[Ladislaus Rudas an das Präsidium der Kommunistischen Internationale am 12. Juni 1924. ][1]

 

Vertraulich

An das Präsidium der Kommunistischen Internationale

Moskau

Werte Genossen!

Ich, einer der exponiertesten Führer der ungarischen Opposition, wurde von dieser delegiert in die geplante ungarische Konferenz.[2] Ich teile Ihnen mit, dass ich aus dieser Fraktion ausgetreten bin, und deshalb als ihr Vertreter an der Konferenz nicht teilnehmen will.

Zu diesem Schritt haben mich ernste Differenzen mit der hiesigen[3] Leitung der Fraktion gezwungen. Diese sind folgende:

1. In der russischen Parteidiskussion stellte sich der Moskauer Teil dieser Fraktion, nur weil sie auch Opposition ist, auf den Standpunkt der russischen Opposition. Sie stimmten auch für diese, und sahen es nicht gern, dass ich, und einige wenige mit mir, für das ZK stimmten.

2. Der ungarische kommunistische Klub in Moskau nahm Thesen an betreffs der Verhältnisses der Emigration zur ungarischen kommunistischen Bewegung. Die Thesen wurden uns zugeschickt zwecks Beratung, wurden aber hier schroff zurückgewiesen, nur weil sie die Thesen der anderen Fraktion waren. Ihr sachlicher Inhalt kam dabei kaum in Betracht. Ich sah dagegen in ihnen nicht nur eine Grundlage zur Einigung, sondern ich sah noch mehr, dass die Differenzen im Laufe der Zeit verschwunden sind.

3. Als aus der Lage in Ungarn und aus den durch die KI eingesetzten Verhandlungen klar wurde, dass die Situation für eine volle und vorbehaltlose Liquidierung der Fraktionskämpfe reif ist, stellte ich mich auf den Boden der unbedingten und vorbehaltlosen Einigung. Die hiesige Leitung der Fraktion betonte immer wieder scharf, das sie nur – unter dem Druck der KI – einen Scheinfrieden schließen wolle, um dann die Fraktionskämpfe bei der ersten Gelegenheit auf der alten Grundlage fortzusetzen. Zu diesem Zweck wollte sie sich schon jetzt mit den – auch nach ihrer Überzeugung – nicht-kommunistischen Elementen verbünden.

Dagegen, dass man nicht die Zukunft und das Interesse der kommunistischen Bewegung in Ungarn, sondern einzig und allein Fraktionsgesichtspunkte, die jeden Sinn verloren haben, in Betracht zieht; dass man sich mit offensichtlich nicht-bolschewistischen Elementen verbündet, wo doch gerade erwünscht wäre, diesen Elementen allen Einfluss zu rauben – protestierte ich. Ich habe – mit Hilfe einiger Genossen, die mit mir der gleichen Überzeugung sind [–], dieses Bündnis vereitelt, und hatte schon vor meinem Austritt aus der Fraktion, wo ich nur Gelegenheit hatte – schriftlich und mündlich – meine rücksichtslose und ehrliche Friedensbestrebung im Interesse der Partei öffentlich bekannt gemacht.

4. Die Fraktion wird zur Konferenz Thesen vorlegen, die teilweise von Georg Lukács, dem idealistischen Philosophen verfasst wurden. Ich, der gegen die Philosophie des Gen. Lukács in der nächsten Nummer des „Westnik Komm. Akademie“ [!] mit einem Artikel, dem andere folgen werden, scharf Stellung nehme,[4] nahm natürlich gegen ihn als Politiker Stellung, weil in einer idealistischen Philosophie nicht eine kommunistische Politik wurzeln kann.[5]

Diese hiesige Fraktion identifizierte sich mit Ausnahme des Gen. Hevesi und mir mit der Philosophie und Politik des Gen. Lukács. Sie forderten von mir im Namen der „Fraktionsdisziplin“, meinen der „W. K. A.“ zur Veröffentlichung übergebenen Artikel zurückzuziehen, und meine kommunistische Überzeugung zu unterdrücken.

Dazu war ich, als Kommunist, nicht geneigt. Aus allen diesen Gründen trat ich aus der Fraktion aus.

Wie ersichtlich, entstanden alle Differenzen in der wichtigsten prinzipiellen Fragen. Ich kann aber keine Minute lang mit Genossen weiter in einer Fraktion sitzen, deren Weg, nach meiner Überzeugung, von der bolschewistischen Linie, so wie ich diese verstehe, abweicht.

Es wäre nicht am Platz, diese Fraktion an der geplanten ungarische Konferenz vertreten zu wollen, trotzdem ich die Meinung der Gen. Landler und Hiros[s]ik in allen diesen Fragen nicht kenne. Ebenso wenig kenne ich die Meinung der Kun-Fraktion.

Ich zweifle keinen Moment, dass die Gen. Landler und Hiros[s]ik, die ich bisher als gute und konsequente Kommunisten kennen zu lernen Gelegenheit hatte, sich – erfahren sie die in Frage stehenden Differenzen – auf meinen Standpunkt stellen werden. Ebenso bin ich überzeugt, dass alle jene von der Kun-Fraktion, die die Bedeutung einer ideologisch-philosophischen Strömung und den Kampf dagegen zu bewerten fähig sind, mich in diesem Kampf, der der Kern der Gruppierung aller bolschewistischen Elemente in der ungarischen Partei werden muss, unterstützen werden.

Ich für meinen Teil habe den Fraktionskampf beendet, um kämpfen zu können gegen eine nicht-kommunistische, idealistische Strömung, die ihre Wirkung schon in internationalem Maßstabe zeigt.

Moskau, den 12. Juni 1924.
Mit komm. Gruss
Ladislaus Rudas

 
[1] Manuskript in deutscher Sprache (PIA 500. f.  2/290. őe. 1–2.) und dessen getippte Abschrift (Politikatörténeti és Szakszervezeti Levéltár 878. f. 8/17. őe., 178–180.), auf der letzteren der Stempel in drei Sprachen: „Nach 2 Tagen zurück an Sekretariat!“– Der Hrsg.

[2] Es geht um die Verhandlungen der beiden Fraktionen der ungarischen KP während des V. KI-Kongresses in Moskau, die zur Normalisierung der Lage der seit 1922 von einem provisorischen ZK geführten ungarischen KP beisteuern wollten. – Der Hrsg.

[3] D. h. Moskauer – Rudas verweilte seit 1922 in Moskau. – Der Hrsg.

[4] Rudas widmete in der Tat  mehrere Ausätze der Kritik von Lukács‘ Geschichte und Klassenbewusstsein (in der Wiener Arbeiter-Literatur), auf Russisch ist aber nur sein „Die Aufhebung der kapitalistischen Verdinglichung oder die dialektische Dialektik des Gen. Lukács“ erschienen (Ladislaus Rudas: Преодоление капиталистической обеществления или  диалектическая диалектика тов. Лукача, Вестник Коммунистической Академии, Moszkva 1925 [Nr. 10.], S. 3–66.). – Der Hrsg.

[5] Allerdings hatte Rudas 1922 noch keine Bedenken, Lukács’ Illúziópolitika (Illusionspolitik, Vörös Újság, Wien, 1. Dezember 1921. [Jg. IV., Nr. 2.], S. 11–12.) unter dem Titel Noch einmal Illusionspolitik als den 21. Kapitel seiner gegen Béla Kun und der Kun-Fraktion gerichteten Broschüre Abenteurer- und Liquidatorentum. Die Politik Béla Kuns und die Krise der KPU (Verlag Vörös Újság, Wien 1922, S. 254–261.)  neu zu veröffentlichen. Die Broschüre wurde seitens der KI mit der Drohung, aus der Partei ausgeschlossen zu werden, honoriert, doch Rudas entging diesem Schicksal. – Der Hrsg.