C[arl]. Brinkmann
Lukácz, Georg: Geschichte und Klassenbewusstsein[1]
Studien über marxistische Dialektik. Berlin, Malik-Verlag, 1924. (Kleine revolutionäre Bibliothek 9.) 341 S, 8o.
Dies Buch ist nicht mit Unrecht über seine engere kommunistische Parteikompetenz hinaus berühmt geworden. Es ist eine der ganz wenigen, seit den Arbeiten von Rudolf Hilferding und Rosa Luxemburg die einzige unter den Leistungen der deutschen sozialistischen Theorie, deren formale und inhaltliche Bedeutung einen wissenschaftlichen Rang oder (um mich werturteilsfreier auszudrücken) eine wissenschaftliche Stelle hat. Auch die sieben kleineren hier vereinigten Aufsätze, deren nächster Zweck die Behandlung von strategischen und taktischen Fragen der kommunistisch-revolutionären Weltbewegung ist, verdienen nicht bloß als einziger außerrussischer Versuch, die Politik der Moskauer Internationale theoretisch zu unterbauen, sondern vor allem als methodische Übersicht über die Möglichkeiten kommunistischer Staats- und Wirtschaftsanschauung (wie die Aufsätze für und gegen die Luxemburg) und kommunistischer Parteibildung durchaus die buchmäßige Festhaltung über den Augenblick hinaus. Am meisten der Vortrag über den Funktionswechsel des historischen Materialismus, der im Juni 1919 das Forschungsinstitut der ungarischen Bolschewisten eröffnete und zum ersten mal mit großer Ehrlichkeit das Problem der zeitlosen Gültigkeit des Geschichtsmaterialismus auch für die sozialistische Gesellschaft selbst wenigstens beim Namen nennt. Er bildet den Übergang zu dem vielgenannten Kernstück des Buches, der großen Abhandlung über die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats. Sie ist in der Tat eine trotz aller Skizzenhaftigkeit großangelegte Neubegründung der marxistischen „Umstülpung“ Hegelscher Dialektik, die auch von der nichtsozialistischen Wissenschaft heute wieder in den Mittelpunkt der Auslegung und Kritik von Karl Marx gerückt zu werden anfängt. Sie wird hoffentlich zunächst die schon anderwärts (vgl. S[iegfried] Marck, Hegelianismus und Marxismus, Berlin 1922, und K[arl] Korsch in Grünbergs Arch. f. d. Gesch. d. Sozialismus, 1923, S. 52 ff.) begonnene Bereinigung der von der Parteienliteratur ganz verwahrlosten Vorstellungen über die „materialistische Geschichtsauffassung“ fördern, die ja bei Marx, dem Schöpfer der „Verdinglichungs“-Theorie, im scharfen Gegensatz zu dem bürgerlichen Naturalismus und Positivismus der vorigen Jahrhundertmitte vorwiegend auf die geistig-aktivistische Selbstbefreiung der Gesellschaft von dem Zwange ihrer bisherigen „Vorgeschichte“ hingewendet erscheint. Auch die oft bewunderte Darstellung, die Lukácz von der Entwicklung der philosophischen Subjekt-Objekt-Antinomik bis und mit Hegel als Widerspiegelung der gesellschaftlichen Verdinglichungsverhältnisse entwirft, ist ein höchst wertvoller Beitrag zu der jungen Soziologie der Wissenschaften sowohl wie zur Methodologie desjenigen, was seit Troelschs letztem Werk „Historismus“ heißt. Schiffbruch leidet diese Darstellung erst, wo sie selbst mit Hegelschem Intellektualismus den Gegensatz zwischen Bewusstsein und „Veränderung“ einer gesellschaftlichen Lage durch Identifikation zu überbrücken sucht. In dieser Verwechselung liegt ein gutes Teil der theoretischen und praktischen Tragik des Kommunismus.
[1] Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik (Tübingen), Bd. 52. (1924) H. 3, 816–817. – der Hrsg.