Vorwort des Herausgebers

 

Vor rund hundert Jahren, im Frühjahr 1923 erschien beim von Wieland Herzfelde gegründeten Berliner Malik-Verlag Lukács’ Geschichte und Klassenbewusstsein, das womöglich spannendste Werk des Marxismus nach Marx, das sein Verfasser – wie es im zu Weinachten 1922 verfassten Vorwort steht – zur Zeit seiner „unfreiwilligen Muße“ mit leichter Übertreibung als Handbuch für Revolutionäre gedacht[1] geschrieben-zusammengestellt hat – und welches Werk  bis heute nicht aufgehört hat, Quelle der Inspiration und natürlich Gegenstand von Diskussionen zu sein. In den seit der  Erstveröffentlichung vergangenen hundert Jahren ist eine schier unüberschaubare Menge von Büchern und Studien über das Buch  entstanden, Bücher und Studien, die es wiederentdeckt, seine Gedanken weitergeführt, neuinterpretiert oder zu widerlegen versucht haben; die hier publizierten Schriften repräsentieren nur das erste Jahrzehnt dieser reichen Rezeptionsgeschichte, durch Aufsätze und Rezensionen, die, aus welchem Grund auch immer, auf Lukács‘ Buch eingehen oder es wenigstens am Rande berühren. (Verborgene, erst später ersichtlich gewordene Impulse hätten eine ganz andere Annäherung erfordert). Nicht als ob es in der Wirkungsgeschichte des Buches nicht auch später interessante Perioden gegeben hätte, doch ist unsere zeitliche Einschränkung nicht ganz unbegründet: die auch in der Wirkungsgeschichte des Lukácsschen Buches sich klar anzeichnenden 20er Jahre (und ihre zum Teil in Vergessenheit geratene Schriften) erwiesen sich für das Schicksal des Buches (und seines Verfassers) als entscheidend.

Unsere Textsammlung ist so etwas, wie eine respektvolle Verbeugung vor dem vor hundert Jahren erschienen Buch, doch der Titel – „Geschichte und Klassenbewusstsein“ in den Debatten der 20er Jahre – ist ein wenig irreführend, oder anders formuliert, es gibt einiges, was in unserer Textsammlung vielleicht nicht ganz selbstverständlich ist. Vielleicht bedarf es einer Erklärung, warum wir auch die zu dieser Zeit erschienenen Rezensionen zum Lukács‘ ein Jahr später herausgekommenen Lenin-Büchlein[2] wiederveröffentlicht haben, doch das zu erklären ist nicht schwer: die enthusiastische Zustimmung oder der argwöhnische Ablehnung, die Geschichte und Klassenbewusstsein entgegenschlugen, blieben auch für die Aufnahme der Lenin-Broschüre nicht ohne Auswirkungen, und die Sympathie oder Antipathie war anlässlich Lukács‘ Schrift aus 1924 vielleicht sogar plausibler zu formulieren – und Geschichte und Klassenbewusstsein selbst, wie auch Frage des Einverständnisses mit Lukács oder der Ablehnung seiner Position gerieten in den Strudel der Diskussionen um das Erbe Lenins und um dessen Kanonisierung (die „Bolschewisierung der Kommunistischen Parteien“).

Auch der Auftakt der Textsammlung bedarf der Erklärung. Sie wird nämlich von Béla Fogarasis Broschüre Einführung in die marxistische Philosophie (1922) eröffnet, die noch vor dem Erscheinen von Geschichte und Klassenbewusstsein, sogar noch vor dem Abschluss des Manuskripts herausgekommen ist. Fogarasi gehörte aber schon vor 1919 in Budapest zu dem Kreis um Lukács, und blieb auch am Anfang der zwanziger Jahre in Wien sein Anhänger. Und wäre auch nicht ohnehin offensichtlich, beweist seine Broschüre auch in explizierter Form, dass der Verfasser zumindest einige der früheren Aufsätze des Buches gekannt und beherzigt hat. Und wenn man dazu noch in Betracht zieht, dass die Kritiker Lukács‘ es kaum versäumten, auf die Gefahr hinzuweisen, die darin lauert, dass sich um Lukács Anhänger versammeln – und dabei Fogarasi oft erwähnten –, scheint der Abdruck seiner kleinen Abhandlung nicht ganz unangebracht zu sein. Vermutlich erfordert auch der Abschluss unserer Textsammlung einen Kommentar. Es gibt nämlich einen Faden, den wir nicht außer Acht lassen konnten, da er parallel zu der Geschichte der Rezeption von Geschichte und Klassenbewusstsein verläuft: es handelt sich um den Faden der Arbeiten von Korsch bzw. der Schriften, die ihm und seinem Buch Marxismus und Philosophie (1923) gewidmet waren. Sie erscheinen hier nicht nur weil Korsch im Nachwort zu Marxismus und Philosophie sein Einverständnis mit Lukács‘ Buch erklärt und Lukács‘ Lenin-Büchlein rezensiert hat, oder weil Korsch‘ Buch das Schicksal Lukács‘ teilte, sondern weil Korsch zugleich ein Analytiker der Konstellationen war, die diese Rezeption bestimmten. In seinem Artikel Lenin und die Komintern (1924) exponierte er das Problem der hastigen und politische Gefahren verheißenden Kodifizierung des Leninismus, und sein Der gegenwärtige Stand des Problems Marxismus und Philosophie (1930) schließt nicht nur durch das Entstehungsdatum die Reihe der hier publizierten Beiträge ab: Korsch diagnostiziert dort die historische Niederlage einer Marx-Interpretation (einer philosophischen Attitüde) –  den Abbruch einer Tradition, die man später „westlichen Marxismus“ nannte. Auf dem anderen Schauplatz, auf dem der russischen Rezeption, schließt die 20er Jahre ein Vortrag Abram Deborins ab, der die Argumentation von Lukács‘ Kritikern in Russland weitgehend bestimmt hat, ein Vortrag, der die Schlachten und Siege Deborins und seiner Gefolgschaft an der „philosophischen Front“ eingehend  erörtert und dabei flüchtig auch Lukács erwähnt, doch schon in der Vorahnung dessen, dass auch auf ihn und seine Schule die ideologische Abrechnung („menschewistischer Idealismus“) wartet. (Damals noch lediglich die ideologische Abrechnung: Deborin selbst überlebte die Stalin-Ära – Grigori Bammel oder Nikolai Karew hatten dieses Glück nicht, sie sind etwas später der Stalinschen Säuberungen zum Opfer gefallen.)

Mit einer Schrift, einem Auszug aus Karl Löwiths Max Weber und Karl Marx (1932), haben wir, aus einer vielleicht eigenwillig anmutenden Überlegung heraus, den zeitlichen Rahmen der 20er Jahre überschritten. In seiner klassischen Abhandlung – die vermutlich als erster andeutet, was später in der Literatur über Geschichte und Klassenbewusstsein als Selbstverständlichkeit gelten wird, dass Lukács den jungen Marx für sich erschlossen hatte, den er damals aus Marx-Texten noch gar nicht kennen konnte –  stütz sich Löwith bei seiner Rekonstruktion des philosophischen Kerns des Marxschen Standpunktes grundsätzlich auf Lukács, indem er die Marxsche „Anthropologie“ (und damit das Problem der Entfremdung) ins Zentrum seiner Marx-Interpretation rückt – wie das nach der Erscheinung der Philosophisch-ökonomischen Manuskripte schon selbstverständlicher geworden ist, obwohl Löwith selbst sich nicht auf Marx‘ Pariser Manuskripte berief. (Vermutlich auch nicht berufen konnte, da die Philosophisch-ökonomischen Manuskripte ungefähr zur gleichen Zeit (1932) erschienen sind, wie Löwiths Abhandlung – dann aber gleich in zwei Ausgaben –, auch wenn ein kurzer Ausschnitt aus Marx‘ Schrift schon früher, 1929 in Frankreich publiziert worden ist).[3] So schlug Löwiths Abhandlung, wenn man will, so etwas, wie eine Brücke zwischen den beiden revolutionären Ereignissen der Marx-Interpretation, dem Erscheinen von Geschichte und Klassenbewusstsein und der Veröffentlichung der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte, eine Brücke, die Lukács damals nicht betreten hat: obwohl er in Moskau an der Arbeit der Entzifferung der Manuskripte selbst teilgenommen hat, reagierte er nur in einer (dem darauffolgenden Band der MEGA-Ausgabe gewidmeten) kurzen Rezension auf ihre Erscheinung.[4] Und auch dort nur um zu erklären, dass, im Gegensatz zu der sozialdemokratischen (Landshut-Mayerschen) Veröffentlichung, nur die Moskauer Ausgabe des Textes als wissenschaftlich zuverlässige Textrekonstruktion gelten kann.

Die hier publizierte Sammlung ist die digitalisierte Version einer früheren, zusammen mit Tamás Krausz redigierten, 1984 vom Georg-Lukács-Archiv und Gyula Munkácsys Philosophischen Beobachter herausgebrachten vierbändigen Textsammlung, die wir jetzt nur in einer Hinsicht ergänzt haben: auch die frühere Ausgabe hat die Texte in ihrer Originalsprache gebracht, doch die sowohl auf Russisch, als auch auf Deutsch erschienen Schriften nur in einer der Sprachen – nun sind sie in beiden Sprachen zu lesen. Einen Block der Texte ließen wir allerdings wegfallen, den der auf Russisch erschienenen Schriften Lukács‘. Lukács‘ russische Kritiker argumentierten zwar derb („ Die Russen etwa, welche philosophisch handeln, aber denken wie die ungebildeten Hunde, werden sogar einen Abfall darin wittern”, schieb seinerzeit Ernst Bloch),[5] und auch auf László Rudas’ Kritiken trifft zu, was Lukács später, anlässlich einer anderen Debatte, geschrieben hat, dass nämlich „bei der Richelieu-Rudas Methode gibt es keine zehn Zeilen, die nicht als Begründung des Todesurteils gelten könnten”[6] – doch das waren noch die 20er Jahre: nicht nur die zentrale Abhandlung aus Geschichte und Klassenbewusstsein konnte in Moskau erscheinen[7] (und Korsch‘ Marxismus und Philosophie auch, sogar zweimal – obwohl das zweite Mal mit einem leichte Vorbehalte andeutenden Vorwort des Übersetzers, Grigori Bammels),[8] was allerdings noch vor dem kritischen Streifzug gegen Lukács geschah, doch auch später noch durfte Lukács in russischen Blättern publizieren – der Block, den wir weggelassen haben, hat diese Lukács-Schriften gebracht. Jetzt nahmen wir an, die Feststellung dieser Tatsache könnte genügen.[9]

Konsequenz ist sicherlich eine Tugend, jedoch ist bei der Zusammenstellung einer Textsammlung sichtlich nicht leicht, konsequent zu bleiben: ein Teil der Texte streift Lukács und sein Buch nur flüchtig, trotzdem wollten wir die in Betracht kommenden Schriften in vollem Umfang bringen, was, wenn es um Abhandlungen geht, selbstverständlich ist, da erst dadurch ersichtlich wird, aus welchem Grund der Verfasser auf Lukács eingeht. Doch schien uns etwa Marxismus Philosophie, das den Lesern ja auch anderswo zugänglich ist, in Volltext zu bringen, nur weil Korsch im Nachwort seinem Einverständnis mit Lukács erklärt, als übertrieben. Dagegen bringen wir Sinowjews Rede am V. Kongress der Komintern in vollem Umfang, obwohl darin Lukács nur in einem einzigen Absatz vorkommt – doch der politische Kontext ist selbst aus der Sicht dieses Absatzes nicht gleichgültig. Und dazu kommt noch, dass es schon im Falle wissenschaftlicher Texte nicht besonders glücklich ist, Sätze aus dem Zusammenhang herauszureißen, geht es um politisch interessante Äußerungen, wäre eine solche Vorgehensweise gänzlich dubiös. Dass wir mal zu liberal, mal zu engherzig mit den Texten umgegangen sind, kann getrost angefochten werden. Wir haben es nicht vor, uns für all unsere Entscheidungen zu verteidigen – wir bitten unsere Leser einfach um das Verständnis.

Der Herausgeber der online-Version möchte sich bei Zuzsa Hetényi, Natália Jánossy, Tamás Krausz, Antonia Opitz, Nóra Szegedi, Mária Székely, Ferenc Tallár, Károly Tóth und all den anderen Mitarbeitern, die in der Textgestaltung mitgewirkt haben – und bei Ella Villax, die seinerzeit all die Texte für die Vervielfältigung abgetippt hat – bedanken.

 

[1] Das genannte Vorwort zögert sich nicht, den vielleicht philosophisch ungeschulteren Lesern einen Rat zu geben, wie, in welcher Reihenfolge sie das Buch lesen sollten.

[2] Georg Lukács: Lenin. Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken, in Wien beim Verlag der Arbeiter-Buchhandlung, in Berlin beim Malik veröffentlicht; es erschien seinerzeit auch auf Ungarisch beim Ama Verlag in der Übersetzung von Andor Gábor.

[3] Marcello Musto: The Myth of the „Young Marx” in the Interpretations of the Economic and Philosophical Manuscripts of 1844.

[4] Georg Lukács: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke und Schriften von Mai 1846 bis März 1848. [Marx-Engels-Gesamtausgabe. Hrsg. von V. Adoratsky. I. Abt. Bd. 6. Marx-Engels -Verlag. Berlin 1933], Zeitschrift für Sozialforschung, 1933 Nr. 2, 280–281.

[5] S. hier.

[6] Lukács an József Révai am 18. Mai 1950, in: A Lukács-vita, hrsg. v. János Ambrus, Múzsák, Budapest 1985, 310.

[7] Obwohl anlässlich der Veröffentlichung des dritten Teils des Verdinglichung-Kapitels die Redaktion sich genötigt fand, ihre Vorbehalte anzudeuten: „Die Redaktion erachtet die nicht immer marxistische Terminologie des Artikels von Genossen Lukács als bestreitbar”. („Редакция некоторы места в статье тов. Лукача считает дискуссионными и терминологию невсегда марксистски выдержанной.”) – Вестник Социалитической Академии, кн. 6. (oктябрь–декабрь 1923 г.), 116.

[8] S. hier.

[9] Георг Люкач: Д-р Макс Адлер: „Учение марксизма о государствe” (Очерк различия между социологическим и юридическим методом). Bестник Социалистической Aкадемии, кн. 3. (февраль 1923 г.), 407–410.

Г. Лукач: Mатериализация и пролетарское сознание. Вестник Социалитической Академии, кн. 4. (апрель–июль 1923 г.), 186–222, кн. 5. (август-сентябь 1923 г.), 74–120 & кн. 6. (oктябрь–декабрь 1923 г.), 116–185.

Георг Лукач: Fritz Mautner: Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. Bестник Cоциалитической Aкадемии, кн. 5. (август–сентябь 1923 г.), 233–237.

Георг Лукач: Hermann Schmalenbach: Leibniz. Bестник Cоциалитической Aкадемии, ibid., 237–240.

Георг Лукач: Friedrich Kuntze: Die Philosophie Salomon Maimons. Bестник Cоциалитической Aкадемии, ibid., 240–245.

Georg Lukacz: Литературное наследие Лассаля. Bестник Коммунистической Aкадемии, кн. 7. (1924), 402–415.

Георг Лукач: Новая биография М. Гесса. Архив К. Маркса и Ф. Энгельса. кн. 3. (1927), 440–459.

Пути творчества Гергардта Гауптмана. Вестник иностранной литературы, кн. 4 (апрель) 1928, 136–138.

Георг Лукач: Ernst Simon, Ranke und Hegel. Beiheft 15 der „Historischen Zeitschrift“, München /Berlin. R. Oldenburg, 1928, Архив К. Маркса и Ф. Энгельса. кн. 5. (1930), 478