Eugen Landler

Georg Lukacs: Lenin (Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken)[1]

 

Die Schrift Lukács’ ist der erste wissenschaftliche Versuch, den Leninismus mit der Methode der materialistischen Dialektik zu beleuchten, zu erklären und auf diese Weise sein Geheimnis aufdeckend zum Gemeingut der umwälzenden Praxis des Proletariats zu machen. Aber Lenin selbst war nicht nur ein Meister der materialistischen Dialektik, sondern auch ihr Weiterführer und sogar durch eine ganze revolutionäre Periode ihre Verkörperung in Theorie und Praxis. Wie ist es also möglich, den Zusammenhang und noch mehr die Identität seiner Theorie und Praxis mit Hilfe dieser Methode zu untersuchen?

Die marxistische Dialektik ist schulbuchmäßig nicht zu erklären. Nach Mehring ist es streng genommen überhaupt nicht möglich, diese Methode losgelöst von einem konkreten Stoff zu behandeln. Dieser konkrete Stoff kann aber auch keineswegs aus der Luft gegriffen werden. Die marxistische Methode kann nur in der Praxis der proletarischen Revolution und in einer Theorie, die ein immanenter wirklicher Bestandteil dieser revolutionären Praxis ist, konkret angewendet werden. So deutete Lenin selbst die richtige Methode der Erklärung der Dialektik, indem er als eine der wichtigen kommunistischen Aufgaben bezeichnete: ein systematisches, von materialistischen Gesichtspunkten geleitetes Studium der Dialektik Hegels zu organisieren, jener Dialektik, die Marx konkret sowohl in seinem Kapital, als auch in seinen historischen und politischen Schriften mit so viel erfolgt angewendet hat! Ebenso wie Lenin das von materialistischen Gesichtspunkten geleitete Studium der Hegelschen Dialektik nicht anders denken konnte, wie sie Marx in deinem Kapital und in seinen historischen und politischen Schriften konkret angewendet hat, so ist heute die methodische Erklärung der marxistischen Dialektik anders, als durch die konkrete Anwendung der revolutionären Theorie und Praxis Lenins nicht möglich. Und auch der Leninismus kann nicht anders verstanden werden, als mit Hilfe der marxistischen materialistischen Dialektik. Dies tut Lukács, und mit dieser Methode erreicht er, dass diese einer Lenin-Interpretation gewidmete Schrift, beabsichtigt oder unbeabsichtigt, zum einzig möglichen erfolgreichen Versuch wird, die materialistisch-dialektische Denkweise zu erklären und zu lehren.

Lukács gliedert den konkreten Stoff des Lebenswerkes Lenins in Kapitel; die Titel der einzelnen Kapitel lauten: Die Aktualität[2] der Revolution. Das Proletariat als führende Klasse. Die führende Partei des Proletariats. Der Imperialismus: Weltkrieg und Bürgerkrieg. Der Staat als Waffe. Revolutionäre Realpolitik.

Lukács untersucht ausschließlich an der Hand eines konkreten Materials die Tiefen des Leninschen dialektischen, konkreten Denkens, und zeigt den Zusammenhang zwischen den politischen Taten und dem dialektischen Denken Lenins auf. Angefangen vom Problem der notwendigen Entwicklung des russischen Kapitalismus durch das Problem des Imperialismus bis zum Staatskapitalismus zeigt er immer an der Hand des konkreten Stoffes das immer Orthodox-marxistische, Konkrete, also nie Doktrinäre der Leninschen Theorie auf, und indem er durch 70 Seiten den Beweis führt, dass der Leninismus eine bisher unerreichte Stufe des konkreten, nicht schematischen, nicht mechanischen, rein auf revolutionäre Praxis gerichteten Denken bedeutet, lehrt er zugleich auf Grund des Leninismus die materialistische Dialektik.

Der beschränkte Umfang unseres Blattes erlaubt es nicht, dass wir die Methode des Buches ausführlich behandeln, und darum können wir nur ganz kurz seinen Gedankengang skizzieren. Der Leninismus bedeutet in einer Periode des ständigen objektiven Aktualität der Revolution („objektive Aktualität“, nicht im vulgärmarxistischen Sinne) einen ständigen Kampf gegen die Allgemeinheiten. [(]Das Mistbeet und die „historische“ Wurzel sowohl des rechten Opportunismus, als auch der linken leeren Gemeinplätze sind die Allgemeinheiten.) In der Entwicklung des Kapitalismus wird die Frage des Imperialismus notwendig auf die Tagesordnung gesetzt; der Imperialismus gestattet nicht, dass die proletarische Revolution ihre Aktualität verliere. So wird im Laufe des historischen Prozesses das Allgemeine: das Endziel, die nebelhafte „soziale Revolution“ zur klaren revolutionären Konkretheit des Tages. In erster Linie dadurch, dass wir den ganzen historischen Prozess nicht von seiner allgemeinen (also nicht existierenden), sondern von seiner konkreten Seite, also entweder aus dem Gesichtspunkte der Bourgeoisie oder des Proletariats betrachten. (Die materialistische Dialektik betrachtet alles aus dem Gesichtspunkte des Klassenkampfes.) In zweiter Linie dadurch, dass wir in der tiefgehenden Analyse der neuen historischen Phase, neben den mit naturwissenschaftlicher Genauigkeit feststellbaren Veränderungen des ökonomischen Unterbaues keinen einzigen der nicht oberflächliche Zusammenhänge vernachlässigen. (Klasse, Staat, Nation.) In dritter Linie dadurch, dass wir uns mit der Konstatierung der inneren Widersprüche nicht begnügen, sondern weitergehen, und indem wir uns nicht auf die Gegenwart beschränken, und dennoch an die gegenwärtige Realität anknüpfen, indem wir auch die Vergangenheit in Betracht ziehen, und uns doch nicht im allgemeinen Wiederkäuen der Vergangenheit verlieren, aus der Wurzel der Widersprüche ihren immer werdenden, immer neuen, also immer konkreten Kern für den Klassenkampf herausschälen. (Rolle und Wesen der revolutionären Partei; Bürgerkrieg; der Arbeiterrat als Grundlage des proletarischen Staates als Übergangsperiode; Staatskapitalismus als Wirtschaftsordnung der Übergangsperiode usw.) Und endlich dadurch dass wir gemäß diesen aus den allgemeinen Zusammenhängen folgenden Konkretheiten die Revolution organisieren, nicht nur, indem wir organisatorische Formen finden, sondern auch indem wir an alle Tagesfragen, die durch die imperialistische Periode aufgeworfen wurden, den revolutionären Interessen des Proletariats entsprechend anknüpfen.

In diesem Rahmen versucht das Buch von Schritt zu Schritt den Zusammenhang der Theorie und Praxis Lenins aufzuzeigen, und obwohl, wie der Verfasser im Vorwort selbst bemerkt, alle Probleme, die Lenins Lebenswerk erfüllten, infolge des geringen Umfanges des Buches nicht erschöpfend behandelt werden konnten, gelingt dies selbst in diesem beschränktem Umfange im vollen Maße. Die Förderung der Vertiefung in den Leninismus ist eine der wichtigsten kommunistischen Aufgaben, und da die Schrift Lukács‘ dieses Ziel im Geiste Lenins verfolgt, ist sie eine der nützlichsten Werke der neuesten kommunistischen Literatur.

 

[1] Die Rote Fahne, Wien 4. Juli 1924. (7. Jahrgang, Nr. 1567), 2. o

[2] In der RF: Aktivität, offensichtlich ein Druckfehler. – Der Hrsg.