Zur Frage der Atheismus[1]

 

Die neue (21.) Nummer der Kommunistischen Internationale bringt einen außerordentlich interessanten Aufsatz des Genossen Lenin über verschiedene Fragen der marxistischen Methode. Wir behalten uns vor, auf einige der wichtigen Anregungen dieses Aufsatzes noch zurückzukommen und wollen hier ein Problem herausgreifen und gesondert behandeln: die Beziehung der Propaganda des Atheismus zu unserer Theorie und Propaganda. Genosse Lenin schreibt hierüber: „Es wäre einer der gröbsten und schlimmsten Irrtümer, deren ein Marxist sich schuldig machen könnte, zu meinen, die viele Millionen umfassenden Volksmassen (besonders der Bauern und Kleinhandwerker), die die gesamte gegenwärtige Gesellschaft zu Unwissenheit und geistiger Finsternis verdammt und im Banne von Vorurteilen hält, könnten aus ihrer Ohnmacht nur auf dem direkten Wege einer rein marxistischen Aufklärung herauskommen.“ Ich glaube, dass niemand die sachliche Richtigkeit dieser Bemerkung verkennen wird. Um so mehr als es keinem, der sich ernsthaft mit der Propaganda des unverfälschten Marxismus, mit der wirklichen dialektischen Methode beschäftigt hat, entgehen konnte, wie stark die Hemmungen ihres Verständnisses selbst bei Arbeitern gewesen ist. Dabei handelt es sich in beiden Fällen um methodisch verschiedene Fragen. Denn der Marxismus spricht ja nur gedanklich aus, was im gesellschaftlichen Sein eines jeden Proletariers erhalten ist. Die Hemmungen also, die hier das richtige Verständnis hindern, liegen teils in den sachlichen Schwierigkeiten der dialektischen Methode (das in ihr über die „natürliche“ Einstellung, über das „unmittelbare“ Verhältnis zur gesellschaftlichen Umwelt hinausgegangen und zum Wesen der Sache fortgeschritten werden muss), teils in dem Angestecktsein gerade der gebildeten Arbeiter von den ideologischen Formen der Bourgeoisie. Bei den Schichten aber, über die Genosse Lenin spricht, sind die Schwierigkeiten noch grösser, noch prinzipieller. Den bei diesen Schichten, ohne deren Mitwirkung oder wenigstens weitgehender Abtrennung von der Konterrevolution, die Revolution des Proletariats unmöglich dauernd siegreich bleiben kann, fehlt jenes gesellschaftliche Sein, aus dessen Boden der Marxismus entsprossen ist. Diese Schichten sind zwar – wenn sie ihre Interessen richtig verstehen – die natürlichen Verbündeten des revolutionären Proletariat[s], das die einzige Klasse ist, die ihre wirkliche Befreiung zu erkämpfen und durchzusetzen gewillt und im Stande ist. Ihre Revolution ist aber – an sich betrachtet – eine „bürgerliche“ Revolution, die nur in Folge des sozialen Milieus des proletarischen Befreiungskampfes einen ganz anderen Charakter aufnimmt, als ihre Emanzipationsbestrebungen zur Zeit der bürgerlichen Revolution aufgenommen haben. Für jeden theoretischen Dogmatismus entsteht also die paradoxe Lage, dass das Zuendeführen der bürgerlichen Revolution nur gegen die Bourgeoisie, nur durch Zuendeführen der proletarischen Revolution zu bewerkstelligen ist. (Die russische Agrarrevolution 1917 ist ein klassisches Beispiel hierfür.)

Wenn man aber die ideologische Geschichte der bürgerlichen Revolutionen aufmerksam verfolgt, so muss man in ihnen eine dieser ihrer ökonomisch-sozialen Struktur genau entsprechende ideologische Wesensart finden. Der materialistische Atheismus war die schärfste und die beste ideologische Waffe des aufstrebenden Bürgertums. Ja das einzige Mittel, mit dem die geistige Macht des Feudal-Absolutismus überhaupt gebrochen werden konnte. Es ist aber äußerst charakteristisch, wie selbst die bewusstesten Wortführer des revolutionären Bürgertums noch in der „heroischen Epoche“ ihrer Klasse, in der großen französischen Revolution sich davor gehütet haben, den Atheismus propagandistisch in die breiten Massen hineinzutragen. (Man denke an das Verhalten Robespierres zu den atheistischen Intellektuellen des Pariser Stadtrates.) Der Atheismus blieb für das Bürgertum, selbst in ihrer [!] Blütezeit, eine Intellektuellenbewegung, die nicht auf das ganze Volk verallgemeinert werden durfte. Und diese Tendenz müsse sich im Laufe der Zeit infolge des Kompromisses, das die Bourgeoisie mit dem die Staatsmacht teilweise oder noch ganz besitzenden Junkertum abschloss, infolge der ideologischen Kapitulation der Bourgeoisie vor der von ihr ökonomisch überwundenen Klasse,[2] die mit ihrem Reaktion[är]werden Hand in Hand ging, naturgemäß steigern. Der Atheismus ist heute vom bürgerlichen Staate beinahe ebenso verfehmt, wie vom feudal-absolutistischen. Was selbstredend keineswegs die Existenz kleibürgerlich-radikaler, intellektueller Bewegungen für den Atheismus ausschließt. Diese können aber auf die geistige Emanzipation der breiten Massen keinen nennenswerten Einfluss ausüben. Es zeigt sich also auf ideologischem Gebiete dasselbe Bild, wie auf dem sozialen Gebiete: das Proletariat muss die Befreiung aller unterdrückten und ausgebeuteten Schichten der bürgerlichen Gesellschaft durchkämpfen und zu Ende führen. Die historischen Erfahrungen der Revolution haben den Ausspruch Lenins aus dem Jahre 1916: „Wer eine reine soziale Revolution erwartet, der wird sie niemals erleben“, glänzend gerechtfertigt. Und seine Bemerkungen über die Notwendigkeit der intensivsten atheistischen Propaganda beziehen sich auf dasselbe Problem, nur auf dem Felde der Ideologie.  Dies ändert an unserer theoretischen Stellungname zum bürgerlichen Atheismus „als Dogma“, wie Marx scharf ablehnend gegen Bakunin geschrieben hat, an dem Festhalten unserer methodischen, endgültigen Überwindung des bürgerlichen, des „anschauenden“ Materialismus gar nichts. Dieser Materialismus erscheint als eine notwendige Anschauungsform der „bürgerlichen Gesellschaft“, als ebenso gesellschaftlich bedingt, wie die Gottesvorstellungen, die er abgelöst hat. An die Stelle des dogmatischen Glaubens (oder Unglaubens) tritt die geschichtlich-kritische Stellungnahme der dialektischen Materialismus.

Aber so wenig, wie unsere Unterstützung des Befreiungskampfes einer jeden unterdrückten Schicht ein Aufgehen in sie, eine organisatorische Vereinigung mit ihr, ein Aufgeben unserer Selbstständigkeit, unserer Kritik ihr gegenüber, unseres Willens, diese Bewegung, wenn möglich, über ihr ursprüngliches Ziel hinauszutreiben, bedeutet, so wenig heißt die von Lenin so richtig betonte Wichtigkeit der atheistischen Propaganda ein Aufgeben der Resultate der Marxschen Kritik Feuerbachs und des bürgerlichen Materialismus. Es würde jedoch dem Geiste gerade dieser Methode widersprechen, zu glauben, dass eine geistige Macht, die von der Vorhut des Proletariats geistig überwunden worden ist, darum auch schon für sämtliche Werktätige, deren geistige Losreißung von der konterrevolutionären Bourgeoisie unsere Aufgabe ist, ebenfalls erledigt sei. Es wäre eine verhängnisvolle Politik, ein geistiger KAPDismus, an diesen Schichten achtlos vorbeizugehen. Es wäre aber zugleich ganz falsch, dogmatisch und utopistisch zu glauben, dass diese Schichten mit dem „unverfälschten“ Marxismus zu gewinnen sind – wo doch ihr gesellschaftliches Sein sie zwar zu Verbündeten des Proletariats  macht (wenn sie dies auch selbst noch vielfach nicht erkennen), aber nicht zu Proletariern im eigentlichen Sinne des Marxismus. Wir stehen also vor der scheinbar paradoxen, für die dialektische Methode aber gar nicht überraschenden Lage: „derselbe“ bürgerliche Materialismus, der für die bewussten Elemente des Proletariats (z. B. wegen seines „fatalistischen“ Charakters) schon teilweise ein Hemmnis der Entwicklung ihres revolutionären Klassenbewusstseins ist, ist der notwendige Weg zur Revolutionierung der zurückgebliebenen Schichten des Proletariats und der halbproletarischen usw. Schichten der Werktätigen. Die bürgerliche Revolution muss eben und kann nur – auch auf ideologischem Gebiete – vom Proletariat zu Ende geführt werden.

 
[1] Die Rote Fahne, Berlin 1. 10. 1922. (Jg. 5., Nr. 435., Feuilleton), S. 1.; auch in: Vorwärts (Reichenberg), 28. 10. 1922. (Jg. 34., Nr. 254.) – Der Hrsg.

[2] Im Original fälschlich: Klassen. – Der Hrsg.