Die zwei Epochen des bürgerlichen Materialismus[1]
Zum hundertsten Geburtstag Moleschotts
Am Eingang seines Brumaire zitiert Marx die Worte Hegels: „dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce“. Dieser für die Geschichte der politisch-sozialen Revolution geprägte Ausdruck scheint aber auch für die Geschichte gedanklicher[2] Revolutionen zu stimmen. Denn während der – bürgerliche – Materialismus des 18. Jahrhundert[s], der Materialismus von Holbach und Helvetius im wahren Sinne des Wortes eine revolutionäre Tat war, ist der „materialistische“ Rummel des 19. Jahrhundert[s] (Büchner, Vogt, Moleschott usw.) eine Lehre Wiederholung dieser großen Bewegung, die leere Geste der wildgewordenen Spießer gewesen. Dies zeigt sich bereits bei der ersten, oberflächlichen Betrachtung ihrer Lehre: es ist in ihr kein einziger wesentlicher Satz enthalten, den die Materialisten des vergangenen Jahrhunderts nicht bereits ausgesprochen hätten. Nur dass sich inzwischen die größte Entwicklung auf dem Gebiete des menschlichen Denkens vollzogen hat, die Entdeckung der dialektischen Methode und ihr Umstülpen in eine revolutionär-materialistische Dialektik: eine Entwicklung, von der dieser aufgewärmte Materialismus überhaupt nicht oder feindselig-verständnislos Kenntnis nahm. Darum wendete er sich auch nicht mehr an die damals schon progressivste Schicht der zeitgenössischen Gesellschaftsentwicklung: an das Proletariat. Der Materialismus des 18. Jahrhundert[s] war die Denkform der – damals – revolutionären bürgerlichen Schichten. Seine Erneuerung im 19. Jahrhundert konnte nur an das – bereits reaktionär gewordene – Bürgertum anknüpfen.
Dies ist kein Zufall. Denn bei der geschichtlichen Aktualität, bei der gesellschaftlichen Wirksamkeit einer Lehre kommt es weniger auf den abstrakten Wahrheitsgehalt oder auf die Originalität ihrer Aussagen über die „letzten Dinge“ an, als darauf, inwiefern sie den Menschen die Grundlagen ihres gesellschaftlich-geschichtlichen Daseins zu erklären vermag, inwiefern und in welcher Richtung diese Erklärung auf ihr gesellschaftliches Handeln einwirkt. Der sogenannte Wahrheitsgehalt der Lehre, die Aussagen über Gott, Natur usw. können bei vollständiger Gleichheit des Inhaltes auf verschiedenen Stufen der Entwicklung völlig verschiedene Funktionen ausüben. Dieselbe Lehre kann das eine Mal eine revolutionäre, das andere Mal eine reaktionäre Wirksamkeit haben.
So war auch das Schicksal der Erneuerung des Materialismus im 19. Jahrhundert. Die Abwendung von Hegel und dem deutschen Idealismus, die Feuerbach in der Richtung auf dem Materialismus vollzog, war ein Scheideweg für die Gedankenentwicklung der ganzen Zeit. Es galt entweder mit Hilfe dieses Materialismus die Errungenschaften der klassischen deutschen Philosophie, die dialektische Methode als Erkenntnismittel der Geschichte zur wirklichen, lebendigen und wirksamen Erkenntnis der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung aufzubauen (was Marx und Engels getan haben), oder bei diesem bloßen Materialismus stehen zu bleiben, und damit auf die Erkenntnis des gesellschaftlich-geschichtlichen Daseins des Menschen zu verzichten. Diesen Weg ist der bürgerliche Materialismus, der Materialismus der Büchner, Moleschott usw. gegangen.
Und damit war ihr gedankliches Scheitern an den Problemen der Gesellschaft und der Geschichte entschieden. Plechanow zeigt in seinem ausgezeichneten Buch über die Geschichte des Materialismus genau die Schranken, die das Denken der Holbach und Helvetius nicht überschreiten konnte: dass sie unfähig waren, eine dynamische Auffassung der Geschichte zu erlangen, unfähig, die Beziehung des menschlichen Handelns zum gesellschaftlichen Geschehen zu begreifen. Sie haben entweder die Gesellschaft als reines Produkt des menschlichen Denkens, der „öffentlichen Meinung“ usw., oder den Menschen als Produkt des sozialen Milieus aufgefasst. Und waren unfähig, die dialektische Einheit bei der Beobachtung zu vollziehen, dass die Menschen war ihre Geschichte selbst machen, dass aber in ihrem Handeln doch objektive, gesellschaftliche Triebkräfte der Entwicklung wirksam sind.
Dennoch war diese Lehre im 18. Jahrhundert eine revolutionäre Tat. Galt es doch damals, die feudalen Schranken, die der bürgerlich-kapitalistischen Produktionsordnung im Wege standen, zu beseitigen. Feudale Produktionsformen drücken sich aber gedanklich stets in religiösen Formen aus. D. h. die Art der feudalen Anhängigkeit zwischen Lehnsherren und Hörigen, zwischen Zunftmeister und Gesellen, da sie eine konkrete und unmittelbare Abhängigkeit des einen Menschen vom anderen Menschen, und nicht eine abstrakt verdinglichte, vermittelte Beziehung, wie im Kapitalismus ist, spiegelt sich in den Köpfen der Menschen als eine gottgewollte Ordnung, als die Gottesgnadenschaft jeder Autorität, als die religiöse Pflicht des Gehorsams und der Unterwerfung. Dem real-ökonomischen Zersetzungsprozess der feudalen Wirtschaftsformen musste deshalb eine gedankliche Zersetzung dieser religiösen Formen entsprechen. Wenn diese Formen auch infolge der Auflösung der feudalen Produktionsweise, des Überganges zum kapitalistischen Pächtersystem, zur Manufaktur usw. immer inhaltsleerer und abstrakter geworden sind (man denke nur an die Entwicklung von der mittelalterlichen Religiosität zum Theismus und Deismus), so musste ihnen doch die Gedankenform der neuen Wirtschaftsordnung klar und direkt gegenübergestellt werden, um die fortgeschrittenere Produktionsordnung auch auf ideologischem Gebiete zum Siege zu führen. Diese Gedankenform ist aber die innere Gesetzmäßigkeit alles Geschehens. Die Lehre, dass sämtliche Lebensäußerungen des Menschen von innewohnenden eigenen und ewigen Gesetzen, ohne Gott und göttliche Autorität, aber auch ohne eingreifen menschlichen Willkür vernünftig geregelt werden; dass also diese Entwicklung – die Ökonomie das Kapitalismus – nur sich selbst überlassen werden muss, nur vonseiten des Feudalismus nicht unvernünftig gehemmt werden darf, um die der Vernunft und dem Glücke aller entsprechende Weltordnung herbeizuführen: den Kapitalismus.
Aber der Kapitalismus beruht wesentlich auf einem Fatalismus der Menschen den gesellschaftlichen Kräften gegenüber, „unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren“: er drückt sich in einem „Naturgesetz, das auf der Bewusstlosigkeit der Beteiligten beruht“, aus (Engels). Darum erhalten diese Gesetze die Form von Naturgesetzen und nicht von Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung. „Der bürgerlicher Materialismus“, sagt Engels, „stellte nur statt des christlichen Gottes die Natur dem Menschen gegenüber“. Diese Auffassung also, die revolutionär wirken musste, solange und soweit es die feudalen Denkformen zu beseitigen galt, musste in dem Augenblick reaktionär werden, als sich die Menschheit im Denken des Proletariats ihres eigenen gesellschaftlichen Daseins bewusst zu werden begann. Denn die ewige Naturgesetzlichkeit des gesamten Daseins schafft einerseits den überflüssig gewordenen christlichen Gott und das ihm zugeordnete Autoritätsprinzip ab. Andererseits setzt sie jedoch an die Stelle der alten gottgewollten Ordnung eine neue – ebenso ewige – Ordnung: die gesetz- und vernunftgemäße Ordnung des Kapitalismus.
Da der naturwissenschaftliche Materialismus eine ideologische Form der kapitalistischen Entwicklung ist (vergleiche die geistvollen Bemerkungen von Marx über die Beziehung des Mechanismus von Descartes und Bacon zur Manufakturperiode, Kapital I., 354.), muss er an demselben Punkt scheitern, an dem die direkteste ideologische Form der Bourgeoisie, die klassische Ökonomie gescheitert ist, an dem Problem der Geschichte. Er kann das geschichtliche Entstehen der kapitalistischen Gesellschaft mit allen ihren ideologischen Formen nicht erklären – weil er die notwendige Folge der Erkenntnis ihres geschichtlichen Entstandenseins: ihren notwendigen geschichtlichen Untergang nicht ziehen will. Er wird damit im Moment, wo die Entwicklung über den Kapitalismus hinauszugehen beginnt, genauso ein ideologisches Hindernis des Geschichtsprozesses, wie der von ihm überwundene Gottesglaube im 18. Jahrhundert ein Hindernis der Entwicklung gewesen ist. Die geschichtliche Komik, die in der Erneuerung des Materialismus im 19. Jahrhundert zum Ausdruck kommt, liegt also darin, dass er sämtliche revolutionäre Gebärden des wirklich revolutionären Materialismus des 18. Jahrhunderts übertreibend gebraucht, wo doch seine Richtung und Wirksamkeit eine gänzlich reaktionäre geworden ist.
[1] Die Rote Fahne für Brandenburg und Lausitz, 28. 8. 1922 (Jg. II., Nr. 196.), S. 3. – Die Berliner Rote Fahne wurde am 8. 8. 1922. verboten, sie erschien erst am 29. 8. wieder; wie zu solchen Anlässen üblich, sprang für sie die Ausgabe für Brandenburg und Lausitz ein. – Der Hrsg.
[2] Im Original versehentlich: politischer. – Der Hrsg.