Josef Révai

Georg Lukacs: Geschichte und Klassenbewusstsein[1]

(Der Malik-Verlag. Berlin, 1923.)

 

Die philosophische Literatur des Marxismus ist mit einem Buche reicher geworden, dessen Ziel darin besteht, die Dialektik nach Jahrzehnten der sozialdemokratisch-kantianischen Verflachung des Marxismus wieder in den Mittelpunkt des Marxismus zu stellen. Der Einfluss der neokantianischen Richtung in der modernen, bürgerlichen Philosophie äußerte sich darin, dass die kantianisch orientierten „Marxisten“ aus dem Marxismus eine Einzelwissenschaft machen wollten, die die Welt bloß zu „erkennen“, nicht aber zu „verändern“ hatte. Nach der Meinung dieser Marx-Gelehrten musste der Marxismus die Verantwortung jeder „Weltanschauungsfrage” ablehnen, sie gingen sogar so weit, dass sie erklärten, der Materialismus von Marx sei seine persönliche Angelegenheit, der in der historischen und geistigen Atmosphäre des 19. Jahrhunderts seine Erklärung findet, der aber mit dem Marxschen System selbst sachlich gar keinen Zusammenhang hatte. (Max Adler.) Auf Grund dieser Auffassung konnte dieser philosophische Vulgär-Marxismus weder die Hegelsche, noch die Marxsche Dialektik begreifen. Denn sowohl die Hegelsche als auch die Marxsche Dialektik hat eine recht einzelwissenschaftlich unbegreifbare „Weltanschauungsfrage“ zur Voraussetzung, nämlich ein bekanntes Verhältnis zwischen Denken und Sein, wonach diese beiden keine starren Gegensätze sind, sondern eine dialektische Einheit darstellen. Das ist der Grundgedanke sowohl der Hegelschen, wie der Marxschen Dialektik und das ist der Punkt, von wo aus Marx Hegel entscheidend korrigiert. Denn bei Marx ist die Dialektik eine revolutionäre Dialektik, kein Mittel der bloßen Anschauung der Welt, sondern ein Mittel zu ihrer Veränderung. Lukacs stellt diesen Unterschied zwischen bloß kontemplativer und revolutionärer Dialektik in den Mittelpunkt sowohl des Marx-Hegel Gegensatzes, als auch des Marxschen Systems selbst. Aus diesem Gesichtspunkte schränkt er gegenüber Hegel, aber auch gegenüber der Meinung von Plechanow die Gültigkeit der Dialektik ein: eine revolutionäre Dialektik kann es in der Naturerkenntnis nicht geben, die Natur kann nicht durch eine „praktisch-kritische Tätigkeit“ umgewälzt, die Naturgesetze können in der Technik nur angewendet, nicht aber dialektisch aufgehoben werden. Darum ist die wirkliche Heimat der Dialektik die Gesellschaft und die Geschichte.

Es ist gerade der Standpunkt des bürgerlichen Nationalökonomen und der sozialdemokratischen Fachgelehrten, diesen „Naturgesetzen“ der Klassengesellschaft eine „ewige“, „zeitlose“ Geltung zuzuschreiben. Die theoretische Kapitulation der Sozialdemokratie vor den „wissenschaftlichen” Standpunkt der Bourgeoisie wird eben dadurch gekennzeichnet, dass sie diese Gesetze als Naturgesetze auffasst, dass sie dem fetischistischen Schein, den die kapitalistische Gesellschaft hervorbringt, erliegt. Denn für den Kapitalisten sind Ware, Kapital, kein Ausdruck bestimmter, menschlicher, das heißt Klassenbeziehungen, sie sind ebensolche „Dinge“, wie die Dinge der Natur, und die „ökonomischen Gesetze“ sind ebensolche von Menschen, von der Klasse selbst unabhängige, unaufhebbare „Dinggesetze“. Die Bolschewiken sind verrückte Kerle, die sich gegen diese „ewigen“ Gesetze aufzulehnen wagten, und die jetzt auf Grund dieser „Naturgesetze“ die Herrschaft des Kapitals wieder aufzurichten gezwungen sein werden. (Siehe Otto Bauer, Abromowitsch usw.) Lukacs schildert, wie dieser Schein der Naturgesetzlichkeit das gesamte Denken der Bourgeoisie bestimmt, dass die Fragestellungen, die Probleme der bürgerlichen Philosophie nichts anderes sind, als die gedankliche Spiegelung des Warenfetischismus, dass die Widersprüche, die die bürgerliche Philosophie als unlösbar und als zur „Natur” des „menschlichen Geistes“ gehörend betrachtet, nur der Widerschein der für den Kapitalismus unlösbaren Widersprüche seiner eigenen Gesellschaftsordnung sind.

Der größte Verdienst des Buches des Genossen Lukacs liegt in der geschichts-materialistischen Behandlung der Geschichte der Philosophie, insbesondere des 18. und 19. Jahrhunderts. Denn bisher hat man dieses Gebiet nur ganz allgemein und abstrakt behandelt, ohne wirklich zeigen zu können, wie die Philosophie, die scheinbar in der Sphäre des „reinen Geistes” in der Luft hängt, mit dem wirklichen Leben der Gesellschaftsepoche, deren Geburt sie ist, konkret zusammenhängt.

Die Auffassung Lukacs’ über die Philosophie von Marx ist zweifellos eine originelle, die in sehr wesentlichen Punkten von den Auffassungen alter Marxisten, die die Hüter nicht nur der politischen, sondern auch der Hegelschen Orthodoxie des Marxismus waren, abweicht, so zum Beispiel von der Auffassung Plechanows (gar nicht zu sprechen von Cunow, Max Adler, E. Bernstein, die von der tiefliegenden Verwandtschaft der Marxischen Dialektik mit der Hegelschen nichts begriffen haben). Lukacs’ Marx-Interpretation kämpft gegen zwei Fronten: erstens, gegen die Auffassung, dass der „Materialismus“ von Marx mit dem naturalistischen Materialismus, mit dem „Monismus” eines Haeckels zum Beispiel nahe verwandt oder sogar gleichbedeutend wäre (wie zum Beispiel Plechanow behauptete) und zweitens, gegen den „kritischen“ Marxismus, der sowohl an Marx, wie auch an Kant Gewalt antuend, die beiden zu „vereinigen“ unternimmt. Er ist im Gegenteil der Meinung, dass sowohl der dogmatische Materialismus als auch der Kantische „Kritizismus“, der sich über den ersteren sehr erhaben wähnt, aus demselben bürgerlichen Boden emporgewachsen sind. Genosse Lukacs sieht im Einbringen des metaphysischen Materialismus in das Denken marxistischer, proletarischer Kreise einen bürgerlichen Einfluss auf das Proletariat, wovon die Arbeiter sich schwerer emanzipieren können als vom Einfluss der bürgerlichen Nationalökonomie, Politik usw., da die Philosophie einen „über alle Klassen erhabenen Schein“ im Auge des Arbeiters viel eher bekommt als diejenigen bürgerlichen Theorien, deren ideologischen Betrug er auf Grund seines Alltagslebens viel leichter durchschauen kann. (Wobei zu bemerken ist, dass die Auffassung, die die Dialektik mit dem bürgerlichen Materialismus verbindet, für das revolutionäre Wesen des Marxismus weniger gefährlich ist, als der Kantianismus, denn der Versuch, die Natur zu dialektisieren, noch immer marxistischer ist, als der Versuch, die Gesellschaft und die Geschichte zu naturalisieren.)

Wir können uns hier mit allen Problemen, die Genosse Lukacs in seinem Buche aufwirft oder erschöpfend behandelt (wie zum Beispiel seine Polemik gegen Rosa Luxemburg in der Frage der Rolle der Partei und der Frage des Unterschiedes zwischen bürgerlicher und proletarischer Revolution) nicht beschäftigen. Nur noch eines wollen wir erwähnen und das ist seine Darstellungsweise, die Schwierigkeit, seine Sprache zu verstehen. Zweifellos ist das Buch schwerfällig für Arbeiter geschrieben. Der Arbeiter kann als Sklave der Profitmacherei keine „philosophische Bildung“ erwerben, denn sie ist ein Monopol der Kapitalisten. Der Arbeiter versteht nicht die klassische deutsche Philosophie, Kant, Fichte, Hegel, deren Erbe aber – nach Engels Worten – dennoch er ist und nicht die Bourgeoisie. Und doch ist es die Arbeiterklasse, „deren Emanzipation nur mit Hilfe der Theorie“, mit Hilfe der sich an Hegel anlehnenden Marxischen Dialektik vollzogen werden kann.

Und weil das Buch „Geschichte und Klassenbewusstsein“ diese theoretische Frage tiefgehend und sehr dringlich behandelt, können wir feststellen, dass es die Interessen des Proletariats fördert, wenn es auch den großen Massen der Arbeiter unzugänglich ist.

Das Buch Lukacs’ ist jedenfalls der Ausdruck dessen, dass eine Philosophie, deren Grundlage der proletarische Klassenstandpunkt ist, die „Philosophie” der Bourgeoisie weit zu überflügeln imstande ist. Ebenso wie Marx die bürgerliche Ökonomie auf ihrem eigenen Felde geschlagen hat, sucht Lukacs die bürgerliche Philosophie auf ihrem eigenen Felde auf, um sie dort zu schlagen.

Für die geistige Selbstverständigung des revolutionären Marxismus, wäre es wünschenswert, wenn über die Dialektik-Auffassung des Genossen Lukacs in der wissenschaftlichen Parteipresse eine fruchtbare Diskussion beginnen würde, um das Problem der Dialektik breiteren proletarischen kommunistischen Kreisen zugänglich zu machen.

 

[1] Die Rote Fahne (Wien), 31. Mai 1923 (Jg. 6., Nr. 1232.), 2–3. – der Hrsg.