Ad. Fgr. [Adalbert Fogarasi)

Karl Korsch: Marxismus und Philosophie[1]

(71. S. – Leipzig 1923. C. L. Hirschfelds Verlag)

 

Die vorliegende Untersuchung, die den ersten Abschnitt einer in Aussicht gestellten größeren Schrift: „Historisch-logische Untersuchungen zur Frage der materialistischen Dialektik” bildet, stellt den ersten bewussten Versuch einer Anwendung der historisch-materialistischen Methode auf die Geschichte des historischen Materialismus selbst dar. Gleichzeitig enthält sie aber auch durchaus originelle und aufschlussreiche Anwendungen dieser Methode auf die Geschichte der bürgerlichen Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts.

Um das Verhältnis zwischen Marxismus und Philosophie zu klären, untersucht der Verfasser die Auffassungen über dieses Verhältnis im bürgerlichen und marxistischen Lager. Das überraschende Ergebnis ist zunächst eine Übereinstimmung dieser Auffassungen: sowohl die bürgerliche Philosophie wie auch die führenden Theoretiker der Sozialdemokratie fassen dieses Verhältnis in negativer Weise auf. Franz Mehrings Absage an „alle philosophischen Hirnwebereien“ ist das charakteristische Beispiel für diese Einstellung.

Die bürgerliche Philosophiegeschichte ihrerseits hat „das selbständige Wesen der marxistischen Philosophie und ihre Bedeutung innerhalb der gesamten Entwicklung der philosophischen Ideen des neunzehnten Jahrhunderts ganz und gar nicht zu erfassen vermocht.

Korsch untersucht die Gründe, die zu dieser Unfähigkeit der bürgerlichen Philosophiegeschichte geführt haben. Diese durch einen bewussten Klassenstandpunkt der bürgerlichen Philosophie zu erklären, wäre eine große, durchaus unmarxistische Vorstellung, die der Verfasser mit Recht abweist. Die völlige Verständnislosigkeit der bürgerlichen Philosophie-Geschichtsschreiber ist vielmehr ein Resultat von komplizierten „Vermittelungen“, die von dem Verfasser sorgfältig aufgezeigt werden.

In der offiziellen Geschichte der Philosophie klafft zwischen der Zeit nach Hegels Tode und dem Neokantianismus der 60iger und 70iger Jahre, der sogenannten „Wiedergeburt der Philosophie“ ein tiefer Riss, der durch den landläufigen Ausdruck „Zersetzung der Hegelschen Schule“ ganz unzureichend, dazu noch rein negativ charakterisiert wird. In dieser Auffassung der deutschen Philosophiegeschichte stecken nach Korsch drei große Borniertheiten. Die erste (die „hochphilosophische“!) besteht darin, dass die Philosophen nicht bemerken, dass der Ideengehalt einer Philosophie auch in den positiven Wissenschaften weiterleben kann, wie dies in Bezug auf Hegel besonders der Fall war. Diese Schranke konnte noch innerhalb der bürgerlichen Ideengeschichte durch Dilthey und seine Schule überwunden werden. Die zweite ist die lokale Borniertheit: die guten deutschen Professoren übersahen, dass es außerhalb Deutschlands auch Philosophen gab: speziell Hegelianer. Die dritte Borniertheit beruht auf der prinzipiellen Schranke der bürgerlichen Philosophie und Ideengeschichte selber. Wie die Entwicklung von Kant bis Hegel nicht als eine reine ideengeschichtliche Bewegung begriffen werden kann, so und viel weniger die Entwicklung nach Hegel.

Hegel selbst hat eindringlich darauf hingewiesen, dass in der ganzen Bewegung der deutschen Idealismus die Revolution „in der Form des Gedankens“ ausgedrückt wurde (die frappanten Gegenüberstellungen von Stellen aus Hegel und Marx bei Korsch, Seite 14. beweisen, wie konkret die Anknüpfung Marxens an Hegel aufgefasst werden muss). Hegel hat den Zusammenhang von Philosophie und Wirklichkeit klar erkannt, aber als ab Mitte des 19. Jahrhunderts die deutsche bürgerliche Klasse aufgehört hatte revolutionär zu sein, musste sie auch im Denken die Fähigkeit verlieren, den Zusammenhang zwischen ideellen und reellen Faktoren der Geschichte zu begreifen.

Die wirkliche Entwicklung musste ihr unsichtbar werden Diese aber war nicht wie sich bürgerliche Philosophiehistoriker einbilden, eine „Zersetzung“, „Ermattung“ der Philosophie, sondern der Übergang der Philosophie, des ideologischen Ausdrucks der revolutionären Bewegung des Bürgertums, in den wissenschaftlichen Sozialismus, den Ausdruck der revolutionären Bewegung des Proletariats. Der Marxismus steht zu den Systemen der deutschen Idealphilosophie genau in dem Verhältnis wie die proletarische Bewegung zur revolutionären bürgerlichen Bewegung.

Nach Untersuchung der bürgerlichen Philosophiegeschichte wendet sich der Verfasser der Entwicklung der Ansichten über das Verhältnis vom Marxismus zur Philosophie innerhalb der marxistischen Bewegung selbst zu. Indem die Analyse sich über den Rahmen der philosophischen Probleme zu einer historisch-materialistischen Gesamtbetrachtung der Entwicklung des Marxismus im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung erweitert, werden drei Perioden unterschieden: die erste Periode, die etwa mit der „Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ anhebt und die realgeschichtlich mit der Revolution 1848, ideengeschichtlich mit dem „Kommunistischen Manifest“ endet. Die zweite Periode der Niederwerfung des Pariser Proletariats in der Junischlacht 1848 bis ungefähr zur Jahrhundertwende. Die dritte Periode: die revolutionäre Epoche unserer Zeit.

Der Wert dieser Untersuchung besteht nicht in der schematischen Periodisierung, sondern in den konkreten Analysen, wobei die einzelnen Phasen des Marxismus selbst historisch-materialistisch erklärt werden. So ist es besonders zu begrüßen, dass Korsch auch die eigene Entwicklung von Marx und Engels selber unter diesem Gesichtspunkt auffasst. Da die Theorie keinen Platz außerhalb der realen gesamtgesellschaftlichen Bewegung hat, musste auch die Marx-Engelssche Theorie der sozialen Revolution in der Epoche 1865-1894 (Kapital 1) gegenüber der ersten Periode „als eine in vieler Hinsicht veränderte und weiterentwickelte Erscheinungsform der Gesamttheorie“ auftreten. „Sie bleibt auch jetzt noch das umfassende Ganze einer Theorie der sozialen Revolution, aber die verschiedenen Teile dieses Ganzen, Ökonomie, Politik, Ideologie, wissenschaftliche Theorie und gesellschaftliche Praxis, treten weiter auseinander und werden exakter herausgearbeitet“, als in der Theorie der ersten Periode, die eine Theorie der „als lebendige Totalität begriffenen und betätigten sozialen Revolution“ war und „keine einzelwissenschaftliche Trennungen kannte“.

Der Zerfall dieser einheitlichen Theorie des Ganzen in selbständige Teile ist bei den „Marxisten“ der Zweiten Internationale eingetreten. Der wissenschaftliche Sozialismus fällt für diese Theoretiker in eine Summe von einzelwissenschaftlichen sogenannten voraussetzungslosen Erkenntnissen, ohne unmittelbare Beziehung zur Praxis, auseinander. Das Schulbeispiel dieser Auffassung bietet Hilferdings Vorwort zum „Finanzkapital“, wo der Marxismus als Wissenschaft und die sozialistische Politik als zwei unabhängige Erscheinungen auftreten, die jede für sich allein bestehen können.

Die dritte Periode ist endlich die heranbrechende revolutionäre Epoche, wo die Weiterentwicklung der Theorie als „Wiederherstellung“ der reinen Lehren von Marx auftritt. Im Mittelpunkt dieser Bewegung steht Lenin. In diesem Zusammenhange, als einen Teil dieser „Wiederherstellungsarbeit“ sieht Korsch auch seine eigene, der Klärung der Beziehung zwischen Philosophie und sozialer Revolution des Proletariats dienende Arbeit an.

Die grundlegende These des Verfassers ist, dass Marx und Engels die Philosophie, wie jede andere Ideologie, im Gegensatz zu den Vulgär-Marxisten, nicht als leere Hirngespinste, sondern materialistisch, d. h, als Wirklichkeit theoretisch auffassen und praktisch behandeln. Als aufzuhebende Wirklichkeit, aber gerade darum als Wirklichkeit. In der früheren Periode seiner Entwicklung war der dialektische Materialismus von Marx und Engels noch selber Philosophie. Die Philosophie hat später für Marx und Engels als Bestandteil der gesellschaftlichen Wirklichkeit an Bedeutung verloren, aber die philosophische Ideologie, wie jede andere Ideologie blieb für sie immer ein materieller Bestandteil der gesellschaftlich-geschichtlichen Gesamtwirklichkeit. Mit einer reichen Fülle von wenig bekannten Stellen, denen oft eine lehrreiche historisch-sachliche Interpretation der marxistischen Terminologie anschließt, belegt Korsch seine Auslegung. Ebenso interessant sind die Ausführungen über die Auffassung der Ideologie als bloßer Schein, Irrtum, Einbildung bei den „orthodoxen Marxisten“ der Zweiten Internationale und über den engen Zusammenhang dieser Auffassung mit dem gleichzeitigen Opportunismus in der praktischen Politik.

Die positive Aufzeigung der Konsequenzen des wirklichen, dialektisch-materialistischen Prinzips für die Auffassung der geistigen Wirklichkeiten wird wiederum durch eine sachliche und philosophische Interpretation der marxistischen Terminologie eingeleitet. Korsch verkennt nicht das Schwankende in der von Marx und Engels verwendeten Terminologie speziell auf philosophischem Gebiete, erklärt aber dieses scheinbare Schwanken durch die verschiedene Adressen, an die die gelegentlichen polemischen Bemerkungen von Marx und Engels gerichtet sind. Das allgemeine Ergebnis der Analyse: die grundlegende Einstellung von Marx und Engels ist das Zusammenfallen von Bewusstsein und Wirklichkeit, welches bewirkt, „dass auch die materiellen Produktionsverhältnisse der kapitalistischen Epoche das, was sie sind, nur zusammen mit denjenigen Bewusstseinsformen sind, in denen sie sich sowohl im vorwissenschaftlichen, wie im (bürgerlich) wissenschaftlichen Bewusstsein dieser Epoche widerspiegeln, und ohne diese Bewusstseinsformen in Wirklichkeit nicht bestehen könnten“. (Seite 62.) Sonst hätte ja eine Kritik der politischen Ökonomie nie zu dem wichtigsten Bestandteil einer Theorie der sozialen Revolution werden können! Aus dieser unzerreißbarer Einheit von Bewusstsein und Wirklichkeit folgt für die Philosophie einerseits, dass, wie jede andere Bewusstseinsform der bürgerlichen Gesellschaft, so auch die Philosophie durch das Denken allein nicht aufgehoben werden kann. Die bürgerlichen Bewusstseinsformen können nur aufgehoben werden „unter gleichzeitiger praktisch-gegenständlicher Umwälzung der in diesen Formen begriffenen materiellen Produktionsverhältnisse selbst“ (Seite 66.) Die Philosophie ist aber anderseits auch kein bloßes Hirngespinst, das sich nach Aufhebung der bürgerlichen Produktionsverhältnisse „von selbst“ in bloßes Nichts auflösen würde; Kunst, Religion, Philosophie bilden vielmehr einen Teil der geistigen Struktur der bürgerlichen Gesellschaft, welche der ökonomischen Strukturen dieser Gesellschaft entspricht. Ihre Aufhebung, die geistige Aktion wird durch die ökonomische und politische Aktion nicht überflüssig gemacht, sondern bildet einen Bestandteil derselben. Daraus folgt auch die Notwendigkeit einer speziell philosophischen Aktion: Das bürgerliche philosophische Bewusstsein muss durch die revolutionäre materialistische Dialektik auch philosophisch bekämpft werden und dieser philosophische Kampf bildet einen auch praktisch wesentlichen Bestandteil innerhalb des Gesamtprozesses der Umwälzung der bisherigen Gesellschaft.

So fügt sich der Kampf gegen die bürgerliche Ideologie in die Gesamtheit der revolutionären Praxis ein. Es ist ein großes Verdienst des Verfassers, diesen, auch von Kommunisten nur allzu sehr übersehenen Zusammenhang in scharfe Beleuchtung gerückt zu haben. Und dieser Zusammenhang ist es, der seinen Ausführungen nicht nur theoretische, sondern auch praktisch-politische Bedeutung verleiht. Nicht durch abstrakte Ablehnung, durch summarische Negation der bürgerlichen Ideologie wird sich die „Überlegenheit“, die höhere historische Berechtigung des Marxismus erweisen, sondern durch konkrete inhaltliche Auseinandersetzungen mit der bürgerlichen Ideologie, deren Einfluss gerade auf diesem Gebiete – selbst in unseren eigenen Reihen – noch viel stärker ist, als man im allgemeinen annimmt. Wir stehen hier noch ganz am Anfang des Weges. Korschs Abhandlung ist ein Schritt vorwärts zur Bekämpfung dieser Reste der bürgerlichen Weltanschauung innerhalb der revolutionären Bewegung.

 

[1] Die Internationale (Berlin), 15. Juni 1924 (Jg. 7., H. 12.), 414–416. – S. die russische Version des Aufsatzes hier. – der Hrsg.