Abram Deborin

Lukács und seine Kritik des Marxismus[1]

 

Kommunismus ist praktischer Materialismus,
Materialismus ist theoretischer Kommunismus

 

I.

Genosse Lukács tritt in seinem Buch ,,Geschichte und Klassenbewusstsein“ (1923) in der Rolle des philosophischen Kritikers des Marxismus auf. Man muss es dem Verfasser lassen: er versteht es, seine idealistischen und sogar mystischen Tendenzen geschickt zu verschleiern. Aber es fällt ihm trotz seiner feinen Diplomatie doch nicht gar so leicht, die idealistischen Ohren hinter die Tarnkappe zu stecken. Jeder nur ein wenig geschulte Marxist wird bei etwas Nachdenken leicht diese idealistischen Tendenzen erkennen, die aus einem Meer krauser Phrasen an die Oberfläche treten.

Man kann nicht sagen, dass die Methode, die Genosse Lukács anwendet, indem er Marx gegen Engels ausspielt, eine besonders gelungene oder originelle wäre. Zu dieser Methode haben schon öfter die verschiedensten Kritiker des Marxismus, sowohl aus dem Lager der Bourgeoisie als auch Kritiker von der Gattung der Revisionisten, Zuflucht genommen. Ein Teil von innen bewies, dass Engels zum Materialismus entgleist sei, während sich Marx dieser Sünde niemals schuldig gemacht habe. Ein anderer Teil wieder bewies das Gegenteil. Anderseits hielten alle „Kritiker“ Dialektik und Materialismus miteinander unvereinbar und beschuldigten beide Begründer des Marxismus der schreiendsten Alogik. Die Dialektik, sagten sie, ist nur anwendbar auf geistigem Gebiet, auf dem Gebiet der Erkenntnis, die mit Begriffen operiert. Aber von welcher Dialektik kann denn in bezug auf die materielle Welt gesprochen werden? Sie hatten mit einem Ohr gehört, dass der Dialektiker Hegel Idealist war, dass der Grund alles Seins seiner Anschauung nach die Erkenntnis, der Geist sei; deshalb, so folgerten sie, lässt sich die Dialektik nur mit dem Idealismus vereinbaren. Die materialistische Dialektik dagegen oder den dialektischen Materialismus erklärten sie als logischen Unsinn. Ein verspäteter Kritiker dieser letzten Gattung ist N. Weendorf,[2] der den alten Unsinn von der Unanwendbarkeit der Dialektik in bezug auf die empirische Wirklichkeit wiederholt. Es ist nicht schwer zu verstehen. warum die bürgerlichen Kritiker des Marxismus eine so verächtliche Stellung zum Materialismus einnehmen und so „unduldsam“ der materialistischen Dialektik gegenüber sind. Ihre ,,Unduldsamkeit“ erklärt sich daraus, dass sie, wie sich Plechanow ausdrückte, keinerlei Revolution und keinerlei Diktatur „dulden“ können.

Die Ansichten Weendorfs teilt auch Werner Sombart, der in seinem letzten Artikel „Der Begriff der Gesetzmäßigkeit bei Marx“[3] die Anwendung der Hegelschen Dialektik in bezug auf die empirische Wirklichkeit als „ungeheuerliche“ Verirrung bezeichnet. Werner Sombart zitiert verständnisvoll eine Stelle aus dem Buche des Genossen Lukács, wo dieser bei der Kritik von Engels eine angebliche Meinungsverschiedenheit mit Marx in der Frage der Anwendbarkeit der Dialektik in bezug auf die Natur aufdeckt. ,,Die neue Anschauung über das Wesen der dialektischen Methode von Marx“ – schreibt Sombart – ,,verteidigt jetzt Lukács in seinem Buch »Geschichte und Klassenbewusstsein«.“ Seiner Meinung nach hat Engels die Lehren seines Freundes ganz und gar nicht verstanden. Im Gegensatz zu Engels ist die Anwendung der dialektischen Methode unbedingt zu begrenzen auf die sozialhistorische Wirklichkeit.[4] Weiter führt Sombart die von Lukács gegebene Erklärung der Dialektik an.

Also, Genosse Lukács tritt mit einer neuen Anschauung über das Wesen der Dialektik hervor. In einem sehr wichtigen und wesentlichen Punkt besteht zwischen Lukács, Weendorf und Sombart vollkommene Übereinstimmung: und zwar in der Frage von der Anwendbarkeit der Dialektik in bezug auf die Natur. Leider geizt Genosse Lukács besonders dort mit seinen Argumenten, wo er seine Gedanken bis zu Ende entwickeln müsste. Man hat deshalb nach der Lektüre seiner Schrift den peinlichen Eindruck der Zweideutigkeit.

In Wirklichkeit ist die Frage der Anwendbarkeit der Dialektik in bezug auf die Natur untrennbar verknüpft mit der Frage der Weltanschauung überhaupt. Genosse Lukács stellt sich auf den Boden jener, die so oder anders den historischen Materialismus anerkennen, den philosophischen Materialismus dagegen verwerfen. Und wieder in voller Übereinstimmung mit den bürgerlichen Kritikern des Marxismus sprechen Genosse Lukács und seine Anhänger mit Verachtung von der „naturalistischen Metaphysik“ von Engels und Plechanow. ,,Naturalistische Metaphysik“ – ist ein Pseudonym für den Materialismus. Angesteckt von den Vorurteilen der bürgerlichen Philosophen, hat sich Genosse Lukács sowohl ihren Jargon als auch ihr ablehnendes Verhalten dem Materialismus zu eigen gemacht. Allerdings hält sich Lukács von einer eingehenden Darlegung seiner Zweifel in dieser Frage zurück. Wir befinden uns deshalb in voller Unkenntnis über jene philosophischen Betrachtungen, die ihn veranlassen, den philosophischen Standpunkt zu verwerfen. Eines jedoch ist uns ganz klar: Lukács lehnt sowohl den Materialismus als auch die Dialektik in ihrer Anwendbarkeit in bezug auf die Natur ab. Diese Schlussfolgerung ist überaus wichtig, und wir beschränken uns vorderhand darauf, diesen Umstand zu fixieren. Aus dieser Schlussfolgerung könnte man weiter schließen, dass unser Verfasser Dualist ist: Idealist – insoweit es sich um die Natur handelt, und dialektischer Materialist – in bezug auf die sozialhistorische Wirklichkeit. Aber diese Schlussfolgerung kann nur als lächerlich bezeichnet werden, da wir aus dem weiteren ersehen werden, dass wir es in Wirklichkeit zu tun haben mit einer neuen Auffassung der dialektischen Method, d. h. mit einer Auffassung, die in Widerspruch steht mit dem Marxismus, mit dem dialektischen Materialismus. Wir werden uns mit anderen Worten davon überzeugen, dass Lukács auch in bezug auf die sozialhistorische Wirklichkeit vollständig auf idealistischem Boden steht, da er namentlich in der Kategorie der Erkenntnis im gewissen Sinne die Substanz oder die Wahrheit der Wirklichkeit sieht. In dieser Beziehung erinnert Lukács sehr stark an Bruno Bauer und seine ,,Philosophische Selbsterkenntnis“, die von Marx so bitter verspottet wurde. Im allgemeinen sind die Ansichten von Lukács ein bunter Mischmasch des orthodoxen Hegelianertums, schmackhaft gemacht durch Beimengung der Ideen von Lask, Bergson, Weber, Rickert… Marx und Lenin. Man kann nach dem Gesagten a priori behaupten, dass wir in der Person des Genossen Lukács tatsächlich einen-Neuerer vor uns haben.

 

II.

Lukács hat bereits seine Jünger und ist im gewissen Sinne der führende Kopf einer ganzen Richtung, der unter anderem angehören: die Genossen Korschs,[5] Fogarasi. Reway u. a. Bei einer solchen Lage der Dinge ist es unmöglich, sie einfach zu ignorieren. Wir müssen zumindest die Grundprinzipien dieser ,,neuen Strömung“ im Marxismus einer Kritik unterziehen.

Das Buch von Lukács beginnt mit einer Kritik von Engels. Bereits im Vorwort erklärt der Verfasser, dass er gewillt sei, den orthodoxen Marxismus sogar gegen Engels zu verteidigen.

Ferner unterstreicht der Verfasser im Vorwort, dass er beabsichtige, die Lehre von Marx zu revidieren und zu verbessern und den Marxismus nur im Geiste von Marx zu interpretieren. Eine sehr ehrenwerte Aufgabe also! Aber eine solche Fragestellung ist dazu angetan, einen Zweifel an ihrer Richtigkeit hervorzurufen, besonders, wenn man sich erinnert, dass Engels vierzig Jahre lang in engster kameradschaftlicher Verbindung mit Marx zusammen gearbeitet hat, und dass die grundlegende philosophische Arbeit von Engels unter unmittelbarer Beteiligung von Marx selbst geschrieben wurde. Indessen, diese Arbeit – es handelt sich hier- um den ,,Anti-Dühring“ – befriedigt Lukács und seine Jünger nicht. Welchen Sinn hat aber dann, sich hinter dem breiten Rücken von Marx zu verstecken, um so geschützt, Engels eine Nase zu drehen? Man kann behaupten, dass Engels, solange Marx lebte, keine Zeile geschrieben hat, die nicht von diesem gebilligt worden wäre. Im Vorwort zur zweiten Auflage des „Anti-Dühring“ schreibt Engels über dieses Zusammenarbeiten folgendes: „Ich bemerke nebenbei: Da hier die entwickelte Anschauungsweise zum weitaus größeren Teil von Marx begründet und entwickelt wurde, und nur zum geringsten Teil von mir, so verstand sich unter uns von selbst, dass diese meine Darstellung nicht ohne seine Kenntnis erfolgte. Ich habe ihm das ganze Manuskript vor dem Druck vorgelesen, und das zehnte Kapitel des Abschnitts über Ökonomie (»Aus der kritischen Geschichte«) ist von Marx geschrieben und musste nur, äußerlicher Rücksichten halber, von mir leider etwas verkürzt werden. Es war eben von jeher unser Brauch, uns in Spezialfächern gegenseitig auszuhelfen.“ (Vorwort zu „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, S. XII.) Man sollte glauben, dass dieses Zeugnis von Engels den „kritischen“ Eifer der Reformatoren ein wenig abkühlen müsste. Jedenfalls haben die „Kritiker“ keinen Grund, Marx zu schonen, der den „Anti-Dühring“ im Manuskript gelesen hat. Ja, noch mehr! Die von Engels dargelegte Weltanschauung wurde von Marx begründet und entwickelt…

Lukács behauptet, dass sich Engels von Marx entferne und die Ansichten seines Freundes verdrehe. Marx habe die Anwendbarkeit der dialektischen Methode auf die sozial-historische Wirklichkeit beschränkt, während Engels die Dialektik auch in bezug auf die Natur anwendet. Aber, wie wir bereits bewiesen haben, entbehrt diese Behauptung jeder Grundlage. Marx und Engels sind in gleicher Weise „schuldig“ der Anwendung der Dialektik in bezug auf die Natur. Die Begründer des Marxismus waren keine Eklektiker wie Lukács, sondern außergewöhnliche Denker. Aber es ist nur natürlich, wenn sich jeder Mensch für einen ,,Maßstab der Dinge“ hält und andere nach sich selbst beurteilt. Lukács wünscht, dass Marx mit ihm sei und deshalb schreibt er ihm seine Gedanken, seine Ideen, seine Auffassung der Dialektik zu. Und so gelange wir zu dem Resultat, dass nicht Engels, sondern Lukács selbst die Lehren von Marx verdreht.

Lukács stimmt mit Marx und Engels nicht nur in der Frage von der Anwendbarkeit der Dialektik in bezug auf die Natur nicht überein, sondern auch in der Auffassung des Wesens der Dialektik selbst. Man sollte glauben, dass Engels auch hier eine große Verwirrung angerichtet hat, indem er das Wesentlichste außer acht gelassen und seine Aufmerksamkeit auf weniger wichtige Momente der Dialektik konzentriert hat. Lukács behauptet, dass auch in dieser Frage Marx auf seiner Seite stehe, und er hält sich deshalb für den berufenen Verteidiger von Marx gegen Engels.

Beide Beschuldigungen gegen Engels formuliert Lukács in einer kurzen Anmerkung, die wir wörtlich Wiedergeben: „Diese Beschränkung der Methode auf die historisch-soziale Wirklichkeit ist sehr wichtig“, sagt unser Autor. – „Die Missverständnisse, die aus der Engelsschen Darstellung der Dialektik entstehen, beruhen wesentlich darauf, dass Engels – dem falschen Beispiel Hegels folgend – die dialektische Methode auch auf die Erkenntnis der Natur ausdehnt. Wo doch die entscheidenden Bestimmungen der Dialektik: Wechselwirkung von Subjekt und Objekt, Einheit von Theorie und Praxis, geschichtliche Veränderung des Substrats der Kategorien als Grundlage ihrer Veränderung im Denken usw. in der Naturerkenntnis nicht vorhanden sind.“ (Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewusstsein. Berlin 1923. S. 17.)

Auch hier beeilt sich der Verfasser, die Einschränkung zu machen, dass es ihm leider ganz unmöglich sei, auf diese Frage näher einzugehen. Warum es ihm ganz unmöglich sei, das Auseinandergehen seiner Ansichten mit denen von Engels zu erklären, können wir allerdings nicht begreifen. Man sollte glauben, dass er irgendwelche Beweise für seine ernsten Beschuldigungen vorbringen müsste. Aber wo nichts ist, hat auch der Kaiser sein Recht verloren. Wir sehen also bei Lukács eine neue Auffassung der Dialektik oder besser gesagt, eine Beschränkung, eine Verengung der Dialektik auf die angeführten drei Erklärungen. Aber damit würden sich weder Marx noch Hegel einverstanden erklären, die der Verfasser so nachdrücklich zitiert, um damit die Richtigkeit seiner Ansichten und seine Übereinstimmung mit ihnen zu beweisen.

Aber hören wir zuerst, was Lukács sagt! Im ersten Kapitel seines Buches („Was ist orthodoxer Marxismus“) beweist, oder besser gesagt, verweist der Verfasser auf die Bedeutung der Methode des Marxismus. Die Methode ist zweifellos von außerordentlicher Bedeutung; die dialektische Methode bildet nach den Worten von Hegel die Seele jeder wissenschaftlichen Erkenntnis. Nichtsdestoweniger muss man aber der Behauptung von Lukács widersprechen, dass vom orthodoxen Marxisten nur die Anerkennung der Methode zu fordern sei. Wir stimmen selbstverständlich Lukács vollständig zu, dass im dialektischen Materialismus die richtige Untersuchungsmethode gefunden ist, und dass diese Methode im Sinne ihrer Begründer ausgearbeitet, vertieft und entwickelt werden muss. Aber wir sind nicht einverstanden mit der Erklärung des Verfassers, dass der Inhalt der Lehre nur eine Bedeutung zweiten Grades hat. Man kann zugeben – sagt er –, dass die neuesten Untersuchungen die Unrichtigkeit „sämtlicher einzelner“ Urteile von Marx bewiesen werden. In diesem Falle könnte natürlich jeder ernste „orthodoxe“ Marxist die neuesten Resultate anerkennen, ,,sämtliche einzelne“ Richtlinien von Marx ablehnen und gleichzeitig orthodoxer Marxist bleiben; denn der orthodoxe Marxismus bedeutet nicht die Anerkennung der Resultate der Marxschen Untersuchungen auf guten Glauben, nicht den ,,Glauben“ an diese oder jene Richtlinien, nicht diese oder jene Auslegung des ,,heiligen“ Buches. Der Leser muss zugeben, dass diese Erklärung überaus zweideutig gehalten ist. Was bedeuten denn die Worte: „sämtliche einzelnen Richtlinien? Jede Lehre besteht aus einer Summe einzelner Richtlinien. Wenn wir somit alle einzelnen Richtlinien einer Lehre ablehnen, dann ist doch ganz klar, dass wir damit die Lehre selbst ablehnen. Aber hier zieht es Lukács vor, sich ,,diplomatisch“ und gewunden auszudrücken. In seinem ,,Kapital“ deckt Marx unter Anwendung der dialektischen Methode den inneren Mechanismus der kapitalistischen Gesellschaft auf. Der Sozialismus wurde – nach den Worten von Engels – zur Wissenschaft dank der Entdeckung der materialistischen Geschichtsauffassung und dank der Enthüllung der auf dem Mehrwert basierenden kapitalistischen Produktionsweise, Entdeckungen, die wir Marx zu verdanken haben. Wer will es leugnen, dass das ,,Kapital“ zu ganz bestimmten „Resultaten“ gelangt? Nach der Ansicht von Lukács kommt diesen Resultaten an sich keine Bedeutung zu und sie können leicht widerlegt werden durch neue Untersuchungen, wovon der Marxismus nicht im geringsten Schaden leiden wird, da er bei seiner Methode verbleiben wird. Wir danken Ihnen ganz ergebenst, Genosse Lukács, für Ihre Liebenswürdigkeit, aber einen solchen idealistischen Standpunkt kann kein Marxist anerkennen! Für uns sind die Resultate ebenso wichtig wie die Methode. Der von Lukács in bezug auf seine Orthodoxie angezweifelte Friedlich Engels hat den „Resultaten“ eine sehr große Bedeutung beigemessen. Betreffs der Dühringschen Kritik des „Kapitals“ bemerkt Engels, dass er zunächst imstande war, „die Methode von den durch sie erzielten Resultaten zu unterschieden und zu begreifen, dass besonders letztere keineswegs dadurch widerlegt werden, weil die Methode überhaupt kritisiert wurde“. Wie wir sehen, Schätzt Engels die Untersuchungsresultate des „Kapitals sehr hoch ein. Der  „orthodoxe“ Marxist Lukács ist bereit, die Untersuchungs-„Resultate“ des „Kapitals“ zu opfern, womit man sich selbstverständlich keinesfalls einverstanden erklären kann. Aber welche Bedeutung kann die Methode an sich haben, wenn ihre Richtigkeit nicht bestätigt wird durch die Praxis, wenn die „Resultate“ der Untersuchung mit der Praxis in Widerspruch stehen?

Es ist klar, dass der Methode eine sich selbst genügende Bedeutung nicht zukommt, dass sie kein rein logisches Schema darstellt, das nur auf dem Gebiete des reinen Denkens anwendbar ist. Wenn wir die Methode nicht vom idealistischen, sondern vom materialistischen und dialektischen Standpunkt betrachten, so muss man zugeben, dass sie untrennbar verknüpft ist mit dem Inhalt, mit den „Resultaten“, und dass bei richtiger Methode kein Widerspruch zwischen ihr und ihrem Inhalt bestehen kann, Für Lukács hat dieser Umstand keine Bedeutung, denn er ist Idealist vom Scheitel bis zur Sohle. Für ihn besitzt die Theorie, die Methode irgendeine absolute Bedeutung, und wenn sich die Wirklichkeit darin nicht unterbringen lässt – „umso schlimmer für die Tatsachen“. Eine solche Fragestellung gibt sich jedoch bei Lukács infolge seiner eigenartigen idealistischen Auffassung von der Erkenntnis und somit auch von der Theorie, die der Wirklichkeit gegenüberstehen oder sie sogar – richtiger gesagt – in sich einschließen. Die einzig richtige materialistische Auffassung der Dinge – sagt Engels – besteht darin, dass „die Prinzipien nicht Ausgangspunkt der Untersuchung, sondern Endresultat derselben sind; sie werden nicht angewendet in bezug auf die Natur und die Geschichte der Menschheit, sondern werden von dieser und jener abstrahiert; nicht die Natur und die menschliche Welt bewegen sich nach Prinzipien, sondern die Prinzipien sind nur soweit richtig, soweit sie mit der Natur und der Geschichte übereinstimmen.“ Die dialektischen Kategorien, die den Inhalt der Methode ausmachen, haben keine selbständige Existenz, sondern sind gegeben zusammen mit dem Objekt und dem Gegenstand der Untersuchung. Es fragt sich, wie man auf die Untersuchungsergebnisse verzichten und doch bei der Methode bleiben kann? Im Gegenteil, die Methode wird umso mehr bekräftigt, je mehr sie den Resultaten und dem Inhalt der untersuchten Wirklichkeit „entspricht“. Die Methode ist vor allem das Mittel oder das Werkzeug zur Auffindung neuer Resultate. Die Dialektik hat dieselbe Aufgabe, aber gleichzeitig „enthält sie die Anfänge einer breiteren Weltanschauung, da sie – wie sich Engels ausdrückt – den engen Horizont der Formalen Logik durchbricht.“ Wenn der historische Prozess dem dialektischen Prozess widersprechen würde, wie dies Lukács zulässt, dann wäre damit die Unbrauchbarkeit der dialektischen Methode erwiesen. Der dialektische Prozess kann nicht getrennt vom historischen existieren.

 

III.

Indem sich Lukács der Erklärung des ‘W’esens der Dialektik zuwendet, unterstreicht er, dass die Einheitlichkeit von Theorie und Praxis Voraussetzung der revolutionären Funktionen der Theorie sei. Die Theorie ist der gedankliche Ausdruck des revolutionären Prozesses selbst, aber diese Bedeutung der Theorie sei sich Engels, nicht klar bewusst geworden. In seiner Darlegung der Dialektik fehle das wichtigste Moment. Engels beschreibt, so sagt Lukács, die dialektische Auffassung im Gegensatz zum metaphysischem; er unterstreicht, dass die Dialektik die Unbeweglichkeit der Begriffe und der ihnen entsprechenden Gegenstände nicht kennt, dass die Dialektik ein ununterbrochener Prozess ist, ein ununterbrochenes Aufheben der Gegensätze, die einer in den anderen übergehen. Aber das Wesentlichste, und zwar die dialektische gegenseitige Einwirkung von Subjekt und Objekt im historischen Prozess, würde von Engels in seiner Darlegung der Dialektik gar nicht erwähnt, und doch gebühre dieser  gegenseitigen Einwirkung  der erste Platz, denn ohne sie hört die dialektischen Methode trotz der „Flüssigkeit“ der Begriffe auf, eine revolutionäre Methode zu sein. Denn das wichtigste Problem für die dialektische Methode ist ja die Änderung der Wirklichkeit. Wenn die wichtigste Funktion der Theorie weiter nicht beachtet wird – fährt fort Lukács –, dann wird der Vorzug der dialektischen Methode, die sich mit „fließenden“ Begriffen befasst, ein sehr problematischer und hat nur einen „rein wissenschaftlichen“ Charakter. Die Methode an und für sich – es handelt sich selbstverständlich um die dialektische Methode – kann in Abhängigkeit von der Entwicklung der Wissenschaft anerkannt oder abgelehnt werden, ohne dass sich deshalb irgendetwas in Wirklichkeit ändern würde. „Ja, noch mehr, die Undurchdringlichkeit, der fatalistisch-unveränderliche Charakter der Wirklichkeit, ihre »Gesetzmäßigkeit« im Sinne des bürgerlichen, betrachtenden Materialismus und der innerlich mit ihm verknüpften klassischen Ökonomie kann sich in hoch höherem Maße verstärken, als wir dies bei den Machisten unter den Nachfolgern von Marx gesehen haben“. Ferner unterstreicht Lukács, dass auch der Machismus einen „Voluntarismus“, aber einen bürgerlichen Voluntarismus, erzeugen kann. Denn Fatalismus und Voluntarismus Schließen einander vom Standpunkt der Dialektik nicht aus, sondern ergänze einander; sie sind nur dialektische Gegensätze, in Wechselbeziehung stehende Begriffe.

Alle diese Erörterungen sind im höchsten Grade nebelhaft und zweideutig: aus ihnen folgt, dass Engels, der das Problem über die Beziehungen von Subjekt und Objekt im historischen Prozess nicht zum Mittelpunkt seiner methodologischen Untersuchung gemacht hat, zum bürgerlichen betrachtenden Materialismus, zum Machismus, zum Fatalismus usw.  entgleist ist. Und Lukács hält Engels vor, dass das Zentralproblem der dialektischen Methode die Veränderung der Wirklichkeit ist, als ob nicht Marx und Engels als erste diese Richtlinien nicht nur aufgestellt, sondern sich auch in allen Einzelheiten streng an sie gehalten hätten, als ob nicht sie als die ersten den Kommunismus als den praktischen Materialismus formuliert hätten. Wenn der Materialismus (Marx und Engels) theoretischer Kommunismus, und der Kommunismus – praktische Materialismus ist, so ist klar, dass in dieser Formel die Einheitlichkeit von Theorie und Praxis und die „revolutionäre Funktion der Theorie“ – um die Worte Lukács zu gebrauchen – in einer Weise dialektisch ausgedrückt ist, wie es besser nicht geschehen kann. Es drängt sich die Frage auf, was denn Lukács noch will, was dieser Reformator erstrebt. Das erkennen wir aus dem Folgenden. Im Voraus können wir bereits jetzt sagen, dass die Theorie und also auch die Erkenntnis für ihn selbstständige, von der „Materie“, von der Wirklichkeit unabhängige Bedeutung haben, dass er die Praxis ebenso idealistisch begreift wie die Theorie, und dass seine Auffassung von der Dialektik von der Auffassung von Marx und Engels abweicht.

Als überaus eigenartig muss die Identifizierung von Gesetzmäßigkeit und Fatalismus, Praxis und Voluntarismus bezeichnet werden, wobei Lukács das Wort Gesetzmäßigkeit in Gänsefüßchen setzt und als „bourgeoise Kategorie“ bezeichnet. Wenn sich Lukács dem Machismus gegenüber ablehnend verhält, so scheint es uns, dass der Grund darin liegt, dass seiner Meinung nach der Machismus nicht idealistisch genug ist, dass er eine Abart des bürgerlichen betrachtende Materialismus ist. Übrigens, von was für einem modernen bürgerlichen Materialismus spricht Lukács? Ist es nicht allbekannt, dass sich die Bourgeoisie jedem Materialismus gegenüber, sowohl dem betrachtenden als auch dem naturwissenschaftlichen, ablehnend verhält?

Was den Machismus betrifft, so ist es durch und durch subjektiv; die physikalische Gesetzmäßigkeit wird von ihm überhaupt geleugnet. Die Notwendigkeit und die Gesetzmäßigkeit beziehen sich doch – wie Mach und seine Jünger sagen – nicht auf die äußere Welt, sondern auf die Welt der Begriffe. Der Machismus enthält tatsächlich viel, zu viel „Voluntarismus“. Aber was ist das für Voluntarismus, den Lukács „diplomatisch“ dem Voluntarismus des Marxismus gegenüberstellt? Der machistische Voluntarismus stützt sich einerseits – wie ich das bereits an anderer Stelle gezeigt habe – auf die Metaphysik des Willens und nähert sich in dieser Beziehung Schopenhauer,[6] hat aber selbstverständlich nichts gemein mit dem Marxismus.

Anderseits gehen gerade bei den Machisten Praxis und Theorie stark auseinander. Isst es nicht Mach, der verkündet, „wer in der Theorie den äußeren Determinismus verkündet, muss in der Praxis unbedingt Indeterminist sein“; der selbe Mach sagt ferner: „Die Richtigkeit der Position des Determinismus und des Indeterminismus kann nicht bewiesen werden“. Also, der Voluntarismus von Mach läuft hinaus auf die Anerkennung der Existenz einer Welt des Willens, d. h. er führt zu einem Idealismus des Willens, wozu auch bei Lukács eine gewisse Neigung besteht. Der Voluntarismus bedeutet den Machisten nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis, wie Lenin richtig gesagt hat, „die subjektive Methode in der Soziologie“. Der Machismus hat sogar nichts gemeijn mit dem naturwissenschaftlichen, bürgerlichen oder betrachtenden Materialismus, wie dies Lukács glaubt.

Der Leser sieht, mit welchem Geschick Lukács die einfachsten Dinge verwirrt und den Verstand des Lesers auf Irrwege führt. Wir haben bereits gehört, dass Engels nach den Worten von Lukács das Wesen der materialistischen Methode nicht darlegte oder nicht begriff und sich deshalb dem bürgerlichen Materialismus in die Arme warf. Aber plötzlich kommt Lukács zur Besinnung, und erklärt auf derselben Seite seines Buches das Gegenteil, was ihn jedoch nicht hindert, einige Zeilen weiter seine erste Beschuldigung zu wiederholen. So schreibt er: „Darum führt jeder Versuch, die dialektische Methode »kritisch« zu vertiefen, notwendig zu einer Verflachung. Denn der methodologische (bei ihm heißt es »methodische« – A. D.) Ausgangspunkt eine jeden »kritischen« Stellungnahme ist eben die Trennung von Methode und Wirklichkeit, von Denken und Sein. … Es muss aber festgestellt werden, dass sie sich nicht in der Richtung, die das innerste Wesen der dialektischen Methode ausmacht, bewegt. Marx und Engels haben sich darüber in einer schwer zu mussdeutenden Weise geäußert.“ (Lukács, daselbst, S. 16.) Unmittelbar darauf führt Lukács Zitate von Engels und Marx an. Das Zitat von Engels lautet: „Damit reduzierte sich die Dialektik auf die Wissenschaft von den allgemeinen Gesetzen der Bewegung, sowohl der äußeren Welt wie des menschlichen Denkens – zwei Reihen von Gesetzen, die der Sache nach identisch, dem Ausdruck nach aber insofern verschieden sind, als der menschliche Kopf sie mit Bewusstsein anwenden kann, während sie in der Natur und bis jetzt auch großenteils in der Menschengeschichte sich in unbewusster Weise, in der Form der äußeren Notwendigkeit, inmitten einer endlosen Reihe scheinbarer Zufälligkeiten durchsetzen. Damit aber wurde die Begriffsdialektik selbst nur der bewusste Reflex der dialektischen Bewegung der wirklichen Welt, und damit wurde die Hegelsche Dialektik auf den Kopf, oder vielmehr vom Kopf auf dem sie stand, wieder auf die Füße gestellt.“ (Engels: Ludwig Feuerbach, 1922, S. 38.) Leider unterbricht Lukács dieses Zitat – wohl nicht ohne Absicht – bereits bei den Worten: „… die der Sache nach identisch“. Das andere Zitat von Marx lautet im .Original folgendermaßen: „Wie überhaupt bei jeder historischen sozialen Wissenschaft, ist bei dem Gange der ökonomischen Kategorien immer festzuhalten, dass, wie in der Wirklichkeit, so im Kopfe das Subjekt, hier die moderne bürgerliche Gesellschaft, gegeben ist, und dass die Kategorien daher Daseinsformen, Existenzbestimmungen, oft nur einzelne Seiten dieser bestimmten Gesellschaft, dieses Subjektes ausdrücken…“ (Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie, 1922, XLIII.)

Gestützt auf diese zwei Zitate, gelangt nun unser feiner Dialektiker zu folgenden Schlussfolgerungen: Erstens: Hier ist – auch bei Engels – ein bestimmter Inhalt der dialektischen Methode ausgedrückt. Zweitens: Marx beschränkt die Anwendbarkeit der dialektischen Methode auf die sozial-historische Wirklichkeit. Drittens: Aus der Gegenüberstellung der beiden Zitate folgt das angebliche Auseinandergehen der Ansichten von Marx und Engels in der Frage von der Anwendbarkeit der Dialektik in bezug auf die Natur. Aber. Lukács bemerkt nicht, in welche Widersprüche er sich verwickelt, wenn er in Übereinstimmung mit Engels sagt, dass die Dialektik die Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungsgesetzen in der äußeren Welt und im menschlichen Denken ist, und zugleich die Dialektik ,,in der Erkenntnis der Natur“ ablehnt. Anderseits ergibt sich keinesfalls aus dem von ihm angeführten Zitat von Marx, wo speziell von den ökonomischen Kategorien die Rede ist, dass Marx die Anwendbarkeit der Dialektik in bezug auf die Natur bestritt. Ferner unterstreicht Lukács, dass das Wesen der Dialektik in der Einheitlichkeit von Denken und Sein, von-Methode und Wirklichkeit besteht. In der Tat sprechen sowohl Engels als auch Marx ganz bestimmt von Kategorien als von den Formen des Seins, von den Existenzbedingungen des betreffenden Subjekts, das sowohl in der Wirklichkeit als auch in unserem Kopf existiert.

Genosse Reway, ein Jünger von Lukács, sagt direkt,[7] dass Engels und Plechanow die Frage der Beziehungen des Seins und des Denkens nicht im Geiste der Dialektik, sondern im Geiste der naturalistischen Metaphysik gelöst haben. Sie verdrehen die Anschauungen Hegels, der die Identität von Subjekt und Objekt, vom Sein und Denken betonte. Aber sie verdrehen nicht nur die Ansichten von Hegel, sondern auch die von Marx, der angeblich ebenfalls diesen Standpunkt vertrat. Was Plechanow betrifft – schreibt Reway, – so hat er sich sogar dahin versteigen, zu erklären, dass er es für möglich hält, die Wurzel der Psychologie in der Physiologie des Nervensystems zu suchen. Engels, Plechanow und ihre Anhänger – sagt weiter Reway, dieser treue Schüler von Lukács – stehen auf dem Standpunkt einer „unbegreiflichen Verherrlichung“ der Naturwissenschaftlichen Erklärung. Was unsere Neuerer damit sagen wollen, weiß Allah allein. Aber jedenfalls, richtig ist das eine, dass Marx und Engels, Plechanow und Lenin und ihre Schüler sich wirklich. erkühnten, „den philosophischen Marxismus mit dem- naturalistischen Materialismus verknüpfen“, wie sich unsere Kritiker großartig ausdrücken und worüber sie so in Entsetzen geraten. Alle diese orthodoxen Marxisten waren bemüht, „die Natur dialektisch zu machen“. (Dieser bemerkenswerte Gedankensalto wird vom Genossen Reway ausgeführt.) Irgendeinen Sinn enthalten diese Worte natürlich nicht. Niemand hat je versucht, die Natur dialektisch zu machen. So können sich nur subjektive Idealisten ausdrücken, die mit Verachtung auf den „naturalistischen Materialismus“ herabsehen. Vom Standpunkt des dialektischen Materialismus ist die Natur an sich dialektisch. Und nur soweit ist auch unsere Erkenntnis von der Natur dialektisch. Aber unsere Idealisten sind scheinbar gar nicht imstande, den objektiven Charakter des dialektischen Prozesses in der Natur und in der Geschichte zu begreifen. Der Leser sieht, welche idealistischen Zickzackwege der Marxist einschlagen muss, wenn er den philosophischen Materialismus ablehnt. In ihrem Bestreben, die Natur dialektisch „zu machen“, machten die orthodoxen Marxisten die Dialektik naturalistisch – sagen unsere strengen Kritiker. Denn der Versuch, die Natur dialektisch zu sehen, führt dazu, dass die historische Dialektik vernachlässigt wird. Das Bestreben, die Geschichte unter die Herrschaft der Natur zu bringen, führt die Verzerrung der dialektischen Struktur der Geschichte nach sich. Es ist deshalb kein Zufall, so folgern unsere Neuerer, dass unsere politisch-revolutionären Orthodoxen dem dogmatischen „bürgerlichen“ Materialismus naiv-sorglos gegenüberstehen, während sie gleichzeitig in den Lehren von Kant, Mach usw. eine unmittelbare politische Gefahr erblicken. Es ist wohl auch kein Zufall, dass die Dialektik als theoretisches Werkzeug von jenen Marxisten so vollkommen beherrscht wird, bei denen sie angeblich in ihrer philosophischen Bedeutung verzerrt und nur äußerlich angewendet wurde, während jene Marxisten, die den primitiven Materialismus kritisch überwanden, die Dialektik nicht nur auf dem Gebiete der Philosophie, sondern auch auf dem Gebiete der politischen Theorie ablehnten. Das ist das Liedchen der Anhänger von Lukács. Sie verhalten sich scharf ablehnend zum „dogmatischen“ Materialismus, aber sie sind liebenswürdig-herablassend zum Machismus und Kantianismus die den primitiven Materialismus „kritisch“ überwunden haben. Sie können es nicht begreifen, wie diese orthodoxen Marxisten sich so „sorglos“ dem „bürgerlichen“ Materialismus gegenüber verhalten und gleichzeitig gegen Machistcn und Kantianer vorgehen. Indessen ist das gar nicht so schwer zu verstehen. Die orthodoxen Marxisten „zerstörten“ und werden zerstören (dieser Ausdruck stammt von den Anhängern Lukács‘, die darüber Tränen vergießen) den Machismus und den Kantianismus deshalb, weil sie idealistische und nicht materialistische Systeme sind. Für den Materialismus treten sie deshalb ein, weil sie Marxisten, d. h. Materialisten sind. Sogar der französische, d. h. der bürgerliche Materialismus „geriet nach den Worten von Marx direkt in den Sozialismus und Kommunismus“. Derselbe Marx, den unser lieber. Lukács und seine Anhänger jetzt vergebens in einen Idealisten umkrempeln wollen, war der Meinung, dass „nicht viel Verstand dazu nötig sei, um die Verbindung begreifen, die zwischen den französischen Materialismus und dem Kommunismus bestehe…“ Er sah ganz richtig im Materialismus sozialistische Strömungen, das logische Fundament des Kommunismus. Aber der alte französische Materialismus war gekennzeichnet durch seinen metaphysischen und mechanischen Charakter. Das große Verdienst von Marx und Engels besteht darin, dass sie daraus den dialektischen Materialismus formten. Lukács und seine Anhänger stehen mit ihren Zweifeln vor einer ihnen unbegreiflichen Tatsache. Wie konnte es geschehen, dass materialistische Marxisten,[8] die allerdings die philosophische Natur der Dialektik „verdrehten“ und sie nur äußerlich anwandten, diese Dialektik doch beherrschten und sich in der Politik auf den Boden des revolutionären Marxismus stellten, während Machisten und Kantianer, die den naiven Materialismus „kritisch“ überwanden, die Dialektik über Bord warfen und sich als die vulgärsten Revisionisten erwiesen? Diese Tatsache zu erklären, sind sie nicht imstande, trotzdem sie sie „nicht für zufällig halten.

 

IV.

Also Engels und seine Anhänger lösen das Problem von den Beziehungen zwischen Denken und Sein, Subjekt und Objekt im Sinne der „naturalistischen Metaphysik“, d. h. im Sinne des Materialismus, was unseren Reformatoren sehr Missfällt. Sie verwerfen, als wahre „Orthodoxe“ im Gegensetz zu irgendeinem Engels, den „naiven“ Materialismus und vertreten die Identität von Subjekt und Objekt, von Denken und Sein. Hierbei berufen sie sich, wie wir bereits gesehen haben, auf Marx, dessen Lehren von Engels verdreht oder nicht verstanden wurden. Wir haben uns bereit überzeugt, inwieweit dies zutrifft. Die ganz unbegründete Gegenüberstellung von Engels und Marx muss entschieden zurückgewiesen werden.  Niemals stand Marx auf diesem Standpunkt der Identität von Subjekt und Objekt, von Denken und Sein. Das ist reiner Idealismus, der von rechtgläubigen Hegelianern in der Art eines Lukács und seine Anhänger verkündet werden kann, der aber Marx vollkommen fremd war. Lenin hat ganz richtig gegen eine solche Fragestellung durch A. Bogdanow, mit welchem Lukács überhaupt sehr vieles gemein hat, protestiert. Über die Identität von Sein und Erkenntnis schrieb Lenin: „Das gesellschaftliche Sein und die gesellschaftliche Erkenntnis sind miteinander ebenso wenig identisch, wie das Sein und die Erkenntnis im allgemeinen. Daraus, dass Menschen, die eine Gemeinschaft eingehen, dies als bewusste Wesen tun, kann auf keine Weise gefolgert werden, dass die gesellschaftliche Erkenntnis mit dem gesellschaftlichen Sein identisch ist. In allen irgendwie verwickelten gesellschaftlichen Formationen – und besonders in der kapitalistischen gesellschaftlichen Formation – erkennen die eine Gemeinschaft eingehenden Menschen nicht, welche gesellschaftlichen Beziehungen sich hierbei bilden, nach welchen Gesetzen sie sich entwickeln usw. … Die gesellschaftliche Erkenntnis ist das Spiegelbild des gesellschaftlichen Seins. – Das ist der Inhalt der Lehre von Marx. Das Spiegelbild kann die richtige Kopie des Reflektierten sein, aber von einer Identität zu sprechen, ist Unsinn. Die Erkenntnis reflektiert das Sein. – Das ist die allgemeine Richtlinie des gesamten Materialismus.“[9] Alle orthodoxen Marxisten stehen auf folgendem von Lenin vertretenen Standpunkt: Sein und Denken sind nicht identisch, sondern von einander verschieden. Das Sein existiert unabhängig von der Erkenntnis als eine Art objektive Realität. Die Erkenntnis oder das Denken reflektieren nur das Sein. Wegen dieser Gleichsetzung von Sein und Denen griff Lenin die Machisten mit ganzer Schärfe an. Bei Lukács und seinen Anhängern hat die Fragestellung von der Identität von Denken und Sein, von Subjekt und Objekt einen noch mehr idealistischen Charakter als bei den Machisten. Es ist uns nicht möglich, in dem Rahmen unserer Abhandlung ausführlicher bei diesem Problem zu verweilen. Wir wollen nur, um Missverständnissen vorzubeugen, bemerken, dass man den Unterschied von Sein und Denken nicht metaphysisch, sondern dialektisch verstehen muss. Zwischen sein und Denken besteht kein absoluter Abgrund, aber es besteht auch nicht die idealistische Identität, von der Lukács spricht. Die grundlegende historisch-materialistische Richtlinie, nach welcher die Erkenntnis durch das Sein bestimmt wird, erfährt durch die Philosophie der Identität von Erkenntnis und Sein eine vollkommene Verzerrung. Das zeigt sich namentlich darin, wie Lukács das „Problem“ des Proletariats behandelt. Die Anhänger von Lukács befriedigt nicht die von Marx, Engels und Plechanow gefundene materialistische Entscheidung der Frage von den Beziehungen zwischen Denken und Sein. Betrachten wir einmal, etwa an einem Beispiel von Plechanow, wie die Materialisten dieses Problem auslegen. „Ich bin »Ich« für mich selbst und zugleich – »Du« für den anderen. Ich bin Subjekt und gleichzeitig Objekt. Es muss hier außerdem bemerkt werden, dass Ich – nicht das abstrakte Wesen ist, mit welchem die idealistische Philosophie operiert. Ich – ist ein wirkliches Wesen; mein Körper gehört zu meinem Wesen, ja, noch mehr – mein Körper als Ganzes ist mein Ich, mein wirkliches Wesen. Nicht das abstrakte Wesen denkt, sondern gerade dieses wirkliche Wesen, dieser Körper. Also im Gegensatz zu dem, was die Idealisten behaupten, ist das wirklich materielle Wesen Subjekt, und das Denken Prädikat. Darin besteht auch die einzig mögliche Lösung dieses Widerspruches zwischen Sein und Denken, den der Idealismus so vergeblich zu lösen versucht. Hier wird nicht ein einziges Element der Widersprüche beseitigt, beide werden bewahrt und zeigen ihre wirkliche Einheitlichkeit.[10]

Uns scheint. dass das die einzig mögliche dialektische Lösung der Frage ist. Hier wird nicht nur das Moment der Einheitlichkeit, sondern auch das Moment der Gegensatzmäßigkeit unterstrichen. Es fragt sich, warum diese materialistische und gleichzeitig dialektische Fragestellung Lukács und seine Anhänger nicht zufriedenstellt. Eine vernünftige Antwort auf diese Frage geben sie nicht. Wir würden aber sehr gerne wissen, wodurch sie diesen „naturalistischen Materialismus“ ersetzen wollen.

Indem die Anhänger von Lukács gegen die „Übertragung“ der Dialektik auf die Natur protestieren, stellen sie wirklich lächerliche Ansichten auf. Einesteils behaupten sie, dass die materialistisch gesehene Natur undurchdringlich ist; sie bleibt ein dem Subjekt metaphysisch gegenübergestelltes Objekt, das sozusagen für das Subjekt unsichtbar ist. Wie ist diese Behauptung zu verstehen? Kann man es leugnen, dass der Mensch durch seine Tätigkeit die Natur ändert? Oder ist die Natur der menschlichen Erkenntnis unzugänglich? Wenn dem aber nicht so ist, dann ist es dumm, von der „Undurchdringlichkeit“ der Natur zu sprechen. Eine andere tiefsinnige Erklärung läuft darauf hinaus, dass wir die Natur durch das „Hineintragen“ der Dialektik „historisieren“, dass eine solche „Historisierung“ oder Dialektisierung der Natur unbedingt zur Naturalisierung der Historie (oder Dialektik) führt. Was soll man zu einer solchen tiefsinnigen Argumentation sagen? Augenscheinlich sind unsere orthodoxen Hegelianer geneigt, in der Natur irgendetwas Stein-Gewordenes zu sehen, das den Gesetzen der historischen Entwicklung nicht unterworfen ist. Aber die Behauptung solcher Dummheiten in unseren Tagen ist unverzeihlich. Niemand anderes als Marx, auf dessen Autorität die Lukács-Anhänger sich so gerne berufen, hat gesagt, dass es im Grunde genommen nur eine Wissenschaft gibt – die Geschichte, die sich teilt in die Geschichte der Natur und in die Geschichte der Menschen.[11] Das schließt selbstverständlich nicht aus, dass die Geschichte der Natur von ganz anderen Gesetzen gelenkt wird als die Geschichte der Menschen. Was bleibt also von der Behauptung Lukács übrig, dass Marx die Dialektik aus der Natur verjagt habe? Auch nicht ein Jota – denn die Behauptung hat sich Lukács aus den Fingern gesogen. Wir haben bereits gehört, dass der „Anti-Dühring“, in welchem nach den Worten von Lukács eine Verdrehung des Marxismus festzustellen ist, eine Vorredigierung durch Marx selbst erfuhr; das heißt also, dass Marx seine eigenen Lehren selbst verdreht hat.Wer den Briefwechsel zwischen Marx und Engels kennt, der weiß, dass sie während eines Zeitraums von 40 Jahren in allen wichtigen Fragen der Theorie und Praxis des Marxismus und besonders in der Frage der Dialektik in der Natur ihre Meinungen ausgetauscht haben. Dieser Briefwechsel beweist uns noch einmal, dass zwischen Marx und Engels eine vollkommene Übereinstimmung in allen kritischen Fragen herrschte. Engels befasste sich speziell mit Fragen der Naturwissenschaft, während Marx sich vollständig dem Studium der Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung widmete. Aber diese Arbeitsteilung war begleitet von einem gegenseitigen Gedankenaustausch, einer sozusagen gegenseitigen Kontrolle. Marx informierte Engels aufs eingehendste über alle seine Arbeiten, und Engels beriet sich in allen Fragen mit Marx. Besonders die Frage von der Dialektik in der Natur wird von Engels in seinen Briefen öfters angeschnitten. In den Antworten von Marx finden wir immer seine volle Übereinstimmung mit Engels. Es ist doch klar, dass Marx, wenn er die Ansichten von Engels betreffs der „Dialektik in der Natur“ nicht geteilt hätte, dies seinem Freund irgendwie zu verstehen gegeben hätte. Wir finden gerade das Gegenteil. So erwähnt z. B. Engels in einem Briefe vom l6. Juni l867 die neue Molekulartheorie, die er Hoffmann zuschreibt: „Das Molekül als kleinster, selbständiger Existenz fähiger Teil der Materie ist eine ganz rationelle Kategorie, ein »Knoten«, wie Hegel sagt, in der unendlichen Reihe der Teilungen, der sie nicht abschließt, aber einen qualitativen Unterschied setzt.“ (Der Briefwechsel zwischen Friedrich Engels und Karl Marx, l92l, III. Band. S. 38l.). Als Antwort auf diesen Brief schreibt Marx am 22. Juni l867: „Mit Hoffmann hast Du ganz recht. Du wirst übrigens aus dem Schluss meines Kapitels III, wo die Verwandlung des Handwerkmeisters in einen Kapitalisten – infolge bloß quantitativer Änderungen – angedeutet wird, ersehen, dass ich dort im Text Hegels Entdeckung über das Gesetz des Umschlags der bloß quantitativen Änderung in qualitative zitiere als gleich bewährt in Geschichte und Naturwissenschaften.“[12] Marx spricht also ganz bestimmt von einem dialektischen Gesetz, das sowohl durch die Geschichte als durch Natur bekräftigt wird. Man könnte noch eine ganze Reihe anderer Tatsachen anführen als Beweis dafür, dass zwischen Marx und Engels in der Frage von der Dialektik in der Natur vollkommene Übereinstimmung herrschte. Wir glauben aber. dass dies überflüssig und jedem Marxisten auch ohne besondere Zitate klar ist.

 

V.

Wir müssen noch einige Worte über die Dialektik im allgemeinen sagen, weil Genosse Lukács da mit seiner besonderen Auffassung hervortritt, dass die orthodoxen marxistischen Materialisten mit Engels an der Spitze nicht nur Marx, sondern Hegel „verdreht“ haben. Lukács fühlt sich berufen, nicht nur den echten Marx, sondern auch den echten Hegel wieder von den „Verdrehungen“ der Orthodoxen zu reinigen. Worin besteht das Wesen der Dialektik? Auf diese Frage gibt Lukács folgende Antwort: Die Grundlage der Dialektik ist die gegenseitige Einwirkung von Subjekt und Objekt, die Einheitlichkeit von Theorie und Praxis, und die historische Veränderung des Substrats der Kategorien, als Grundlage ihrer Änderung im Denken. Stimmt das? Nein, das stimmt nicht. Seher wir einmal nach, was Hegel unter Dialektik versteht. Hegel sagt in seiner Enzyklopädie (§ 87, Anm. 1.), dass die wirkliche Dialektik der innere und fortschreitende Übergang eine Erklärung in eine andere ist, in welcher zutage tritt, dass diese Erklärungen des Verstandes einseitig und eng begrenzt sind, d. h. eine Negierung ihrer selbst enthalten. Seinen besonderen Charakter bekommt das aller dadurch, dass es sich selbst aufhebt. Ferner sagt Hegel in Anmerkung I zu diesem Paragraphen, dass es sehr wichtig ist, die wirkliche Bedeutung der Dialektik zu begreifen. Sie ist der Anfang jeder Bewegung, jedes Lebens und jeder Tätigkeit in der Welt der Wirklichkeit. Ebenso ist die Dialektik auch die Seele jeder wirklichen Erkenntnis. Gewöhnlich überschreiten wir die Grenzen abstrakter Erklärungen des Verstandes nur aus dem Gerechtigkeitsgefühl heraus, nach dem Sprichwort: „Leben und leben lassen“ und lassen mit Rücksicht darauf sowohl Erklärungen als auch ihre Widersprüche zu. Wir sagen z. B., dass der Mensch sterblich ist, und führen den Tod auf äußere Ursachen zurück, d. h. wir schreiben dem Menschen zwei Eigenschaften zu: Leben und Sterblichkeit. Aber das Leben trägt den Keim des Todes in sich, wie jedes Endliche sich selbst widerspricht und sich deshalb aufhebt.“ Und weiter heißt es in derselben Anmerkung: „Dié Dialektik wird vom Verstand hartnäckig verworfen. Aber sie ist kein ausschließliches Charakteristikum der Philosophie. Sie ist im Gegenteil schon in der allgemeinen und alltäglichen Erkenntnis der Philosophie enthalten. Alles, was uns umgibt, kann als Beispiel für die Dialektik dienen. Wir wissen, dass sich alles Endliche ändert und vernichtet; diese Veränderung und Vernichtung des Endlichen ist nichts anderes als seine Dialektik; es enthält in sich sein Anderes, überschreitet deshalb die Grenze seiner unmittelbaren Existenz und geht in sein Gegenteil über.“ Die Dialektik ist also nach der Lehre von Hegel (und selbstverständlich auch nach der Lehre des orthodoxen Marxismus) nicht etwas äußerliches in bezug auf den Gegenstand, keine Bewegung unseres subjektiven Gedankens, kein mechanischer Kampf sich in entgegengesetzten Richtungen bewegender Kräfte, wie es Dühring annimmt, sondern das innere Leben der Gegensätze selbst, der dem Gegenstande immanente Prozess der Veränderung und Vernichtung. Deshalb sagt Hegel, dass die Veränderung und die Vernichtung des Gegenstandes seine Dialektik ist. In dem gleichen Sinne spricht Engels von dem Gegensatz, der objektiv in den Dingen und Erscheinungen selbst vorhanden ist.[13]

In Anmerkung II zum § 81 verweist Hegel weiter auf die positiven Resultate der Dialektik. Die Philosophie verweilt nicht bei dem negativen Resultat der Dialektik. … Das Resultat der Dialektik ist die Negierung, aber diese Negierung ist zugleich eine Bejahung, weil sie in sich das als aufgehoben enthält, von dem sie hervorgegangen ist, und getrennt davon nicht existiert. Diese Einheitlichkeit der beiden einander gegensätzlichen Erklärungen bildet das höhere, sogenannte positiv-verständliche Moment, zum Unterschied von den zwei niederen Momenten der Idee: der abstrakten und der speziell dialektischen oder negativ-verständlichen.[14]

Dieselben Gedanken entwickelt Hegel auch in der „Wissenschaft der Logik“ (und in der „Phänomenologie des Geistes“). In dem Schlusskapitel „Die absolute Idee“ entwickelt Hegel wieder den Gedanken, dass das Wesen der Dialektik auf der Voraussetzung und der Beseitigung der den Begriffen (und auch den Dingen) eigenen Widersprüche beruht. Die Vorwärtsbewegung vollzieht sich über drei Momente und zwei Verneinungen: Voraussetzung des Begriffes, Gegensatz und Lösung des Gegensatzes – weshalb Hegel die Dialektik auch Methode der absoluten Verneinung nennt. „Das Unmittelbare ist nach dieser negativen Seite an dem Andern untergegangen, aber das Andere ist wesentlich nicht das leere Negative, das Nichts, das als das gewöhnliche Resultat der Dialektik genommen wird, sondern es ist das Andere des Ersten, das Negative des Unmittelbaren; also ist es bestimmt als das Vermittelte – enthält überhaupt die Bestimmung des Ersten in sich. Das Erste ist somit wesentlich auch im Andern aufbewahrt und erhalten.“ (Hegel, Wissenschaft der Logik. II. Tein, S. 494. Ausg. Lasson,1923.)

Engels erklärt ganz im Sinne von Hegel, dass die Dialektik in nichts anderem bestehe, als in der Anschauung, dass man die Welt nicht betrachten dürfe als einen Komplex fertiger Dinge, sondern als einen Komplex von Prozessen; die scheinbar unveränderlichen Dinge erfahren ebenso wie ihre gedanklichen Reflexe – die Begriffe – ununterbrochene Veränderungen, entstehen und verschwinden beständig, und die weitere Entwicklung bahnt sich schließlich bei aller scheinbaren Zufälligkeit und trotz zeitweiliger Rückströmungen ihren Weg. Und in voller Übereinstimmung mit Hegel lehrt Engels, dass der innere Stimulus[15] oder Prinzip jeder Entwicklung – der anfängliche Gegensatz ist. In dieser Frage besteht also zwischen Hegel einerseits und Marx und Engels andererseits volle Übereinstimmung.

Sie sehen die Welt – die Natur und die Geschichte – als dialektischen Entwicklungsprozess, in dessen Verlauf alles Endliche entsteht, sich ändert und sich vernichtet, dank der ihm eigenen inneren Gegensätze. Das ist das Wesen der Dialektik. Jetzt taucht die Frage auf von dem Zusammenhang der Kategorien im System der Dialektik, von der relativen Bedeutung jeder einzelnen Kategorie, und besonders die Frage von der Stellung der Kategorien des Subjekts und Objekts, der Theorie und der Praxis. Diese Kategorien sind von Hegel auch in dem letzten Teil der „Logik“ entwickelt. Gerade diese Kategorien hat Lukács als die wesentlichsten herausgegriffen. Leider ist es uns diesmal nicht möglich, uns mit der Analyse und der relativen Bewertung der verschiedenen Kategorien bei Hegel und im System des Marxismus zu befassen. Wir möchten nur unterstreichen, dass Hegel stets den Entwicklungsprozess in allen seinen Momenten in Betracht gezogen hat, dass er, den Gipfel der absoluten Idee erklimmend, zugleich zeigte, dass der gesamte Entwicklungsprozess ihren Inhalt bildet. Die Vorwärtsbewegung beginnt von abstrakten und einfachen Begriffen oder Kategorien, und geht in die nächsten Begriffe über, die immer reicher und konkreter werden. Hegel sagt, dass auf jeder Stufe des erweiterten bestimmten Begriffes die ganze Masse seines früheren Inhalts auftaucht, von welchem bei der dialektischen Entwicklung nicht nur nichts verloren geht, sondern der alles neu Erworbene mit sich trägt und sich in sich bereichert und verdichtet. Das ist auch im großen und ganzen der Standpunkt von Marx. „Die einfachsten Kategorien sind Ausdrücke der Bedingungen, unter denen sich die unentwickelte Konkretheit verwirklichen kann“; die konkrete Kategorie ist nach den Worten von Marx – der ideelle Ausdruck des vielseitigen Zusammenhanges. „Die entwickelte Konkretheit bewahrt die einfachste Kategorie als untergeordnete Beziehung.“ Es würde uns zu weit führen, wenn wir die von Marx in den angeführten Worten geäußerten Gedanken eingehend analysieren wollten; wir müssen nur unterstreichen, dass man vom Standpunkt der dialektischen Methode die Resultate nicht von dem gesamten Entwicklungsprinzip trennen darf, dessen Ausdruck ja das Resultat ist. Deshalb werden alle „niedrigen“ Kategorien auf den höheren Entwicklungsstufen bewahrt und nicht verändert, wie das offenbar Lukács glaubt, wenn er im gesellschaftlich-historischen Leben „der gegenseitigen Einwirkung von Subjekt und Objekt“, der Einheitlichkeit von Theorie und Praxis entscheidende Bedeutung beimisst, ganz zu schweigen davon, dass diese letzten dialektischen Gegensätze von ihm falsch verstanden werden. Nach Lukács wird die „Praxis“ überwunden nur durch die Theorie, nur durch die Erkenntnis, und nicht durch die Selbstentwicklung der Wirklichkeit, von der die Erkenntnis ja ein Teil ist. Was die „gegenseitigen Beziehungen von Subjekt und Objekt“ betrifft, so nehmen sie bei ihm in voller Übereinstimmung mit seiner ganzen idealistischen Konzeption, identische Bedeutung an. Es ist aber bemerkenswert, dass selbst der absolute Idealist Hegel, bei dem manchmal die Dialektik über den Idealismus triumphiert, vor der metaphysischen Auffassung der Einheitlichkeit von Subjekt und Objekt warnte. So sagt er an einer Stelle der „Enzyklopädie“, dass die Erklärung – „das Absolute ist die Einheitlichkeit von dem Subjektiven und dem Objektiven“ – richtig ist, aber nicht vollständig, weil hier nur die Einheitlichkeit betont wird, während das Subjektive und das Objektive nicht nur miteinander identisch, sondern auch voneinander verschieden sind. (S. Anm. zu § 82.) Wir haben bereits gesehen, wie die Materialisten die Einheitlichkeit von Subjekt und Objekt, von Denken und Sein auffassen. In den oben angeführten Zitaten von Marx und Engels glaubt Lukács den Beweis dafür gefunden zu haben, dass die Begründer des Marxismus Denken und Sein miteinander identifizieren. Wie ist aber diese „Identität“ zu verstehen? Unser Meinung nach ist sie so zu verstehen, dass unsere Idee der Wirklichkeit, und unser subjektives Denken dem objektiven Sein entspricht. In seinem Brief an Konrad Schmidt vom 12. März 1895 schreibt Engels, dass die Identität von Denken und Sein (ich verwende die Worte von Hegel) überall Ihrem Beispiel vom Kreis und dem Vieleck entspricht. Beide – sowohl die Idee von den Dingen als auch ihre Wirklichkeit – bewegen nebeneinander wie zwei Asymptoten, die sich immer mehr nähern, ohne sich jedoch je zu schneiden. Dieser Unterschied der beiden ist der Unterschied, der es bewirkt, dass die Idee nicht unmittelbar, ohne weitere Wirklichkeit auftritt, und dass die Wirklichkeit nicht unmittelbar ihre eigene Idee ist. Die Idee fällt nicht unmittelbar mit der Wirklichkeit zusammen, aber sie folgt aus ihr; die Wirklichkeit entspricht den Resultaten des Denkens; die Idee entspricht der Wirklichkeit, indem sie sich ihr asymptotisch nähert, wie sich Engels ausdrückt. Denselben Gedanken entwickelt, wie wir gesehen haben, auch Lenin. Wenn also Lukács das Wesen der Dialektik in der Identität von Sein und Denken sieht, dann begeht er einen groben Fehler und beruft sich hierbei vergebens auf Marx und Engels

Im Hegelschen System bilden die Erkenntnis, sowie die Idee des Guten objektive Stufen in der Entwicklung der absoluten Idee. Sie hat sich selbst zum Gegenstand. Die Einheitlichkeit des Subjektiven und Objektiven bildet eigentlich die Idee. Die Erkenntnis ist die theoretische Tätigkeit der Idee; die Forderung, das Gute zu verwirklichen, ist die praktische Tätigkeit der Idee. Die absolute Idee ist die Einheitlichkeit von theoretischer und praktischer Idee. Gestützt auf Hegel, stellt Lukács als höhere Kategorie des gesellschaftlich-historischen Lebens die „Einheitlichkeit von Subjekt und Objekt“, d. h. die Erkenntnis oder die Idee auf. Lukács entwickelt seinen Gedanken nicht bis ans Ende, aber er ist trotzdem nicht schwer zu erraten. Seine Auffassung von den gegenseitigen Beziehungen zwischen Theorie und Praxis – oder wie sich Hegel ausdrückt, von der Einheitlichkeit von Erkenntnis und Leben – erinnert an die Hegelsche absolute Idee, die eben die Einheitlichkeit der theoretischen und praktischen Idee bildet, denn Lukács fasst diese gegenseitigen Beziehungen nicht materialistisch, sondern wie Hegel, idealistisch auf. Bei Lukács bildet also die Erkenntnis und die Idee die Basis für die sozial-historische Dialektik. Nachdem er mit seiner Umkremplung des Marxismus im idealistischen Geist fertiggeworden ist, schlägt er hilflos die Hände zusammen und fragt: Wie konnte es geschehen, dass Engels gerade das Wichtigste in der Dialektik nicht bemerkte, dass er sie nicht krönte mit der „Einheitlichkeit von Subjekt und Objekt“. Jetzt verstehen wir auch, warum Lukács die Dialektik in der Natur verwirft. Da sie nun einmal zur „gegenseitigen Einwirkung von Subjekt und Objekt“, zum Erkenntnisprozess führt, gibt es für sie natürlich keinen Platz in der Natur.[16]

Man könnte uns entgegenhalten, dass Lukács unter „gegenseitiger Einwirkung von Subjekt und Objekt“ nicht den Prozess der Erkenntnis, sondern etwas ganz anderes versteht. Darauf können wir antworten, dass der einzige materialistische Sinn dieser „gegenseitigen Einwirkung“ nur sein kann: ihre Auffassung als Prozess der Arbeit, als Prozess der Produktion, als Tätigkeit, als Kampf der Gesellschaft mit der Natur. Mensch ändert nicht nur die Form dessen, was durch die Natur geschaffen ist; in dem-Erzeugnis der Natur verwirklicht er zugleich auch sein bewusstes Ziel, das wie ein Gesetz die Methode und den Charakter seiner Handlungen bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muss – sagt Marx. Die Geschichte ist nichts anderes, als eine ununterbrochene Veränderung der menschlichen Natur. Indem der Mensch auf die äußere Natur einwirkt, ändert .er im Prozess dieser Einwirkung seine eigene Natur. Die Produktion der Idee und der Begriffe befindet sich in engster Abhängigkeit und im Zusammenhang mit der materiellen Tätigkeit der Menschen und mit ihren materiellen Beziehungen. Das Sein der Menschen ist der wirkliche Prozess ihres Lebens. Die Erkenntnis kann nichts anderes sein, als die Erkenntnis des Seins. Der Zusammenhang d.es Individuums (Subjekt) mit der Natur (Objekt), die Einheitlichkeit beider ist die Voraussetzung der Erkenntnistheorie; der Zusammenhang der menschlichen Gesellschaft mit der Natur – und dieser Zusammenhang wird verwirklicht durch die Produktion des materiellen Lebens – bildet die Grundtage und den Ausgangspunkt jedes historischen Prozesses. Unter solchen Umständen bedeutet „gegenseitige Einwirkung von Subjekt und Objekt“ – menschliche Tätigkeit, Arbeit, Produktionsprozess. Wir können deshalb ganz bestimmt sagen, dass die „Kategorie“ der Produktivkräfte, der Produktion, eine wirkliche „Einheitlichkeit“ von Subjekt und Objekt des historischen Prozesses bildet, denn in diesen „Kategorien“ ist der unmittelbare Zusammenhang von Subjekt (Gesellschaft) und Objekt (Natur), ihre wirkliche materielle Einheitlichkeit gegeben. Die Einseitigkeiten des Subjekts und des Objekts werden durch den realen Prozess, durch die menschlich empfindende Tätigkeit, durch die Praxis aufgehoben. Welches ist die Praxis des gesellschaftlichen Menschen? Der Produktionsprozess. „Die Produktion“ – sagt Marx – „erzeugt nicht nur den Gegenstand für das Subjekt, sondern auch das Subjekt für den Gegenstand.“ Wenn wir den Ausdruck „gegenseitige Einwirkung von Subjekt und Objekt“ im erweiterten Sinn nehmen, so ist es klar, dass er die zentrale „Kategorie“ des gesamten Marxismus vorstellt, dass die Produktion die konkrete Einheit des gesamten gesellschaftlich-historischen Prozesses ist. Wenn das aber zutrifft, wie kann man dann, so wie Lukács, mit der kategorischen Erklärung kommen, dass die ,,gegenseitige Einwirkung von Subjekt und Objekt“ im historischen Prozess bei Engels nicht nur nicht das wichtigste Problem der Dialektik bildet, sondern dass der arme Engels diese Frage sogar nirgends berührt habe, weshalb er auch von Lukács so streng gerügt wird. Offenbar versteht Genosse Lukács unter dieser ,,gegenseitigen Einwirkung“ wieder etwas ganz besonderes.

Eine weitere Sünde begeht Engels – wenn man Lukács glauben darf – dadurch, dass er die ,,Einheitlichkeit von Theorie und Praxis“ nicht begriffen hat. Und Lukács belehrt Engels über die außerordentliche Wichtigkeit dieser Einheit. Was ist aber unter der Einheit von Theorie und Praxis zu verstehen? Jeder Student weiß, dass Marx und Engels gelehrt haben, dass sich ihr Materialismus nicht beschränkt auf die Erklärung der Welt, sondern sich die Aufgabe stellt, die Welt zu verändern; dass die revolutionäre Theorie aufs engste verbunden ist oder verbunden sein muss mit der revolutionären Praxis. Entsprechend einer solchen Auffassung der Einheit von Theorie und Praxis bezeichneten sie den Kommunismus als praktischen Materialismus und sahen in ihrer eigenen Theorie das unmittelbare Resultat der revolutionären Bewegung. Die wirkliche Einheit von Theorie und Praxis wird verwirklicht durch die praktische Veränderung der Wirklichkeit, durch die revolutionäre Bewegung, die sich auf die theoretisch entdeckten Entwicklungsgesetze der Wirklichkeit stützt. Es ist dumm und lächerlich, Engels dieses ABC erst beibringen zu wollen. Aber wenn zwei dasselbe tun, ist es nicht immer dasselbe! Lukács behauptet, dass Engels diese Frage nicht einmal berührt habe, das heißt also, dass Lukács unter ,,Einheitlichkeit von Theorie und Praxis“ wieder etwas ganz besonderes versteht. Die Einheitlichkeit von Subjekt und Objekt versteht er als idealistische Identität so, dass das Objekt von dem Subjekt verschlungen wird. Die Einheitlichkeit von Theorie und Praxis interpretiert er so, dass sich die Praxis in der Theorie auflöst und von ihr überwunden wird. Es ist selbstverständlich, dass weder Marx noch Engels jemals diesen idealistischen Standpunkt eingenommen haben.

Mit unseren, in aller Eile dargelegten Bemerkungen haben wir nur einige der wichtigsten Probleme berührt und behalten uns vor, auf das Buch des Genossen Lukács bei anderer Gelegenheit zurückzukommen.

 

[1] Arbeiter-Literatur (Wien), Oktober 1924 (Jg. 1, H. 10), 615–640. – S. die russische Version des Aufsatzes hier. – der Hrsg.

[2] H. Weendorf, Dialektik und materialistische Geschichtsauffassung (Historische Vierteljahresschrift, XXI. Jg. 2. H.)

[3] Werner Sombart, „Der Begriff der der Gesetzmäßigkeit bei Marx“ (Schmollers Jahrbuch, 47. Jahrg. 1924.) – [S. hier.]

[4] Daselbst, Seite 30.

[5] Siehe sein Buch „Philosophie und Marxismus”.

[6] Siehe auch Lenin, „Materialismus und Empiriokritizismus, 1923, Seite 158 (russisch).

[7] Siehe Josef Révai: Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewusstsein, Die Rote Fahne (Wien), 31. Mai 1923 (Jg. 6., Nr. 1232.), 2–3., s. hierder Hrsg.

[8] Wir denken hier natürlich nicht an E. Bernstein, den Lukács infolge irgendeines wunderlichen Missverständnisses zu den Materialisten zählt. Tut er dies vielleicht deshalb, um die Materialisten zu kompromittieren?

[9] N. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, 1923, S. 273 (russisch).

[10] G. Plechanow, Grundfragen des Marxismus (Ausgabe von Rjasanow, 1922, S. 19. russisch).

[11] S. „Marx u. Engels-Archiv“, red. v. D. Rjasanow, Bd. I, (Marx und Engels „Über Feuerbach“.)

[12] Hier wird ebenso wie in der Naturwissenschaft die Richtigkeit des von Hegel in seiner „Logik” dargelegten Gesetzes bestätigt, dass rein quantitative Änderungen bei einer gewissen Grenze in qualitative übergehen (K. Marx, „Kapital”, 1920, S. 285.).

[13] Engels. Anti-Dühring.

[14] Siehe auch: Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. Ausgabe Lasson, 1911. „Die höhere Dialektik des Begriffes sieht in der Erklärung nicht nur die Grenze und das Gegensätzliche, sondern erzeugt auch aus sich heraus positiven Inhalt und positives Resultat, und ist deshalb Entwicklung und immanente Bewegung nach vorwärts. Diese Dialektik ist ferner keine äußere Tätigkeit des subjektiven Denkens, sondern eine besondere Seele des Inhalts, die organisch seine Zweige du Blüten treibt. Das Denken, als etwas subjektives, beobachtet nur diese Entwicklung der Idee als besondere Tätigkeit des Verstandes, ohne seinerseits etwas hinzuzufügen. Irgendetwas mit Verstand betrachten, bedeutet nicht, dass in dieses Ding von außen Verstand hineingetragen und es so verarbeitet wird, sondern das bedautet, dass dieses Ding an sich verständig ist… Sache der Wissenschaft ist es nur, diese selbstständige Verstandesarbeit der Dinge zu erkennen.“ (§ 31, S. 41.)

[15] Im Original: das andere Stimulum – der Hrsg.

[16] „Natur und Geschichte“! als ob das zwei isolierte „Dinge“ wären – sagt Marx. Als ob der Mensch nicht historische Natur ist und als ob er nicht der natürlichen Geschichte gegenüberstehen würde. S. Marx und Engels: „Über L. Feuerbach“. K. Marx und F. Engels-Archiv, red. von D. Rjasanow, Bd. I., S. 217 (russisch).