August Thalheimer

Ein überflüssiges Buch[1],[2]

 

In der letzten Nummer unserer Zeitschrift bemerkt die Genossin Krupskaja, dass jetzt so manches über Lenin geschrieben wird, was besser ungeschrieben bleiben sollte. Auch das soeben erschienene Buch von Georg Lukács scheint uns in die Kategorie dieser überflüssigen Bücher zu gehören. Was nämlich Lukács hier auf knappen 77 Seiten geben will, ist nichts weniger, als „eine Studie über den Zusammenhang“ von Lenins Gedanken. Lebte nun der Verfasser in der Illusion, dass dies möglich sei, wüsste er nicht ganz genau, dass der Zusammenhang der Gedanken Lenins im Rahmen einer kleinen Studie nur durchaus unwürdig behandelt werden kann, könnte man an einer so naiven Verkennung der Maßverhältnisse wortlos vorübergehen und das armselige Büchlein, trotz seiner anspruchsvollen Aufmachung („Wissenschaft und Gesellschaft“, Bd. I) und des voraussichtlichen Einspruchs begeisterter und kritikloser Freunde „totschweigen“. Aber Lukács weiß ganz genau, wie eine „wirkliche Behandlung“ dieser Probleme geschehen müsste (s. Vorwort), er weiß, dass ihre Totalität zumindest die Geschichte der vergangenen 30 bis 40 Jahren behandeln müsste, mithin wenn er einen Zusammenhang, der durch Lenins Gesamtwerk und ausschließlich durch dieses gegeben ist, durch eine künstliche Konstruktion durchbricht, nicht nur dem Totalitätsgedanken, den gerade er wie einen Fetisch verehrt, Gewalt antut, sondern auch die Einheit von Theorie und Praxis, die er, wie jeder andere an diesem Werke bewundert, in mechanistischer Weise zerreißt.

Diese undialektische Vergewaltigung ist aber das einzig Neue an dieser kleinen Broschüre, die also ihrer Daseinsberechtigung, den „Zusammenhang der Probleme Lenins so deutlich, wie irgend möglich hervortreten zu lassen“, in keiner Weise gerecht wird. Im Gegenteil: diese Behandlungsweise des Problems: Lenin, ist wie keine danach angetan, Verwirrung statt der angestrebten „hinreichenden Deutlichkeit“ hervorzurufen. Es ist dies keine Popularisierung, sondern eine Vulgarisierung. Und dies nicht allein in Bezug auf das Gesamtwerk Lenins, sondern ebenso auch hinsichtlich einzelner Probleme der konkreten Materie.

Wenn z. B. Lukács die praktische Teilnahme an dem Krieg so darstellt, als ob diese mit dem Nichtkämpfen gegen den Krieg gleichbedeutend wäre, wenn er erklärt, dass, sobald es „als theoretisch möglich anerkannt wird, [dass] Arbeiter gegen Arbeiter im Dienste der Bourgeoisie kämpfen, die Internationale praktisch aufgehört hat zu existieren“ (S. 51) – so stellt er nicht nur über sein vielgepriesenes (allerdings nur von ihm selber und seinem Anhang vielgepriesenes) dialektisches Denken ein sehr schlechtes Zeugnis aus, sondern gerät in direkten Gegensatz zu Lenin selbst, dessen Gedanken richtig zu interpretieren er sich anmaßt. Lenin äußerte sich über diesen Punkt in ganz unmissdeutbarer Weise: „Die Kommunisten müssen in jeden beliebigen reaktionären Krieg gehen“ (S. Richtlinien für die Aufgaben unserer Delegation im Haag, Die Kommunistische Internationale, Nr. 33. S. 7).

Wenn Lukács seinem Räte gemäß Lenin so studiert hätte, wie Lenin Marx studiert hatte, wären ihm solche Fehler ganz gewiss nicht untergelaufen; hätte aber Lukács Marx, ja selbst Hegel gehörig studiert, würde er ganz unabhängig von seiner Unorientiertheit in der konkreten Materie, die er behandelt, in der richtigen Handhabung der dialektischen Methode selbst ein Mittel gefunden haben, welches ihn vor ähnlichen Entgleisungen bewahrt hätte.

Einen politischen Hintergrund gewinnt das Bestreben Lukács’, immer wieder als der repräsentative Dialektiker hervortreten zu wollen, gegenwärtig dadurch, dass in der letzten Nummer der „Internationale“ seine Jünger die intensivere Pflege dieser Art „materialistischer Dialektik“ sozusagen als Programm einer ideologischen Reformarbeit, die die Kursänderung auch in dieser Hinsicht zum Ausdruck bringen soll, in Aussicht stellen.

Prinzipiell kann es nur begrüßt werden, wenn die Leninsche Anregung, ein systematisches, von materialistischen Gesichtspunkten geleitetes Studium der Dialektik Hegels zu organisieren, befolgt wird, dies aber muss unter der Bedingung geschehen, dass hierbei der Nachdruck auf die materialistischen Gesichtspunkte gelegt werde. Für diese Arbeit scheinen uns aber nach all dem, was wir von Lukács bisher zu lesen bekamen, weder er, noch diejenigen, die sich mit ihm eines Sinnes erklären, geeignet zu sein. Denn beim Leninschen Organisationsplan kommt es nicht auf das offene oder versteckte „Zurück auf Hegel“ an, wie bei Lukács und seinen Freunden, sondern auf jene durch Marxens materialistische Gesichtspunkte überwundene Dialektik Hegels, „die Marx mit soviel Erfolg angewendet hat“. Keinem wirklichen Dialektiker wird es einfallen, Hegels historisches Verdienst zu schmälern, ihn als „toten Hund“ zu behandeln, aber die dialektische Methode ist für das Proletariat keine philosophiegeschichtliche Delikatesse, sondern eine revolutionäre Waffe. Als solche, für den Gebrauch des Proletariats, ist sie aber von Hegel ganz gewiss nicht ersonnen, als solche ist sie vielmehr vom Marxismus und Leninismus ausgebaut worden. Eine Organisation des Studiums der Hegelschen Dialektik darf dieses Moment, sofern diese Organisation proletarische Ziele verfolgt, keinen Augenblick außer acht lassen. Man muss eben auch diesem Problem gegenüber dialektisch verfahren. Wenn nicht auf Schritt und Tritt auf die dialektische Überwindung Hegels seitens Marx und Lenin aufmerksam gemacht wird, wenn nicht der proletar-revolutionäre Charakter dieser Methode herausgearbeitet wird, dann ist die Gefahr nahe, dass man in die Pseudodialektik der sozialdemokratischen „Marxisten“ oder gar in das Spezialistentum jener bürgerlichen Gelehrten gerät, die zwischen „Lebendigem und Totem“ im Hegelschen System unterscheiden und keinen Schimmer von Ahnung davon haben, dass der „tote“ Hegel, der Philosoph des preußischen Junkerstaates, der die dialektische Entwicklung mit seinem System für abgeschlossen erachtete, gerade durch die Wiederbelebung seiner unvergänglichen Methode im wahren Marxismus, im Leninismus, durch seine Umgestaltung zur proletarischen Waffe im modernen Klassenkampfe zu neuem und fruchtbarem Leben erwachte.

 

[1] Georg Lukács: Lenin (Der Malik-Verlag, Berlin).

[2] Arbeiter-Literatur (Wien), Juli-August 1924 (Jg. I, Nr. 7–8.), 427–428. – der Hrsg.