesungen gewidmet. Obzwar die Fakultät hier eine ganz unfreundliche Stellung zum Thema nahm, hatte ich ungefähr 400 Hörer! Was es von Ihrem Werk in Englisch gibt, wird jetzt in Cambridge eifrig gelesen.

Es wäre für mich eine tieffe [!] Freude Sie zu begegnen, und einiges durch zu sprechen. Ich beantrage um ein Visum und möchte vom 2. bis 9. Juli in Budapest sein. Der Besuch bei Ihnen ist Hauptziel meiner Reise. Hätten Sie Zeit mich zu empfangen?

Bitte verzeihen Sie mein schlecht-geschriebenes Deutsch.

Hochachtungsvoll
[in Hand- und Maschinenschrift:] George Steiner
Churchill College
Cambridge
England

 

 

2. Georg Lukács an George Steiner am 1. Mai 1963

den 1. Mai 1963

Lieber Herr Steiner,

Vielen Dank für Ihren sehr interessanten Brief vom 25. April, und für seine Beilagen. Ich danke Ihnen herzlichst für das Interesse, dass Sie an meiner Arbeit nehmen. Ich muss allerdings gestehen, dass die Beilagen zu Ihrem Brief die ersten Schriften waren, die ich von Ihnen gelesen habe.

Ich bin Anfang July [!] ganz sicher in Budapest. Ich bitte Sie nur mich kurz vor Ihrer Ankunft zu benachrichtigen, damit ich mich für eine Zusammenkunft freihalten kann. Ich glaube, es wäre nützlich, wenn ich vorunserer Zusammenkunft etwas von Ihren Schriften kennen würde. Ich glaube unser Gespräch würde dann konkreter und fruchtbarer werden.

Mit nochmaligen [!] Dank für ihre [!] Bemühung um mein Schaffen bin ich mit herzlichen Grüssen Ihr

Georg Lukács

 

 

3. George Steiner an Georg Lukács am 13. Mai 1963

Cambridge den 13. Mai 63

Lieber Professor Lukács,

Meine beiden Bücher sind an Sie unterwegs. Meine Antwort auf Lichtheims Angriff auf ihr Werk steht im nächsten Encounter.

Ich warte weiter auf das Visum aber hoffe dass alles ohne Weiteres gehen wirt[!]. Am 2. July [!] fahre ich von Wien nach Budapest in Begleitung eines Dozenten aus Oxford, Herr Peter Nettl. Nettl arbeitet an einer grossen Rosa Luxemburg Biographie[5] und möchte sich auch bei Ihnen vorstellen. Wir sind eben Beide grosse Verehrer Ihres Werkes und diese Budapest-Reise ist für uns eine Art Pélérinage-Lukács!

Hochachtungsvoll, und mit nochmaliger Entschuldigung für die Fehler im Deutschschreiben, Ihr

[in Hand- und Maschinenschrift:] George Steiner

 

 

4. Georg Lukács an George Steiner am 23. Mai 1963

den 23. 5. 63

Lieber Herr Steiner!

Vielen Dank für Ihren Brief vom 13. Mai, sowie für die beiden Bücher. Ich werde trachten beide bis zu Ihrer Ankunft durchzulesen, damit wir über die in ihnen aufgeworfenen Fragen diskutieren können. Ihren Aufsatz über das Wort[6] habe ich mit grossem Interesse und viel Widerspruch gelesen: auch darüber seinerzeit mündlich.

Ich freue mich, Herrn Dozenten Nettl zu treffen. Vor einigen Jahrzehnten habe ich mich viel mit Rosa Luxemburg beschäftigt, sodass [im Nachhinein eingefügt: wir] sicher Berührungspunkte finden werden.

Anfang Juli bin ich sicher in Budapest. Rufen Sie mich an, damit wir unsere Zusammenkunft dann genau verabreden können.

Mit herzlichen Grüssen Ihr
Georg Lukács

 

 

5. George Steiner an Georg Lukács am 29. Mai 1963

der 29. Mai, 1963

Lieber, verehrter Professor Lukács,

Soeben höre ich von Professor Vogt in Oslo über den grossen persönlichen Verlust den Sie vor Kurzem erlebt haben.[7] Darf ich, hochachtungsvoll, Mein Mitgefühl und tiefes Bedauern ausdrücken.

Hiermit die kleine riposte in Encounter.[8]

Ich hoffe das[s] inzwischen meine Bücher bei Ihnen eingetroffen sind, und nicht gar zu enttäuschend wirken!

Ihr
[in Handschrift:] George Steiner

 

 

6. George Steiner an Georg Lukács am 17. August 1963

Cambridge, den 17. August 1963

Lieber, verehrter Professor Lukács,

Die BBC ist entzückt dass Sie bereit wären mit mir ein Dialogue über Co-Existenz in der Ideologie und Kultur auf Tonband zu setzen. Wenn alles sich richtig gestaltet, hätte ich die grosse Freude sie wieder in Winter zu besuchen.

Als ich nach Cambridge zurückkam, fand ich eine Aufforderung einen Versuch über Sie zu schreiben, als Einleitung zur amerikanischen Ausgabe des Contemporary Realism.[9] Ich habe angenommen und warte jetzt auf die Aesthetik, die ich auch für das Times Literary Supplement besprechen werde.[10]

Wie Sie wahrscheinlich schon gesehen haben, hat Lichtheim mich in blödester und brutalster Art im neuen Encounter angegriffen,[11] ohne sog[a]r zu versuchen die Sache auf konkreten oder aufrichtigen [!] Niveau zu behandeln.

Ich bedenke []! fortwä[!]rend der schönen, tief anregenden Stunden, die Sie uns geschenkt haben. In Ihrem Zimmer macht einem der Gedanke warm!

Ihr
[in Handschrift:] George Steiner

 

 

7. Georg Lukács an George Steiner am 31. August 1963

den 31. August 63

Lieber Herr Steiner!

Danke für Ihren Brief vom 15. August. Da ich im ganzen Winter voraussichtlich in Budapest sein werde, kann das Gespräch für die BBC wann immer arrangiert werden. Ich bitte Sie nur mich rechtzeitig von dem Zeitpunkt Ihrer Ankunft zu verständigen.

Ich nehme gern zu Kenntnis, dass Sie die Aesthetik besprechen sollen. Ich schreibe gleichzeitig an den Verlag Luchterhand, dass er Ihnen ein Exemplar schicke.

Was Herrn Lichtheim betrifft, so scheint mir, dass es für jeden ernsthaften Menschen schmeichelhafter ist, ihn zum Gegner zu haben und nicht unter seine Anhänger zu zählen.

Mit herzlichen Grüssen ihr ergebener
Georg Lukács

 

 

8. George Steiner an Georg Lukács am 12. November 1963

Cambridge, der 12. November 1963

Lieber verehrter Professor Lukács!

Ich habe die Möglichkeit einer Tonbandgesprächs sorgfältig mit der BBC besprochen. Da uns, nach jetzigen Plänen, nur 25 oder 30 Minuten zugeschrieben wären, scheint mir die Sache wirklich nicht der Anstrengung, der Kosten und der grossen Mühe wert. Ich könnte nur auf einige Tage kommen und wir hätten kaum Zeit die Sprachschwierigkeit wirklich zu lösen. Ich kann in diesem Winter viel mehr für Ihr Werk schaffen wenn ich die Aesthetik zu rezensieren kriege in Times Literary (ich warte noch immer auf ein Exemplar). Und wie ich Ihnen schon berichtete, habe ich gerade eine Einleitung nach New York geschickt für die erste amerikanische Sammlung von Lukács Aufsätzen. Eine sprachlich-unklare Besprechung von etwa einer halben Stunde am Radio würde kaum einen ernsten Blick in Ihre Gedankensart erlauben.

Ich hoffe mit meiner Frau zu einer besseren Jahreszeit zu kommen, um die Sache rühiger [!] durchzuarbeiten. Und dann gäbe uns die BBC wahrscheinlich mehr Raum.
Haben Sie schon den wichtigen dritten Band von Deutscher’s Trotsky Biographie erhalten? Soll ich Oxford beantragen Ihnen den zu schicken?

Ihr
[in Handschrift:] George Steiner

 

9. Georg Lukács an George Steiner am 20. November 1963

den 20. 11. 63

Sehr geehrter Herr Steiner!

Vielen Dank für Ihren Brief vom 12. November. Ich habe über das BBC-Gespräch mit Frau Kallin korrespondiert und ihr die sprachlichen Schwierigkeiten offen aufgedeckt. Ich bin also mit der von Ihnen vorgeschlagenen negativen Lösung ebenfalls einverstanden.

Was Ihre Rezension in der Times betrifft, so habe ich darüber schon lange den Verlag geschrieben. Es ist also das beste, wenn Sie sich jetzt, mit Berufung auf mich, an Dr. Frank Benseler, den Sie ja kennen, wenden (Neuwied am Rhein, Heddersdorferstr. 31.). Was ist diese amerikanische Sache, zu der Sie ein Vorwort schreiben? Ich höre das erstemal [!] davon. Ich wäre Ihnen sehr dankbar um eine genaue Auskunft.

Mit herzlichen Grüssen Ihr ergebener
Georg Lukács

 

 

10. George Steiner an Georg Lukács am 2. Dezember 1963

Cambridge, den 2. 12. 63

Lieber geehrter Professor Lukács!

Die zwei grossen Bände der Aesthetik liegen jetzt auf meinem Tisch. Die Times erlaubt mir drei oder vier Monate die Rezension vorzubereiten. Ich bin überwältigt wenn ich an den Mut, an die Arbeit, an die Seelenskraft [!] denke welche diese Werk zustande gebracht hat.

Bei Harper & Rowe [!] (ein gutes Haus) erscheint eine amerikanische Ausgabe Ihres Contemporary Realism, und ich schreibe dazu ein Vorwort – welches eine kleine Einleitung in Ihr ganzes Schaffen sein soll.

Dies sind traurige Tage. Wie recht die Griechen hatten! Wenn ein Mensch zu jung, zu begabt, zu mächtig, zu wohlhabend ist, kommt der Blitz und schleudert ihn zu Boden.[12]

Mit herzlichen Grüssen,
Ihr
[in Handschrift:] George Steiner

 

 

11. Georg Lukács an George Steiner am 28. Dezember 1963.

den 21. 12. 63

Lieber Herr Steiner!

Vielen Dank für Ihren Brief vom 2. Dezember. Ich freue mich, dass die Aesthetik jetzt schon bei Ihnen angelangt ist. Aus ist es angenehm zu hören, dass das kleine Buch über Realismus auch in Amerika herauskommt.

Ich teile Ihre Stimmung vollkommen, sowohl über die persönliche Tragik, wie über Ihre [!] eventuellen Folgen. Hoffen wir, dass auch in diesem Fall der „Weltgeist“ seine Macht zeigen wird.

Mit herzlichen Grüssen Ihr
Georg Lukács

 

 

12. Georg Lukács an George Steiner am 28. Dezember 1964.

Budapest, den 28. 12. 64

Lieber Herr Steiner!

Vielen Dank für Ihren liebenswürdigen Weihnachtsgruss. Ich habe sowohl Ihre Besprechung der Aesthetik wie das Vorwort zur amerikanischen Ausgabe gelesen. Ich danke Ihnen herzlichst für beide. Was die Besprechung der Aesthetik betrifft, so bringt sie so viel, wie heute und insbesondere in der Times gesagt werden kann. Die wirkliche Diskussion der Prinzipien ist naturgemäss eine Zukunftsfrage. Ein so ausführliches Buch benötigt eine Inkubationszeit von einigen Jahren.

Mit allen guten Wünschen und herzlichen Grüssen
Ihr
Georg Lukács

 

[1] Nicht alle Hinweise des Briefes konnten entschlüsselt werden, doch der Encounter-Artikel ist vielleicht der Essay Marxism and the Literary Critic. „… difficulties encountered when writing the truth…”, Encounter (London), November 1958, 33–43., die The Kenyon Review-Verföffentlichung mit Sicherheit Steiners Georg Lukács and his Devil’s Pact, The Kenyon Review (Gambier, Ohio), Winter 1960 (Vol. XXII. No. 1.), 1– 18.

[2] George Lichtheim: An Intellectual Disaster, Encounter (London), May 1963, 74–80.

[3] In Respect of Georg Lukács, Encounter (London), June 1963, 92–93. – Steiner verwickelte sich, anlässlich seiner Rezension über Lukács’ Gelebtes Denken, später, im Jahr 1982, auch ein zweitel Mal in eine Diskussion.

[4] Tolstoy or Dostoevsky: An Essay in Contrast, Faber and Faber, 1959; The Death of Tragedy, Faber and Faber, 1961.

[5] Peter Nettl: Rosa Luxemburg, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1969.

[6]  Vermutlich geht es um Steiners Der Rückzug vom Wort, Merkur (Stuttgart), Juni 1962 (XVI. Jg. 6. Heft), 501–523.

[7] Am 28. April 1963 starb Gertrud Bortstieber, Lukács’ Frau.

[8] S. Fußnote 3..

[9] Georg Lukács: Realism in Our Time. Literature and the Class Struggle, translated from the German by John and Necke Mander, preface by George Steiner, Harper and Row, New York and Evanston 1964.

[10] George Steiner: An Aesthetic Manifesto, Times Literary Supplement (London), June 25 1984, 541–542.

[11] In seiner Replik (Lichtheim Replies) antwortete George Lichtheim nicht bloss auf Steiners In Respect of Georg Lukács, sondern auch auf die Beiträge vieler, die – Alasdair MacIntyre, Roy Pascal, John Cumming, Geoffrey Carnall – in der Ausgustnummer von Encounter unter dem Titel The Case of Georg Lukács. On George Lichheim’s Controversial Article auf seinen Aufsatz, bzw. auf die Diskussion mit Steiner reagiert haben; auf Steiner kommt er im letzten Absatz zu sprechen – Encounter (London), August 1963, 91–96.

[12] Es geht aller Wahrscheinlichkeit nach um das Attentat auf John F. Kennedy am 22. November 1963.