Herbert Marcuse

Zum Problem der Dialektik[1],[2]

 

Die ausführliche Anzeige und Kritik eines Buches mit rein philosophischen Absichten im Rahmen dieser Zeitschrift rechtfertigt sich durch die zentrale Stellung, die das Problem der Dialektik innerhalb des Marxismus einnimmt und durch die Aufschlüsse, die eine Betrachtung der gegenwärtigen Philosophie im Hinblick auf die Dialektik über das Verhältnis der Philosophie zur gegenwärtigen Gesellschaft und damit zur ganzen geschichtlich-sozialen Situation geben könnte. Damit ist auch schon die Richtung der Kritik vorgezeichnet: es kann sich nicht darum handeln, die einzelnen Untersuchungen Marcks über die Systeme der gegenwärtigen Philosophie und seine Stellungnahme zu ihnen zu analysieren, sondern es soll gefragt werden, ob und wieweit das eigentümliche Problem der Dialektik hier aufgerollt ist und ob ein „Querschnitt durch die Philosophie der Gegenwart unter dem Gesichtspunkte des Problems der Dialektik“ überhaupt möglich ist. Um dies vorwegzunehmen: die einzelnen Untersuchungen Marcks sind von einer Sicherheit und Schärfe, wie man sie in der modernen Philosophiegeschichte selten findet. So grundverschieden Richtung und Sinn der dargestellten Systeme untereinander ist, immer ist es die gleiche Bemühung um ein echtes Verständnis und den rechten Zugang, die Marcks Buch auszeichnet. Gegenüber allen angeblich standpunktlosen „objektiven“ Beschreibungen, denen jedes Philosophieren in gleicher Weise zu einem interesselosen Denkspiel wird, gelingt es Marck, gerade weil er von vornherein von einem wirklichen Problem aus und auf ein wirkliches Problem hinsieht, jedes in den Blick genommene Philosophieren in seiner inneren Lebendigkeit und Fragwürdigkeit deutlich zu machen. Dies ist auch da der Fall, wo die kritischen Voraussetzungen Marcks die Analyse auf eine falsche Bahn drängen, wie in den Letzten Kapiteln des Abschnittes über Heidegger. Der Sinn und die Absicht von Heideggers Philosophieren wird durch das „Gegenspiel von Existentialismus und Platonismus” nicht getroffen, ebenso wenig wie der metaphysische Seinsbegriff oder die Geltung durch einen „vom Dasein abgeleiteter Seinsbegriff ersetzt“ werden soll. Hier wird der a priori gesetzte Dualismus von „Ich und Ist“, von Geltung und Existenz für Marck zum Verhängnis, Wir werden auf diesen Dualismus, in dessen „unaufgehobener Spannung“ Marck die Wurzel der Dialektik sieht, noch zurückkommen.

Im vorliegenden ersten Halbband werden folgende Philosophen unter dem „Gesichtspunkte des Problems der Dialektik“ behandelt: Rickert, Lask, Kroner, (Kierkegaard), Barth, Gogarten, Brunner, Tillich, (Lenin), Lukács, Grisebach und Heidegger. Für den zweiten Band sind angekündigt: J. Cohn, Hönigswald, Bauch, Natorp, N. Hartmann, Cassirer, M. Adler, ferner sollen herangezogen werden Scheler, Driesch, Litt, Spranger, W. Stern, O. Spann. Diese Zusammenstellung muss größte Verwunderung erregen, wenn man bedenkt, dass hier keine gewöhnliche Skizze der Philosophie der Gegenwart beabsichtigt ist, sondern Untersuchung auf ein Problem hin. Selbst wenn man berücksichtigt, dass im ersten Band die Gegner, im zweiten Band die Vertreter der „kritizistischen Dialektik“ – denn diese ist Standort und Maßstab des Verfassers – behandelt werden. Was in aller Welt hat der innere Sinn des Philosophierens von Rickert mit den religiösen Sozialisten, von Heidegger und J. Cohn, Lukács und Natorp, Bauch und Adler miteinander zu tun?! Was ist denn bloß die Dialektik, dass sie solche Abgründe umspannen kann? Wir gingen von der zentralen Stellung der Dialektik innerhalb des Marxismus aus – ja ist die ganze Philosophie der Gegenwart auf einmal „marxistisch“ geworden? Oder, da wir das nicht glauben, was ist denn hier eigentlich mit „Dialektik“ gemeint?

Marcks Bemühung geht nicht auf die Dialektik schlechthin, sondern auf die „kritizistische Dialektik“. Ihren Sinn bezeichnet er als „Einsicht in die Unaufhebbarkeit der Gegensätze in der philosophischen Grundlegung und als Aufbewahrung, nicht „Aufhebung” des Widerspruchs im „Ergebnis“. Einen wesentlichen Bestandteil dieses Sinnes bildet „die nicht auflösbare Spannung zwischen dem existierenden Subjekt und dem Geltungsbereich, die Ablehnung der Konstruktion eines idealen Subjekts“ (S. III). – Danach gehört also diese Dialektik auf eine noch nicht geklärte Weise zur philosophischen Grundlegung, und zwar zur Grundlegung einer bestimmten Philosophie, der kritischen. Ihr Sinn ist eine „Einsicht“, ihre Dimension das Erkennen, das in der Spannung zwischen Ich und Geltungsbereich lebt und diese Spannung in seinem Fortschreiten und seinem Ergebnis aufbewahrt, also gleichsam als Leitfaden und Mittel des Erkennens selbst. Soweit aus dem ersten Bande ersichtlich ist, behält die philosophische Grundlegung. zu der diese Dialektik gehört, von der kritischen Philosophie die apriorische Konstitution der Welt und die dem Ich „gegenüberstehenden“ in sich geschlossenen „Geltungsbereichen“ bei, streicht aber die „Konstruktion eines idealen Subjekts“, d. h. doch wohl des reinen Bewusstseins oder Bewusstseins überhaupt. Eine zureichende Darstellung und Auseinandersetzung mit dieser Grundlegung ist umso weniger möglich, als erst der zweite Band ihre Systematik bringen soll; für unser Vorhaben müssen und können diese Andeutungen genügen. Wir sehen aus ihnen die Richtung, aus der diese Dialektik kommt und den Bezirk, in dem sie zu Hause ist. Die Richtung ist die kritische Philosophie, der Bezirk die Erkenntnistheorie, von ihr aus erst wird eine etwaige Dialektik des Seienden selbst, der Wirklichkeit, ausgesprochen.

Mit Wort und Begriff der Dialektik ist in der neueren Philosophie und in der marxistischen Theorie und Praxis ein solcher Missbrauch getrieben worden, dass der Versuch unumgänglich geworden ist, sich wieder auf den Ursprung der Dialektik zu besinnen. Die Philosophie scheint in der Dialektik das Allheilmittel zu sehen, durch das sie der hilflosen Verworrenheit und Leblosigkeit, in die sie sich selbst gebracht hat, entrinnen kann. Sie fasst die Dialektik auf irgendeine verschwommene Weise als Notwendigkeit der Widersprüche, Spannungen und Bewegtheiten teils im Erkennen selbst, teile zwischen Erkennen und Wirklichkeit, Ich und Welt, Ich und Geltung, teils innerhalb der Wirklichkeit selbst. So glaubt man eindeutigen Entscheidungen entgehen zu können: alles lässt sich in ein solches „dialektisches System“ hineinbringen. und alles kann in der Schwebe bleiben. – Ähnlich wird mit der Dialektik innerhalb des Marxismus gearbeitet. Den einen ist sie ein „nur historisch bedingter“ Rest erstarrter Hegelei bei Marx und kann deshalb ohne Schaden, ja mit Vorteil aus der marxistischen Theorie und Praxis entfernt werden; den anderen ist sie ein wesentlicher Bestand des Marxismus, aber – und das ist das entscheidende – was bei Marx Sinn und Wesen der geschichtlichen Bewegung selbst war, wird jetzt zu ihrer Fessel: durch eine schlechte Dialektik lässt sich jeder Fehler, jeder Rückschritt rechtfertigen, als notwendiges Glied der dialektischen Bewegung behaupten, so dass am Ende dasselbe herauskommt wie bei der bürgerlichen Philosophie: Vermeidung von Entscheidungen. Demgegenüber ist es Pflicht, entweder alles Reden von Dialektik aufzugeben, oder sich wieder um eine ursprüngliche Aneignung der Dialektik zu bemühen. Hierzu wollen diese Ausführungen einen kleinen Beitrag bieten.

Wenn wir die Untersuchung bei Plato ansetzen, so geschieht dies nicht aus historischen Motiven, sondern weil wir glauben, dass bei Plato der Sinn aller Dialektik am ursprünglichsten ergriffen ist und dass Hegel, wenigstens noch in der Phänomenologie des Geistes und in der Logik, in der Begründung der Dialektik an die platonische Tradition anknüpft. Dass an dieser Stelle nur Andeutungen gegeben werden können, braucht nicht erst betont zu werden,

Wenn wir die Stellen untersuchen, an denen Plato den Sinn der Dialektik erörtert (wir halten uns bei der Interpretation an die Einordnung Stenzels in seinen „Studien zur Entwicklung der platonischen Dialektik“ 1917, ohne uns seiner Deutung überall anzuschließen), so sehen wir zunächst: Dialektik geht überall auf das „wahre Sein“, das Seiende wie es „wirklich“, eigentlich ist im Unterschied zu allem „scheinbar Wirklichen“ oder „nicht eigentlich Seiendem“, sie gehört zur höchsten menschlichen Erkenntnisstufe, der „Vernunft“ (wobei alle neueren rationalistischen Deutungen als nur begriffliche Erkenntnis auszuschalten sind), also zum Logos selbst, gerade in seiner griechischen Doppelbedeutung als Logos des Seienden und als Logos der das wahre Seiende sichtbar machenden menschlichen Rede; sie lässt deutlich werden, was jedes Seiende als solches ist („Staat“ 511 B, 531 bis 532). Sie ist ein „Vermögen“ menschlicher Vernunft, Seiendes so zu sehen wie es in Wahrheit ist (ebenda 511 B, „Philebos“ 15 D), also keinesfalls ein „Erkenntnismittel“ oder eine Erkenntnismethode, die jeder überall anwenden kann: mit großer Schärfe wendet sich Plato in „Philebos“ (15 bis 16) gegen solchen missbrauch der Dialektik. Weil nun das in Wahrheit Seiende für Plato nicht die Vielheit der Gegenstände der sinnlichen Erfahrung und der alltäglichen Meinung ist, sondern in einer zunächst noch verdeckten, diese Vielheit erst begründenden „Gemeinsamkeit und Einheit“ besteht, bedarf es zu seiner Erfassung eines dialektischen Vermögens: eines Zusammensehens des Zusammengehörigen, nur scheinbar Verstreuten, anderseits aber auch eines Trennens des scheinbar Zusammenliegenden, um die eigentlichen Einheiten zu finden („Staat“ 531 bis 532, 537 C, „Phaidros“ 265 bis 266). Die Erfassung des wahren Seienden bedarf des dialektischen Vermögens, weil dieses Seiende selbst dem Menschen als dialektisches Sein gegeben ist: in jener uneigentlichen Verstreutheit und uneigentlichen Zusammengehörigkeit verdeckt und daher nur im Verlauf schwerer dialektischer Prozesse echten Einens und echten Trennens sichtbar zu machen. – Stenzel hat nun überzeugend nachgewiesen, dass in den großen Dialogen nach dem „Staate“, besonders in „Theaitetos“, „Sophistes“ und „Philebos“, die Dialektik noch einen vertieften Sinn und damit noch eine zentralere Stellung im platonischen Philosophieren bekommt. Vom „Theaitetos“ an steht die Dialektik in wesenhafter Verbindung mit dem Werden, das damit eine neue Bedeutung im Aufbau des platonischen Systems erlangt. „Aus Bewegtheit und Bewegung und Vereinigung untereinander wird alles von dem wir sagen, es ist, nicht richtig es so bezeichnend. Denn es ist niemals etwas, sondern immer wird es“ (152 D). Und was noch wichtiger ist: diese Bewegtheit und Vereinigung wird nicht mehr nur der sinnlichen Wirklichkeit, den „Gegenständen des Werdens und Vergehens“ („Philebos“ 15 A) als Seinsart zugesprochen, sondern den Ideen als dem eigentlich Seienden selbst. An Stelle der Einzigkeit, Isoliertheit und eindeutigen Bestimmtheit des Seienden (der Idee) tritt seine seinsmäßige Vervielfältigung, Verbundenheit und Vieldeutigkeit („Sophistes“ 153 D), in der doch eine Einheit und Eindeutigkeit sich konstituiert. Das ist jetzt das zentrale Problem: wie das Eine zugleich Vieles und doch Eines sein könne („Philebos“ 16); der Erkenntnis, dass alles Seiende aus Einem und Vielem sei, wird solche Tiefe zu gemessen, dass sie als Geschenk der Götter an die Menschen mit dem Feuer des Prometheus verglichen wird (Ebenda). –  Es kommt alles darauf an, die entscheidenden Untersuchungen im „Sophistes“ nicht misszuverstehen, als ginge es in ihnen um eine logische Frage, um eine Begriffs- oder Urteilstheorie, um die Bedeutung der Definition oder dergleichen, sondern es geht eindeutig genug (234 DE) um die Gewinnung des Seins des Seienden selbst, um die Seinsart des Alls der Gegenstände als Wirklichkeit und im Zusammenhang damit um das Problem des wahren und falschen Seins, des Scheins und der Wahrheit, des Seienden und des Nicht-Seienden. Diese Untersuchungen gipfeln in dem Satz: dass das Seiende weder Bewegung noch Beständigkeit, weder Selbigkeit noch Verschiedenheit selbst sei, sondern ein von ihnen allen Unterschiedenes, Anderes. Und da jedes nur ist, indem es von allen anderen verschieden ist, muss auch alles vom Seienden verschieden sein, in gewisser Weise nicht sein (wobei das Nichtseiende nicht den Gegensatz, sondern eben das Andere, Verschiedene des Seienden ausmacht). So „gehört“ seinsmäßig zu jedem Seienden sein Nichtseiendes, Anderes, Verschiedenes (256 DE).

Damit erfährt Sinn und Aufgabe der Dialektik jetzt eine tiefere Begründung. Es genügt nun nicht mehr, dem dialektischen Vermögen die Entdeckung des wahrhaft Seienden so zuzuweisen, dass es dieses aus der Verdecktheit und Verstreutheit des uneigentlich Seienden der sinnlichen Wirklichkeit heraussehe und in seiner Einheit, Eindeutigkeit und Ständigkeit offenbar mache. Vielmehr ist ja das Sein dieses Seienden selber problematisch geworden und damit auch sein Verhältnis zur sinnlichen Wirklichkeit, der es nicht mehr wie das Eine und ständige Seiende dem vielen und fließenden Nicht- (uneigentlich) Seienden gegenübersteht. Das Seiende hat sich auf eine rätselhafte Weise in Arten gespalten, die untereinander ihrer Natur nach wieder sich verbinden oder trennen und in dieser Bewegtheit, diesem Prozess neue Einheiten des Seienden bilden. So ist das Seiende weder Bewegtheit noch Ständigkeit, und doch ist es nur in der Bewegtheit und Ständigkeit („Sophistes“ 250 C). Die große Bestimmung der Dialektik in „Sophistes“ 253 zielt nun darauf, dies Seiende in seiner Vielspältigkeit, die als seine Seinsart erkannt ist, gewinnen zu lassen, durch ein sehr verwickeltes Verfahren von „Einteilungen“ im Hinblick auf die „Arten“ des Seienden, wobei im Verlauf immer engerer Teilungen die gesuchten Einheiten des Seienden zugleich mit den zu ihnen „gehörigen“ Nichtseienden (Verschiedenen) sichtbar werden.

Die grundlegenden Untersuchungen über das Seiende und die Dialektik im „Sophistes“ sind bisher kaum als Grundlegung erkannt geschweige denn geklärt worden, weil ihre Missdeutung als logische und erkenntnistheoretische Untersuchung immer im Wege stand. Wenn sie trotzdem auf solche roh skizzierende Weise hier herangezogen wurden, so rechtfertigt ein solches Verfahren sich nur deshalb, weil ohne eine wenigstens den Ort des Problems andeutende Verweisung der ursprüngliche Boden der Dialektik gar nicht abgegrenzt werden konnte, sei es auch nur um zu zeigen, wo Dialektik nicht ist. Wir wollen eine Zusammenfassung in diesem Sinne versuchen.

Dialektik ist für Plato ein Vermögen (Erkennen, Wissen) der menschlichen Vernunft, das Seiende wie es ist, in seinem wahren Sein, zu erfassen. Sie gründet nicht in der menschlichen Vernunft oder im Verhältnis dieser Vernunft als erkennender zur „Welt“, sondern im Sein des Seienden selbst. Jedes Seiende ist nur in einer Vielspältigkeit, Vieldeutigkeit und Bewegtheit, indem es mit anderem Seienden in seinsmäßiger Verbindung steht oder von Seiendem sich trennt, um mit anderen Seienden eine neue Einheit des Seins zu bilden. Es ist nur zugleich mit seinem Anderen, Nichtseienden, Verschiedenen, durch das es begrenzt und bestimmt wird. Es ist nur in dieser Bewegtheit, Veränderung und Vielheit, und ist nur in ihnen als Einheit, Ständigkeit und Selbigkeit. Es ist seinem Sein nach dialektisch und kann deshalb nur dialektisch erfasst werden.

Zum Verständnis der weiteren Entwicklung des Problems der Dialektik muss festgehalten werden: ihre entscheidende Bedeutung gewinnt die Dialektik bei Plato zugleich mit einer Hinwendung zu der Problematik des Werdens als Seinsart der Wirklichkeit. Die Vielheit und Bewegtheit des Seienden wird nicht mehr als bloßer Schein abgetan und ihr die ständige Einheit des wahren Seins (der Ideen) gegenübergestellt, sondern sie ist als Seinsart des Seienden selbst erkannt worden und findet ihren klarsten Ausdruck in dem Satze, dass zu jedem Seienden notwendig sein Anderes, Verschiedenes, Nichtseiendes gehöre, durch das es aller erst bestimmt und begrenzt werden könne. Deutlicher noch als im „Sophistes“ zeigt sich der wesentliche Zusammenhang der Dialektik mit der Erkenntnis des Seins als Gewordenheit im „Philebos“. Auch hier ist Ansatz das Problem: wie kann das Seiende Einheit und doch Vielheit sein? Es wird ausdrücklich betont, dass diese Problematik erst recht erfasst ist, wenn das Seiende als Einheit nicht bloß im „Werdenden und Vergehenden“, sondern in der Idee des Seienden selbst zum Problem wird (15 A). So geht die Erkenntnis, die diese Problematik löst: dass alles Sein aus Einheit und Vielheit ist und Bestimmtheit und Unbestimmtheit (Grenze und Unbegrenzbarkeit) in sich verbunden habe, durchaus auf das Seiende als solches, nicht etwa nur auf die Welt der sinnlichen Wirklichkeit. Die Dialektik hat die Aufgabe, die Einheiten des Seienden als Bestimmtheiten aufzufinden, indem sie in jedem Seienden zuerst die eine umfassende Idee sieht, dabei aber nicht stehen bleibt, sondern untersucht, in wie viele neue Bestimmtheiten als Einheiten diese ursprüngliche Idee sich spaltet, ein Prozess, der von einer relativen Unendlichkeit ist, weil jedes Seiende ja seine Unbegrenzbarkeit in seinem Sein trägt (15-16). Hierauf wird eine Einteilung des Seienden überhaupt in zunächst drei Arten gewonnen: das Bestimmte und Begrenzte, das Unbestimmte und Unbegrenzbare, und das aus diesen beiden „Zusammengemischte“: das zur Bestimmtheit gewordene Unbestimmte (23 ff.). Das Entscheidende ist nun: nur dieses letztere wird als eigentliches, wahres, wesentliches Sein (ousia) bezeichnet, und dieses wahre Sein als gewordenes. Es ist „das Werden zum wahren Sein durch die mit der Bestimmtheit sich angrenzenden Maße“ (26 E), das „aus diesen gemischte und gewordene wahre Sein“ (27 B). Erst jetzt, wo die Gewordenheit und Bewegtheit in das Sein der Wesenheit selbst aufgenommen ist, erfüllt sich der ganze Sinn der Dialektik, diese Gewordenheit und Bewegtheit als höchste Erkenntnisstufe sichtbar zu machen.[3] Von der so ergriffenen Dialektik des Seienden führt der Weg zur Erkenntnis der Geschichtlichkeit des Seienden, in der diese Vielheit und Bewegtheit gründet – ein Zusammenhang, der dann bei Hegel offenbar wird –,  eine Erkenntnis, für die sich bei Plato nirgends Ansätze finden, weil die Hineinnahme der Dialektik in die Ideenlehre diesen überhaupt den Horizont der griechischen Welt übersteigenden Weg verschloss –  führt aber auch zur Verurteilung der Dialektik als Scheinwissenschaft überall da, wo ihre Problematik nicht bis zu Geschichtlichkeit fortgetrieben wird. Wir müssen diese Entwicklungen hier übergehen und nehmen das Problem der Dialektik da wieder auf, wo es in neuer Ursprünglichkeit ins Bewusstsein der Philosophie tritt: bei Hegel.

Wir wollen nun zu zeigen versuchen, wo Hegel das Problem der Dialektik wieder aufnimmt (dabei müssen wir das wichtige Moment übergehen, dass Kant in der „Kritik der reinen Vernunft“ die Dialektik, die so lange als wesenloser Schein gegolten hatte, zwar noch als Schein, aber als notwendig in der menschlichen Vernunft verwurzelt aufgewiesen hatte). Zunächst ist festzuhalten, dass für Hegel – wie schon für Plato – die Dialektik nur deshalb ein Erkenntnisvermögen und denn eine Methode der Erkenntnis ist, weil und insoweit das Seiende selbst, die wahre Wirklichkeit, in sich selbst dialektisch ist. „Nicht das Abstrakte oder Unwirkliche ist ihr (der Philosophie) Element, sondern das Wirkliche, sich selbst Setzende und in sich Lebende, das Dasein in seinem Begriffe. Es ist der Prozess, der sich seine Momente erzeugt und durchläuft, und diese ganze Bewegung macht das Positive und seine Wahrheit aus“ (Phänomenologie, Ausg. Lasson, S. 31). Die dialektische Methode als Methode der Philosophie ist nichts anderes als das Aussprechen und Darstellen der notwendigen Bewegtheit, des notwendigen Werdens der Wirklichkeit selbst. Ihr oberster Leitfaden ist, sich „dem Leben des Gegenstandes zu übergeben“ (Ebd. S. 36). Sie soll alles Seiende aus seiner scheinbaren Starrheit und Isoliertheit herauslösen, es als notwendiges Moment im Ganzen, als Resultat eines Werdens und damit in seinem eigentlichen Wesen begreifen, mit welcher Erkenntnis der wesentlichen Gewordenheit alles Seienden auch seine wesentliche „Grenze“, seine „Negativität“, sein Übergeben in ein neues, „höheres” Seiendes gewonnen ist. Die Erfassung der Wirklichkeit als notwendiges Werden – und nicht nur der Wirklichkeit im ganzen, sondern jedes einzelnen Wirklichen – macht aus jedem Seienden als Gewordensein aus anderem, trüberem, und Werden zu anderem, späterem die „Einheit des Entgegengesetzten“, als die es erst wirklich ist. – Also: der Ursprung und Grund der Dialektik liegt für Hegel im Seienden selbst, sie ist – immer wieder betont dies Hegel – keine Methode, die an das Seiende durch das Ich, das erkennende Subjekt herangetragen ist, kein bloßes Erkenntnismittel, sondern sie ist „von ihrem Gegenstande und Inhalte nichts Unterschiedenes; denn es ist der Inhalt in sich, die Dialektik, die er an ihm selbst hat, welche ihn fortbewegt… es ist der Gang der Sache selbst“ (Logik, Ausg. Lasson, I. S. 36).

Indem nun jedes einzelne Wirkliche als Gewordensein und Werden, als Prozess und Moment im ganzen, als Resultat „in dem wesentlich das enthalten ist, woraus es resultiert“ (Ebd.) erfasst ist, ist damit zugleich schon die wesensmäßige Geschichtlichkeit alles Wirklichen entdeckt. Ist schon mit dem Begreifen des Gewordenseins und Werdens als des eigentlichen Seins des Seienden diese Seinsart als Geschichtlichkeit erkannt, kann man schon kaum eine echtere Fassung des geschichtlichen Seins finden als dass in ihm als Resultat wesentlich das enthalten ist, woraus es resultiert, so zeigt die Bestimmung der „Substanz des Wirklichen“ als „Subjekt“, wie sehr Hegel mit dieser Geschichtlichkeit der Wirklichkeit ernst gemacht hat. Jener schwer verständliche und oft missdeutete Ansatz des eigentlichen Seins, der (absoluten) Substanz als Subjekt ist vielleicht nur von hier aus zu klären, aus der Einsicht heraus, dass allein ein Sein von der Seinsart des Subjekts (dem Seiendes ein Sein für es ist und das ein Wissen um sich und um Seiendes und ein Selbst hat) wesensmäßig geschichtlich sein kann. Aber diese wesentliche Geschichtlichkeit des „absoluten und des konkreten Individuums“ wird auch schon in diesem Zusammenhang ausdrücklich betont: „Weil die Substanz des Individuums, weil sogar der Weltgeist die Geduld gehabt, diese Formen (d. h. Gestalten der Wirklichkeit) in der langen Ausdehnung der Zeit zu durchgehen und die ungeheure Arbeit der Weltgeschichte, in welcher er in jeder den ganzen Gehalt seiner, dessen sie fähig ist, herausgestaltete, zu übernehmen, und weil er durch keine geringere das Bewusstsein über sich erreichen konnte, so kann… der Sache nach das Individuum nicht mit weniger seine Substanz begreifen“ (Phänomenologie S. 20). – Diese Andeutungen müssen genügen, um jetzt hinzufügen zu können: wie der Ursprung der Dialektik im Seienden, in der Wirklichkeit selbst liegt, so liegt der Grund der Dialektik in der seinsmäßigen Geschichtlichkeit des Seienden, der Wirklichkeit. Und nur weil und insoweit das Wirkliche geschichtlich ist, ist es Dialektik, kann und muss es durch die dialektische Methode begriffen werden.

Wir fragen nun: was besagt dialektisch als Wesensbestimmung des geschichtlich Seienden und inwiefern wird durch die Bezeichnung solchen Seienden als dialektisch sein wirkliches Sein zutreffend charakterisiert? Und zweitens: kann alles Seiende oder welches Seiende kann und muss als geschichtlich und damit als dialektisch begriffen werden? Beide Fragen führen über das im Rahmen der Hegelschen Philosophie gesagte hinaus und einerseits zur Aufnahme des Problems der Dialektik bei Marx, anderseits zur allgemeinen Problemstellung zurück.

Zur ersten Frage: Was ist gemeint, wenn wir das Geschichtlich-Seiende als dialektisch bezeichnen? Als Antwort hören wir hier immer etwas von Gegensatz und Einheit, Anerkennung und Aufbewahrung des Widerspruchs, von der Bewegung als Thesis, Antithesis und Synthesis u. ä., von dem zunächst in keiner Weise einzusehen ist, warum und was es mit der Geschichtlichkeit des Wirklichen zu tun hat. Vollends die revolutionäre Bedeutung solcher Bestimmungen bleibt im Dunkel, und es hilft nichts, sich auf Marx zu berufen, solange nicht der ursprüngliche Sinn der Dialektik bei Marx wieder angeeignet worden ist. – Wir wollen versuchen, einmal die Gegebenheit eines konkreten Geschichtlich-Seienden zu untersuchen, um von hier aus vielleicht einen Zugang zu seiner „Dialektik“ zu finden.

Nehmen wir eine moderne Fabrik mit Großbetrieb. Zunächst scheint es, als sei die Gegebenheit dieser Fabrik völlig eindeutig und fest: sie ist „dieselbe“ für jeden, der sie sieht und betritt, nicht nur sie als ganzes, sondern auch Gebäudeteile, Maschinen, Arbeiter usw. Aber wenn ich wirklich die Fabrik und ihre Teile und Menschen sehe, dann muss ich dabei schon wissen, was sie „bedeuten“, was Fabrik. Maschine, Arbeiter usw. überhaupt ist und soll, was für einen Sinn und Zweck sie haben. Weiß ich dies nicht (dieses Wissen ist meist natürlich völlig „unbewusst“, ein unbemerktes „Gewohnheitswissen“), sehe ich keine Fabrik, Maschinen, Arbeiter usw., sondern einen Haufen von Steinen, Eisen, Menschen u. a., von dem ich nicht weiß, was er eigentlich ist, was er bedeuten soll. Wenn wir uns dies vergegenwärtigen, dass wir bei jedem alltäglichen Sehen solche uns gewohnte und bekannte Bedeutung schon mitsehen und miterleben, ohne die wir gar nicht sehen können, so wird die eindeutige Gegebenheit eines solchen Gegenstandes auf einmal zweifelhaft. Ist die Fabrik wirklich dieselbe für den in ihr beschäftigten Arbeiter, für ihren Besitzer, für den müßigen Spaziergänger, der auf sie trifft, und für den Architekten, der sie gebaut hat? Oder ist sie nicht jedes mal dieselbe und doch etwas ganz anderes: einmal durch die sozialen Verhältnisse erzwungene Arbeitsfron, eine Stätte, die man mit Widerwillen betritt. und müde verlässt, ein andermal eine Quelle großen Geldverdienstes, anstrengend und aufregend, aber doch gern begrüßt und schwer vermisst, wieder ein andermal vielleicht eine Verschandelung schöner Gegend, fremd und höchstens etwas unheimlich, und zum letzten mal ein Kunstwerk, mit den Mitteln und Absichten modernster Architektur aufgeführt, das seinen Erbauer berühmt machen kann? Und wenn wir den Umkreis der Betrachtung weiterspannen: wie verschieden ist eine Fabrik für die Wirtschaft eines Volkes, für den Konkurrenzkampf großer Trusts, für die von ihr lebenden kleinen Kaufleute und Händler, für die Industrie des Nachbarstaates! – Man wende nicht ein, dass alle solche Momente „subjektiv“ seien, mit der Fabrik als solcher nichts zu tun hätten. Derartige Einwände kommen aus vorgefassten Theorien, die den wirklichen vollen konkreten Gegenstand gar nicht mehr zu Gesicht bekommen. Man versuche einmal, alle solche Momente vom Gegenstand zu streichen, was dann noch übrigbleibt. Jedenfalls keine Fabrik in der Dimension von Bedeutungen, die in der von Theorie unverfälschten konkreten Zugangsweise immer schon gemeint ist. Vielmehr sind solche Gegenstände nur in einer Fülle verschiedener Bedeutungen, zu ihrem jeweiligen Sein gehört eine kontinuierliche Tradition, ein langes Gewordensein, durch das sie in einen weiten Lebensraum und Weltraum hineingestellt sind und in dem sie sich ebenfalls kontinuierlich weiterentwickeln, von ihm bestimmt und ihn bestimmend, in steter Veränderung. Und neben dieser vielfachen Bewegtheit und Bestimmtheit eignet solchen Gegenständen eine eigentümliche Zwiespältigkeit, ja Vielspältigkeit; ihre Wirklichkeit, ihre Wirkung auf das menschliche Dasein ihres Raumes und ihrer Zeit ist eine solche, dass sie dieses Dasein in Gegensätze aufspaltet, deren Grund in ihnen selbst liegt. Um diese Gegensätze andeutungsweise zu umreißen; das menschliche Dasein wertet ihre Wirklichkeit positiv oder negativ, verfallend oder zu künftig, es ergreift sie für die Gestaltung seiner Existenz oder bekämpft sie oder steht ihnen gleichgültig gegenüber. Und diese vielspältige Bewegung auf die Gegenstände zu treibt sie zu steter Veränderung. Die Fabrik vergrößert sich oder geht ein oder wird durch einen Streik lahmgelegt, sie wird aufgekauft und „umgestellt“, eine chemische oder technische Erfindung revolutioniert ihren Betrieb, Interessengruppen und Parteien kämpfen um sie und in ihr usw. Und dies alles ist nicht etwa ein Geschehen, was „an der Fabrik abläuft“ oder um sie herum sich abspielt, als ob „sie selbst“ davon unberührt bestände, sondern all dies geschieht in und mit der Fabrik selbst, macht erst ihr eigentliches volles Sein, ihre ganze Wirklichkeit aus, so dass zu der vollen Erfassung eines geschichtlichen Gegenstandes in seiner konkreten Wirklichkeit ein Ergreifen dieser ganzen Bewegtheit des Geschehens gehört, dass eine solche volle Erfassung von vornherein unmöglich gemacht wird, wenn der geschichtliche Gegenstand als starrer und isolierter genommen, aus seiner Geschichte herausgelöst, als gegensatzlose Identität „durch die Zeit hindurch“ statt als vielspältiges Werden, Wirken und Vergehen in der Zeit gesehen wird. Wenn nur seine jeweilige Positivität in den Blick gebracht wird und nicht auch seine Negativität, die ebenso zu ihm gehört: das was er gewesen ist und er wird und was er nicht ist, was aber mit seine Wirklichkeit ausmacht, da es ihn bestimmt und bewegt.

Diese Bemerkungen sollten nur den Ort andeuten, wo die Dialektik des Geschichtlichen sichtbar werden kann, keineswegs sind sie nach irgendeiner Richtung erschöpfend, sie wollen eben nur Richtungen angeben, nach denen erst geforscht werden muss. Soviel ist vielleicht klar geworden: wenn der geschichtliche Gegenstand von vornherein als „Einheit des Entgegengesetzten“ bezeichnet oder gar in das Schema von Thesis, Antithesis und Synthesis eingegliedert wird, ein solches Verfahren schon die Fülle der geschichtlichen Gegebenheit vergewaltigt, jedenfalls zum ursprünglichen Sinn der Dialektik des Geschichtlichen nicht gehört und erst an viel späterer Stelle auftaucht. Durchaus nicht steht von Anfang an jeder geschichtliche Gegenstand in einer solchen Zweiheit oder Dreiheit, sondern erst aus der Erfassung einer umgreifenden größeren geschichtlichen Ganzheit (Periode, Entwicklungsstadium) lässt sich solche Einordnung gewinnen, setzt also schon Dialektik und dialektische Erkenntnis voraus.

Wir kommen nun zur zweiten Frage: welche Gegenstände sind denn in ihrer Seinsart geschichtlich und damit dialektisch oder sind es alle Gegenstände, die ganze Wirklichkeit? Hegel hat in letzterem Sinne entschieden. Und im Hinblick auf sein System ist offenbar, dass eine solche Absolutierung der Geschichtlichkeit oder Geschichtlichmachung des Absoluten sowohl das Wesen der Geschichtlichkeit wie das Wesen der Wirklichkeit zugunsten einer glatten Konstruktion verbiegt. Wenn wir nun die Frage nach dem Bezirk der Geschichtlichkeit positiv zu beantworten versuchen, so muss gesagt werden, dass eine solche Antwort weite Untersuchungen in der Ontologie notwendig voraussetzt, es ist unvermeidlich, hier nur Ergebnisse mitzuteilen, aber dieser Mangel lässt sich korrigieren Hinweis auf die grundsätzliche Erarbeitung dieser Problematik bei Dilthey (bes. auch in dem Briefwechsel mit dem Grafen Yorck v. Wartenburg) und jüngst bei Heidegger (Sein und Zeit I, 1927).

Ihrem Sein nach geschichtlich sind nur das menschliche Dasein und alle von diesem Dasein in seiner Existenz ergriffenen, gestalteten, geschaffenen und belebten Gegenstände, so dass ihr volles sein, ihre ganze Wirklichkeit nur als Geschichtlichkeit und in der Geschichte ist. Dazu würden also gehören: die jeweiligen menschlichen Lebensweisen und -formen in ihrem ganzen Umkreis, alle ihre Werke und Bildungen, ebenso aber auch die Natur als bewohnter Lebensraum und als verwendete Kraft. Ihrem Sein nach nicht geschichtlich wären: die Gegenstände der mathematisch-physikalischen Naturwissenschaft (deren Sein sich gerade in Abstraktion von ihrer Bezogenheit auf menschliches Dasein konstituiert), nicht nur die Natur als Gegenstand der Physik, sondern auch soweit ihre Seinsweise eben eine andere ist als die des geschichtlichen Daseins und in dieser Seinsweise Gegenstand wird (wie dies z. B. im „Naturerleben“ der Fall sein kann). Die Grenze zwischen Geschichtlichkeit und Nicht-Geschichtlichkeit läuft also nicht an irgendeiner Stelle durch die Welt, sondern sie ist eine ontologische Grenze: jeder Gegenstand kann geschichtlich oder nicht-geschichtlich Gegenstand werden, selbst die menschliche Existenz (nur dass hier, da das Sein des Menschen vorzüglich geschichtlich ist, solche ungeschichtliche Vergegenständlichung – wie sie z.B. beim Menschen als Gegenstand der Kunst eintreten kann – nur auf Grund einer ganz bestimmten Entwirklichung möglich ist und eine Unwirklichkeit zum Ergebnis bat). Im eigentlichen Sinne geschichtlich kann nur das menschliche Dasein genannt werden, weil zum eigentlichen Geschichtlich-Sein das Wissen um die eigene Existenz und ein wissendes (nicht etwa erkennendes) Verhalten zur Wirklichkeit gehört.

Es wird jetzt deutlich, welche Wendung in dem Wege von Hegel zu Marx vorliegt. Wenn Marx die Hegelsche Dialektik „vom Kopf wieder auf ihre Füße gestellt“ hat, so ist dies keine Korrektur an einem Teil der Hegelschen Philosophie, kein Herausgreifen und Übernehmen einer Methode, keine materialistische Umdeutung, sondern die Rückführung der Dialektik in ihren eigentlichen Bezirk und damit die wissenschaftliche Entdeckung der eigentlichen Dimension der Geschichte, die nun, weil eben zugleich auch die Dialektik wieder entdeckt war, in ihrer Grundstruktur erfasst werden konnte. Marx hat als erster die eigentliche Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins in dem ihr allein gemäßen Zugang ergriffen. Er ist in einem viel tieferen Sinne der Erbe der deutschen idealistischen Philosophie, weil diese Philosophie nur auf dem Wege in und durch die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins wieder echt werden konnte.

Wir fassen diese Ergebnisse in einigen Thesen zusammen, die durch das Vorhergehende nicht etwa bewiesen sein, sondern nur als Leitfaden für eine weitere Diskussion des Problems dienen sollen:

1. Dialektik ist keine in irgendeiner philosophischen oder soziologischen Theorie begründete Methode oder Erkenntnisform, auch kein Erkenntnismittel, sondern Bezeichnung für eine Seinsart des Seienden selbst. Nur weil und insoweit eine Seinsart des Seienden dialektisch ist, kann das auf diese Seinsart gerichtete Forschen – und nur dieses – dialektisch sein.

2. Nicht jedes Seiende ist seiner Seinsart nach dialektisch, sondern nur solches, dessen Sein Geschichtlichkeit ist.

3. In eigentlichem Sinne dialektisch ist nur das eigentlich Geschichtlich-Seiende: die menschliche Existenz in ihrer Wirklichkeit, in ihrem Geschehen in der ergriffenen und gestalteten Welt.

4. Dialektisch ist nie eine Spannung oder ein Gegensatz zwischen dem menschlichen Ich und einer ihm gegenüber „gesetzte“ Welt des Seins, „Überseins“ (Gott …) oder Geltens, weil solche Auffassung schon im Ansatz den ursprünglichen Boden der Dialektik verliert, indem sie die konkrete (geschichtliche) menschliche Existenz von vornherein isoliert einer seinsmäßig ungeschichtlichen Welt gegenüberstellt (also die Ganzheit der Welt künstlich zerreißt, um sie hinterher erst wieder zur Einheit oder Spannung zusammenzubinden).

Gehen diese Thesen auf den ursprünglichen Ort und Sinn der Dialektik, so betreffen die folgenden ihre Konkretion in Geschehen (des menschlichen Daseins), in der Geschichte, und damit ihre „Anwendung. Hiermit wird die ursprüngliche Einheit von Theorie und Praxis sichtbar, die wieder Marx als erster in der Dialektik ergriffen hat.

5. Wenn Dialektik in der Geschichtlichkeit gründet und eigentlich geschichtlich nur das menschliche Dasein ist, und zwar so, dass es nur als konkret-geschichtliches, d. h. jeweils durch eine konkrete geschichtliche Situation bestimmt, existiert, so kann Dialektik ihren vollen Sinn erst in der konkreten Geschichte des menschlichen Daseins (Geschichte im eigentlichen Wortgebrauch) finden. Sie wird zur konkreten Dialektik.

6. Konkrete Dialektik betrifft das Geschehen als Seinsart des menschlichen Daseins, Keinesfalls darf jedes in der Geschichte sich ereignende Faktum von vornherein dialektisch genannt und erfasst werden (hier wird der größte Missbrauch getrieben), sondern nur die geschichtliches Dasein in seinem Sein angehenden Handlungen und Geschehnisse.

7. Insoweit konkrete Dialektik die Vielspältigkeit, Gewordenheit und Grenze geschichtlicher Daseinsweisen und -formen aufweist, bedingt sie ein jeweiliges Stellungnehmen zu diesen Daseinsweisen und -formen und ihrer Wirklichkeit. Und insoweit jede solche geschichtliche Wirklichkeit als Wirklichkeit den Anspruch auf Beständigkeit, Eindeutigkeit und Geltung in sich trägt und durchsetzen muss, muss dialektische Stellungnahme eine kritische sein, den Anspruch untergraben. Konkrete Dialektik als objektive, standpunktlose Wissenschaft ist ein Widersinn,

Kehren wir hiernach wieder zu dem Buch Siegfried Marcks zurück. Eine Untersuchung, die ein so wenig klares und so viel verdecktes und verborgenes Problem wie das der Dialektik stellt, muss wenigstens eine vorläufige Bestimmung dessen geben, was sie als Dialektik meint. Es geht nicht an, dafür auf den zweiten Band zu vertrösten, da eine historische Betrachtung „unter dem Gesichtspunkte des Problems der Dialektik“ erst auf Grund einer solchen Bestimmung ihren Sinn bekommen kann. Nehmen wir aber die kurzen Andeutungen und die aus der Darstellung des ersten Bandes selbst sich ergebenden Anhaltspunkte für eine vorläufige Bestimmung dessen was hier als Dialektik gemeint ist, so ist dazu auf Grund der vorhergehenden Ausführungen zu sagen:

Marck sucht den Ort der Dialektik in der Philosophie oder genauer in der „philosophischen Grundlegung“ und von hier aus in einer Spannung zwischen Ich und Ist, Erkennen und Wirklichkeit. Die Voraussetzungen einer solchen Bestimmung sind schon kurz berührt worden. – Es ist natürlich möglich, von der philosophischen Grundlegung her zur Dialektik zu kommen und verschiedene Formen des Philosophierens daraufhin zu untersuchen, aber nur solche, deren Absicht auf die Herausstellung der Geschichtlichkeit im oben angedeuteten Sinne sich richtet. Dann fallen aber eine Anzahl der von Marck im ersten Band behandelten Formen des gegenwärtigen Philosophierens von vornherein für solche Untersuchung fort: undzwar der „antidialektische Kritizismus“ (Rickert und Lask), die Theologie und E[berhard] Grisebach. Es ist nicht entscheidend, in wieweit Geschichte und Geschichtlichkeit in diesen Systemen „vorkommt“ (dies ist bei Rickert ja in ziemlich hohem Maße der Fall), sondern ob der innere Sinn des Philosophierens auf Geschichte und Geschichtlichkeit geht, diese Frage muss aber verneint werden. Verneint weren vielleicht auch bei Heidegger, wenn die ganze Existentialanalytik im ersten Teil von „Sein und Zeit” nur als Ansatz für eine Ausarbeitung der Fundamentalontologie und Metaphysik interpretiert wird (eine Interpretation, die Heidegger selbst nach den neuen Veröffentlichungen [„Vom Wesen des Grundes“ 1929, „Kant und das Problem der Metaphysik“ 1929) vorzunehmen scheint).

Alle diese nur im Rahmen philosophischer Diskussion zu klärenden Fragen müssen hier beiseite bleiben. Wir wollen uns nur noch mit der Marckschen Kritik an Lukács beschäftigen, die das Problem auf den Boden des Marxismus zurückführt. Hier wird endlich ein langes und schweres Unrecht gutgemacht, indem Lukács’ Buch „Geschichte und Klassenbewusstsein“ in seiner wesentlichen und nicht zu überschätzenden Bedeutung für die Entwicklung des Marxismus gesehen und gewürdigt wird (S. 122 ff.). Marck macht endlich mit jener primitiven „Kritik“ Schluss, die glaubt, Lukács’ Untersuchungen mit dem Hinweis auf „Metaphysik“ erledigen zu können und die am schlimmsten gerade von kommunistischer Seite breitgetreten worden ist. Seine Kritik trifft auch in einem Punkte die Schwäche der Lukácsschen Dialektik: in den Begriff des „richtigen Klassenbewusstseins“. Dieser Begriff ist (wie schon die Konzeption des Klassenbewusstseins überhaupt) eine Durchbrechung der Dimension der Geschichtlichkeit, eine Fixierung „außerhalb“ des Geschehens, von wo aus erst eine künstlich-abstrakte Verbindung mit der Geschichte hergestellt werden muss. Nicht zutreffend scheinen uns Marcks Einwände gegen die Behandlung des „Natur- und Wertproblems“ bei Lukács (S. 131 ff.). Gerade Lukács’ Polemik gegen Engels (dessen falsche Auffassung der mathematisch-physikalischen Naturwissenschaft als „dialektischer“ durch die Teilveröffentlichung der „Naturdialektik“ [Marx-Engels-Archiv II] in ihrer Haltlosigkeit klar geworden ist) zeigt, dass Lukács die Zwiespätigkeit des Seins der Natur, die einmal, als Gegenstand der Physik, ganz und gar ungeschichtlich, dann aber, als Lebensraum des menschlichen Daseins, geschichtlich ist, sehr wohl gesehen hat und durchaus nicht die Natur „restlos als Gesellschaftsprodukt“ auf fasst. Vollends die Statuierung einer „Werttranszendenz“, die Marck Lukács entgegenhält, kann den Sinn des Lukácsschen Buches, das keine philosophische Grundlegung, sondern konkrete Dialektik sein will, nicht berühren.

Nach diesen kritischen Bemerkungen muss noch einmal der große Wert der Marckschen Untersuchungen hervorgehoben werden. Wir sehen ihn nicht nur in der schon anfangs erwähnten Sicherheit und Tiefe der einzelnen Analysen, sondern in der inneren Auflockerung der gegenwärtigen Philosophie, in der Sichtbarmachung ihrer eigentlichen Problematik, durch die bei allen Vorbehalten ihre größere Lebensnähe und Aktualität deutlich wird. So kann das Buch von Marck gerade für die marxistische Diskussion fruchtbar werden, indem es zeigt, dass die gegenwärtige Philosophie ganz wo anders steht als sie sowohl die alte wie die neue marxistische Theorie gemeinhin sucht und dass eine Auseinandersetzung mit ihr längst keine „Spiegelfechterei“ mehr ist, wohl aber eine Notwendigkeit gerade für den Marxismus.

 

[1] Siegfried Marck: Die Dialektik in der Philosophie der Gegenwart. 1. Halbband. Tübingen 1929.

[2] Die Gesellschaft. Internationale Revue für Sozialismus und Politik, J. H. W. Dietz Nachf., Berlin, Januar 1930 (Jg. 7, Nr. 1), 15–30. – der Hrsg.

[3] Die wesensnotwendige Verbundenheit der platonischen Dialektik mit der gesprochenen Rede und Gegenrede als Offenbarmachen des Seienden kann hier außer Betracht bleiben, weil gerade diese Bedeutung der Dialektik in der weiteren Entwicklung völlig verloren geht, wie sie ja auch nur innerhalb der griechischen Welt Geltung haben kann.