Dostojewski: Novellen[1],[2]

 

Die drei Novellen des Bandes sind gut gewählt. Man gewinnt aus ihnen ein Bild vom Wesen der Kunst Dostojewskis. In allen die ihm eigentümliche Form: eine Art Selbstbeichte, im Traum eines lächerlichen Menschen in fantastische Traumgestalt gekleidet, im Weihnachtsabend bei Christus ebenfalls in der Form eines Traumes des am Weihnachtsabend erfrierenden Proletarierkindes. Gesellschaftlich ist das dritte, weitaus größte Stück des Bandes Eine böse Geschichte das wertvollste; eine gallig-bittere und doch auch humoristische Verulkung des „liberalen Generals“, einer Gesellschaftsfigur, wie sich im Russland Dostojewskis und anderswo und heute tausendmal wiederfindet. Der Herr, Mitglied der Unterdrückerklasse, der sich aus Konjunkturrücksichten und um sich selber „edel“ vorzukommen, seinen Untergebenen gegenüber „liberal“ posiert, um schließlich bei der ersten Gelegenheit das Wesen seines wahren Ichs hervorzukehren. Das alles spielt in einem von Alkohol beduselten Generalschädel, in Monologen und Selbstberichten im Ramen einer drolligen russischen Hochzeit. – Die beiden Abhandlungen der Genossen Lunatscharski und Wittfogel ergänzen sich. Während Lunatscharski mehr auf die künstlerisch-ästhetische Würdigung Dostojewskis eingeht, versucht Wittfogel in einer kurzen Skizze die soziale Bedeutung des Dichters zu analysieren. Zweifellos gehört Dostojewski mit zu den Allergrößten der Weltliteratur. Mit Recht wird von Lunatscharski sein Drang nach innerer Wahrheit, sein Verständnis für die geheimsten Tiefen des Menschen, sein maßloser Dämonismus hervorgehoben, das besondere Schwelgen im Leiden, in Erniedrigungen. Das Wesen der Frage ist, warum war Dostojewski, wie so viele der großen Russen, ein Prediger des Leidens? Warum sieht er keinen anderen Ausweg aus den Ungerechtigkeiten der – kapitalistisch-feudalen – Gesellschaft, als ein reformiertes Christentum, eine „neue Kirche der Unterdrückten“ und Leidenden? Und warum ist er trotz seiner anfänglichen Sympathien für eine zarenfeindliche Bewegung der Unterdrückten, die ihm Verbannung, Leiden und Armut eintrug, letzten Endes sozial reaktionär denkend geworden?

Dostojewski ist neben seinem klaren Blick für manche Ungerechtigkeiten, seiner glühenden Liebe zu den Leidenden und Gequälten letzten Endes Individualist geblieben. Er konnte aus dem engen Kreis des vereinzelten Ichs nicht heraustreten. Diesen Kreis hat er wie kein zweiter vertieft, zerpflückt, aufgehellt – blieb aber stets an dem Einzelmenschen hängen, ohne die sozialen Wurzeln seines Seins und seines Bewusstseins zu untersuchen. Wohl haben seine Personen auch einen angedeutete gesellschaftliche Klassenstellung, sie dient aber bei ihm höchstens als Zugabe oder Ausgangspunkt, nicht als Motivierung und Grundlage. Und eben deshalb kann Dostojewski trotz seiner Gedanken über notwendiges Leid und Unterwürfigkeit nicht mit „reaktionär“ abgetan werden. Seine Gestalten denken und fühlen trotz der gegebenen gesellschaftlichen Seins nicht dieser, sondern oft einer erträumten, herbeigewünschten Zukunftsgesellschaft, einer „gerechten Gesellschaft“ entsprechend. Sie streifen in ihrem Seelenleben oft alles Gesellschaftliche ab (insofern das möglich), um sich umso gründlicher und tiefer in ihren individuellen Problemen ausleben und vertiefen zu können. Diese Probleme fußen naturnotwendig auch in der – kapitalistischen – Gesellschaft, sind aber so „abstrakt-menschlich” gestellt, dass sie dem tiefsten Inhalt nach den „ewigen” Problemen nahekommen.

Wittfogel versucht die soziale Grundlage der Dostojewskischen Dichtung zu skizzieren. Wie Lunatscharski, sucht auch er psychologisch nachzuweisen, dass Dostojewski trotz seines Christenglaubens, oder eben deshalb, in den Bolschewiken den „faktisch rechtmäßigen Christ“ erkennen würde. Das mag dahingestellt bleiben, ist aber schließlich auch nicht das Wesentlichste. Es ist nicht notwendig, dass Proletarier, die Dostojewski lesen, in ihm einen „wahren Propheten“ der Arbeitersache, einen Vorläufer der Revolution erblicken. Das war er nicht. Sie müssen aber in ihm unbedingt den nach innerer Wahrheit ringenden Titanen verstehen lernen, der zwar individuell abgegrenzt und um die sozialen Wurzeln oft unbekümmert, aber stets sein Innerstes gab, mit einer Aufrichtigkeit und Hingebung, wie kaum ein Zweiter. Der deshalb als „Vorläufer“ des nach Innen lebenden Menschen, der bereits sozial und ökonomisch befreit wäre, die Seele dieser Zukunftsmenschen darzustellen versuchte. Dostojewskis Individualprobleme sind menschliche Probleme, die aber – als seelische Überbleibsel der Klassengesellschaft – erst in der Zukunftsgesellschaft mit der Tiefe und Reinheit ausgetragen werden können, wie er es versuchte.

 
[1] Mit Vorwort von A. Lunatscharski und Anhang von K. A. Wittfogel – Viva 1923.

[2] Die Rote Fahne, Berlin 4. 3. 1923, Feuilleton, S. 1. – Der Artikel ist, im Gegensatz zu Lukács’ anderen, in der Roten Fahne erschienenen kleineren  literarischen Aufsätzen, nur mit einem (Georg.) signiert. – Der Hrsg.