Josef Révai

Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik[1]

Berlin, Malikverlag 1923, Gr. 8°. 343 S.

 

Die Frage nach der Rolle der Dialektik im Marxschen System ist gleichbedeutend mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen Marx und Hegel.[2] Eine einheitliche Auffassung in dieser Frage war im Lager des Marxismus nicht vorhanden. Die neumarxistische M.-Literatur, stark beeinflusst von der neukantianistischen Richtung in der Philosophie, sah im Marxismus eine Einzelwissenschaft, die sich mit dem kausal-gesetzmäßigen Ablauf der Vorgänge in der Gesellschaft und Geschichte beschäftigt, die also in gar keinem inneren, sachlichen Zusammenhang mit „Weltanschauungsfragen” steht. Diese Auffassung vom Marxismus als einer „positiven Wissenschaft”, war um so mehr möglich, als der Neu-Kantianismus selbst aus der Philosophie, selbst aus dem Kantschen System alle „Weltanschauungsfragen” ausgemerzt, aus der Philosophie eine Einzelwissenschaft gemacht hat. Ein positivistisch gewendeter Kant und ein kantianisch umgedeuteter M. standen zueinander in einem Verhältnis, in dem eine jede Naturwissenschaft zu ihrer positivistischen Erkenntnistheorie steht. Nach einer solchen Auffassung, nach der die Aufgabe der Philosophie bloß in der Untersuchung der transzendentalen Voraussetzungen jeder Erkenntnis bestand, war es selbstverständlich, dass der M.-Interpret im M.schen „Materialismus” eine persönliche Angelegenheit M.s zu sehen gezwungen war, der zwar in der gesellschaftlichen Kampfrolle des Materialismus des XVIII. Jahrhunderts seine historische Erklärung findet, im System selbst jedoch sachlich überhaupt nicht verankert ist. Seien also die Auffassungen über das Verhältnis M.-H. inhaltlich noch so verschieden: ihre gemeinsame Voraussetzung ist die Annahme, der Marxismus sei eine ebensolche Einzelwissenschaft wie jede andere. Dieser Gesichtspunkt war es, aus dem die Frage der Dialektik betrachtet und beantwortet wurde. Von ihm aus sah Eduard Bernstein in der Dialektik, als der H.schen Erbschaft des Marxismus, einen „Fallstrick”, eine die empirischen Tatsachen verfälschende, die Wertfreiheit der wissenschaftlichen Urteile zunichtemachende apriorische Begriffskonstruktion. Dies war der Standpunkt, der Max Adler zur Annahme führte, dass die Zerreißung der „mystischen Hülle” der H.schen Dialektik in nichts anderem bestand, als in der Auseinanderhaltung und Unterscheidung der Dialektik als einer wissenschaftlichen Arbeitsmethode von den „realen Antagonismen” der Geschichte. Und hierauf fußend durfte Heinrich Cunow umgekehrt sagen, dass die M.sche Dialektik bloß die Dialektik des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses „widerspiegelt”.

Auf Grund dieser Einstellung konnte das Wesen der M.schen Dialektik nicht einmal wahrgenommen werden: Denn die Voraussetzung dieser Dialektik bildet die Lehre von einem bestimmten Verhältnis des Seins zum Denken. Wird aber dieses Problem als ein „metaphysisches” von vornherein abgelehnt oder aber so beantwortet, dass es ein Scheinproblem, ein „Missverständnis von Kant” sei (Max Adler folgt hier Schopenhauer), denn auf Grund eines Verhältnisses zwischen Sein und Denken als des zu Erkennendem und des Erkennenden, kann das Problem in dieser Form nicht einmal auftauchen, so muss die Dialektik entweder eine phantastische Konstruktion oder aber ein Rätsel bleiben. Und wird das Problem dennoch behandelt, so müssen gewisse zentrale Probleme der Dialektik von vornherein ausgeschaltet, ihre einzelnen, auseinandergerissenen Elemente zusammenhangslos als rein äusserliche Bestimmungen des Denkens oder eines realen Vorganges behandelt werden. Tatsächlich wurde in der philosophischen Literatur des Sozialismus bei der Behandlung der Dialektik diese ihre zentrale Frage: das spezifische, dialektische Verhältnis des Seins zum Denken, nicht in den Mittelpunkt gestellt und dementsprechend der Unterschied zwischen H.scher und M.scher Dialektik nicht aus diesem Punkte einheitlich entwickelt.

Denn auch die älteren Marxisten, vor allem Plechanow und selbst Engels, behandelten die Frage nach dem Verhältnis zwischen Sein und Denken nicht in dialektischem, sondern im Sinne einer naturalistischen Metaphysik. Diese letztere führte dann allerdings zur Ablehnung der durch den Kritizismus durchgeführten Dualität zwischen Sein und Denken, aber diese Art der Einheit hatte mit der H.schen nur den Namen gemein, Betrachtet man die H.sche Dialektik oder den M.schen Materialismus vom Standpunkt einer naturalistischen Metaphysik, so gelangt man einerseits zu rein äußerlicher Beurteilung der H.schen Dialektik als einer „idealistischen” und unterschiebt dem H.schen Begriff des „Geistes” die Bedeutung, die dieses Wort im System der dogmatischen Metaphysik besitzt, und anderseits kommt man zu dem geradezu ungeheuerlichen Resultat, wie z.B. Plechanow, als er sogar den „Monismus” Haeckels, eines philosophischen Dilettanten, in denselben Topf des „Materialismus” warf, wie den Marxismus, und die M.sche Form der Subjekt-Objekt-Identität auf den Satz Huxleys gründete: „dass die Grundlagen der Psychologie in der Physiologie des Nervensystems zu suchen sind”.

Bei Engels, Plechanow und ihren Nachtfolgern geht diese H.sche Einbeziehung der Natur in den Bereich der Dialektik Hand in Hand mit völliger Ablehnung des H.schen Naturbegriffs und mit einer bei einem Dialektiker und Historiker gerade zu unverständlichen Verherrlichung und Verabsolutierung der Naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Die Auffassung des dialektischen Materialismus als eines mit dem naturalistischen nahe verwandten oder sogar identischen verschloss zwar nicht alle Wege zum Verständnis der H.schen Dialektik und der Kritik derselben durch M.; im Gegenteil, die Hüter der H.schen Tradition des Marxismus waren meist gerade jene „orthodoxen” Marxisten, die den Marxismus philosophisch mit dem naturalistischen Materialismus verbanden; aber der Versuch, in Anlehnung an die Naturwissenschaften die Natur dialektisch zu machen, führte unvermeidlich zum umgekehrten Resultat. Die Dialektik wurde naturalisiert. Wohl waren die Folgen dieser Umdeutung zunächst rein philosophische und bezüglich der Entstellung des Wesens des Marxismus weniger gefährlich als die Umdeutungsversuche umgekehrter Art. Denn der Versuch, die Natur geschichtlich, d. h. dialektisch zu machen, lässt die geschichtliche Dialektik selbst in allgemeinen unberührt, während der Versuch, die Geschichte in den Bereich der Natur einzubeziehen, die dialektische Struktur der Geschichte selbst entstellen und das theoretische und praktische Verhalten der Menschen zu ihr verändern muss. Es ist also kein Zufall, dass sich die politisch-revolutionäre Orthodoxie des Marxismus zum dogmatischen „bürgerlichen” Materialismus naiv-unbekümmert verhalten konnte, während sie im Kantianismus, Machismus usw. eine unmittelbare politische Gefahr witterte. Es ist kein Zufall, dass die Dialektik als theoretische Waffe doch von jenen Marxisten gehandhabt wurde, bei denen sie in ihrer philosophischen Bedeutung nur entstellt und äußerlich bewusst geworden ist, während diejenigen, die sich über den primitiven Materialismus kritisch erhaben wähnten, nicht nur philosophisch, sondern auch in der politischen Theorie die Dialektik fallen lassen mussten. Plechanow z. B. hob zwei Bestimmungen der Dialektik als ihre am meisten charakteristischen Züge hervor: 1. die Entwicklung in Widersprüchen, 2. das dialektische Verhältnis zwischen Quantität und Qualität. Diese einzelnen Momente der Dialektik verstand er vorzüglich, aber er glaubte die Selbstbewusstseinslehre H.s, welche die einzelnen Momente der Dialektik zu einem organischen Ganzen verbindet, vernachlässigen und den ganzen Unterschied zwischen M. und H. darin erblicken zu dürfen, dass M. an Stelle des H.schen „Weltgeistes” den Begriff der „Produktionsverhältnisse” gesetzt hat. Er erkannte die Bedeutung der Auffassung H.s von der Wechselwirkung, wonach. „die beiden Seiten desselben nicht als ein unmittelbar Gegebenes belassen, sondern als Momente eines Dritten, Höheren” begriffen werden sollen. Allein dieses „Höhere” wurde bei ihm zu einem neuen, vorangehenden Glied der Kausalreihe und infolge dieser Einstellung musste er dem H.schen Verhältnis zwischen Weltgeist und Geschichte das Kausalverhältnis unterschieben. Infolge dieses Missverstehens und Unverständnisses gegenüber H. wurde aus dem Marxismus philosophisch ein innerlich zusammenhangloses Nebeneinander der verschiedensten Elemente.

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Das angezeigte Buch von L. ist der erste systematische Versuch, das H.sche im Marxismus, die Dialektik philosophisch bewusst zu machen. Aber nicht nur als solchem kommt ihm große Bedeutung zu, sondern auch wegen der originellen Wendung, die L. der philosophischen Interpretation des Marxismus, der Interpretation der H.-Kritik von M. zu geben versteht. L.s Buch ist an Tiefe, Inhaltsreichtum, Fähigkeit zur Erprobung allgemeiner scheinbar „rein“ philosophischer Sätze an konkreten Einzelproblemen denjenigen Werken weit überlegen, die bisher die philosophischen Grundlagen des Marxismus als Spezialproblem behandelt haben. Aber es ist überdies der erste Versuch historisch-materialistischer Behandlung der Geschichte der Philosophie (besonders im XVIII. und XIX. Jahrhundert) und auch in rein philosophischer Hinsicht die erste bedeutende Durchbrechung der als Nichts-als-Erkenntnistheorie erstarrten Philosophie. Von vornherein muss darauf verzichtet werden, sämtliche in ihm behandelte oder berührte Fragen erschöpfend zu besprechen. L. selbst formuliert einleitend seine Absicht dahin: die Frage der Dialektik von neuem zur Erörterung zu stellen. Ich begnüge mich daher mit der Wiedergabe seiner Gedankengänge im allgemeinen, um daran einige ebenfalls allgemeine kritische Bemerkungen zu knüpfen.

L.s zentrale Fragestellung lautet: kann die Dialektik anders als revolutionär sein? D. h. muss nicht als ihr innerstes Wesen die Einheit von Theorie und Praxis betrachtet werden und ist es kein Widerspruch zu ihren eigenen Voraussetzungen, wenn diese Einheit in ihr nicht durchgeführt wird? Mit diesem Maßstab misst L. die H.sche Dialektik und zeigt ihre eigenen, inneren Widersprüche auf. Er betrachtet also die Feuerbach-These M.s: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern“, als Wesen und Ausgangspunkt des Marxismus. Und zwar für die „Philosophie“ kommt es darauf an. Die Aufgabe, die Welt zu verändern, darf nicht so verstanden werden, wie etwa die Anwendung der Naturwissenschaften, die Technik, eine „Veränderung“ der Natur, eine „Herrschaft“ über sie bedeutet, sondern in der Theorie selbst, in ihrer Beziehung zu ihrem Gegenstand müssen die praktischen Momente gegeben sein. Denn die Technik, die „Praxis“ der Naturwissenschaften setzt gerade ein unveränderliches Gelten der Naturgesetze voraus, während die „Veränderung der Welt“ im Sinne von M. die Aufhebung der „auf der Bewusstlosigkeit der Beteiligten“ beruhenden „gesellschaftlichen Naturgesetze“ zu bedeuten hat. Das Bewusstsein vom Gesetze, die Erkenntnis des Gegenstandes muss also gleichbedeutend sein mit der Veränderung des Gegenstandes. Eine derartige Erkenntnis ist aber nur möglich, wenn zwischen Subjekt und Objekt der Erkenntnis keine unaufhebbare starre Fremdheit besteht, wenn der Gegenstand nicht nur als Objekt sondern ebensosehr als Subjekt gefasst wird, wenn die Erkenntnis des Gegenstandes demnach eine Selbsterkenntnis des Subjekts, das Selbstbewusstsein des Gegenstandes bedeutet. Alle Bestimmungen der Dialektik: die Aufhebung der Starrheit der Begriffe, die These-Antithese-Synthese usw. bekommen nur dann ihren Sinn, wenn sie verstanden werden als Bestimmungen des Selbsterkenntnisprozesses des Gegenstandes. Dieser kann aber nur als Totalität verändert werden. Denn seine Veränderlichkeit und Veränderbarkeit bedeutet die Aufhebung der Selbständigkeit und der Isolierung seiner einzelnen Momente. Die Dialektik besteht gerade darin, dass sie die Selbständigkeit der einzelnen Momente als Schein enthüllt. Die wahre Wirklichkeit sind nicht die isolierten Tatsachen, sondern die Totalität. Die einzelnen „Tatsachen“ können nur in die Totalität aufgelöst und eingefügt verstanden werden. Welches ist aber das Gebiet, wo ein identisches Subjekt-Objekt auffindbar ist? Diese Frage hat H. noch gar nicht aufgeworfen. Er hat die gesamte Welt von vornherein vom Standpunkt des Selbstbewusstwerdens betrachtet. In der M.-Interpretation von L. wird die Natur, als der Gegenstand, dessen Erkenntnis ihre eigene Selbsterkenntnis bedeuten könnte, von vornherein ausgeschaltet und die Gültigkeit der Dialektik auf die Geschichte, als die Geschichte des Menschen, beschränkt. (Gerade durch diese methodische Trennung der Geschichte von der Natur konnte L. der noch bei allen Marxisten vorherrschenden, noch durchaus anti-geschichtlichen, aufklärerischen Auffassung der Naturwissenschaften entgehen und in diesen selbst ein geschichtliches Produkt erblicken.) M.s großer Fortschritt gegenüber H. besteht darin, dass er das identische Subjekt-Objekt der Geschichte im Proletariat konkret aufgefunden hat. Er hat die Geschichte nicht wie H. als einen prinzipiell vollendeten Prozess post festum, rein kontemplativ betrachtet, sondern im Kampf des Proletariats um die sozialistische Gesellschaft, in der dialektischen Auffassung der Gegenwart den Punkt gefunden, von dem aus die bisherige Geschichte als Geschichte, als sinnvolles, notwendiges Geschehen überhaupt erfasst werden kann. Denn „die sogenannte historische Entwicklung beruht überhaupt darauf, dass die letzte Form die vergangenen als Stufen zu sich selbst betrachtet …“ (Marx). Der Geschichtsprozess als Totalität konnte nur erfasst werden, wenn die Gegenwart die vergangene Geschichte als ihre eigene Vergangenheit zu begreifen imstande war. Die vergangenen Epochen konnten als Geschichte nur vom Standpunkt desjenigen Subjekts begriffen werden, das die Gegenwart, als Gegenstand, verändert. Nur durch Verneinung des H.schen Satzes, wonach die Eule der Minerva nur mit der anbrechenden Dämmerung ihren Flug beginnt und die Philosophie erst dort beginnt, wo eine Gestalt des Lebens alt geworden ist, konnte M. die Dialektik, die Einheit von Subjekt und Objekt, die Herrschaft des Geistes als Einheit des Bewusstseins mit seinem Gegenstande, tatsächlich verwirklichen. L. fasst das M.sche Auf-die-Füsse-stellen der H.schen Dialektik, als ihre Verwirklichung auf und das Wesen der M.schen H.-Kritik erblickt er im Satze: „… der absolute Geist, der die Geschichte macht“, kommt nur „nach Ablauf der Bewegung nachträglich zum Bewusstsein. Der Philosoph kommt also post festum… Der absolute Geist, als absoluter Geist, macht nur zum Schein die Geschichte.“ Der Geist ist nur Zuschauer, nicht Schöpfer des Prozesses. Dadurch, dass H. die Geschichte als vollendeten Prozess nur nachträglich betrachtet, kann er eine wirkliche Einheit von Subjekt und Objekt, vom Denken und Sein nicht erreichen, er ist gezwungen, im Widerspruch mit sich selbst, anstatt „die Idee in der Wirklichkeit“, sie außerhalb der Wirklichkeit zu suchen. Die Struktur des Verhältnisses des Weltgeistes zu der wirklichen Geschichte als List der Vernunft muss ihm als ein übergeschichtliches, zeitloses „Gesetz“ erscheinen, während sie bei Marx nur die Struktur der Vergangenheit ausdrückt. Die H.sche Begriffsmythologie ist der Ausdruck der Tatsache, dass H. den Gegenstand, die Geschichte auch nur kontemplativ, d. h. äußerlich zu betrachten imstande war. Aus dieser Grundauffassung von L. über die M.sche Dialektik folgt bei ihm nicht nur der Gesichtspunkt, aus dem er die Problemstellungen der klassischen deutschen Philosophie und ihren Zusammenhang mit dem Marxismus erklärt, sondern auch der ganze inhaltliche Aufbau des Marxschen Systems. Der Marxismus erscheint als die Lösung der Fragen und Widersprüche, um welche die klassische deutsche Philosophie vergeblich gerungen hat. Das Problem Kants: die Erkenntnis des Gegenstandes als die „Erzeugung“ des Gegenstandes aufzufassen, musste scheitern an der kontemplativen Struktur der Erkenntnis, für welche die zu erkennende Welt unaufhebbar eine „Gegebenheit“ bleiben musste, d.h. vom Subjekt aus prinzipiell „unerzeugbar“. Das Kantsche Ding-an-sich, an das jede Erkenntnistheorie stoßen musste, welche die kontemplative Erkenntnis der Welt als die einzige und natürliche ansah, bezeichnet die Schranke der Rationalisierbarkeit, der „Erzeugbarkeit“ der Welt der bloßen Faktizität. L. zeigt, wie die Fragestellungen des Kritizismus mit dem Warenfetischismus der kapitalistischen Gesellschaft zusammenhängen, wie die kapitalistische Herrschaft der ökonomischen Gesetze über den Menschen in der Philosophie zur Unbeantwortbarkeit der Frage der Genesis, der „Erzeugung“ des Gegenstandes führt. Die warenproduzierende Gesellschaft erzeugt selbst die vom Ganzen isolierten Tatsachen, deren Reflexionszusammenhang, Rationalität, gerade die Irrationalität des Ganzen voraussetzt. Für die klassische Philosophie waren also die Fragen der Genesis und der Totalität der Welt als von vornherein unlösbare Aufgaben aufgegeben. M. konnte auf diese Fragen darum antworten, weil „die dialektische Methode als Methode der Geschichte jener Klasse vorbehalten geblieben ist, die das identische Subjekt-Objekt, … von ihrem Lebensgrunde aus in sich selbst zu entdecken befähigt war: dem Proletariate“ (S. 164.). Und der Marxismus ist von der „praktisch-kritischen Tätigkeit“ des Proletariats nicht zu trennen. Denn ebenso wie es das verdinglichte gesellschaftliche Sein der Bourgeoisie ist, das ihr verdinglichtes Bewusstsein bestimmt und ihr ihrer eigenen Wirklichkeit gegenüber ein rein kontemplatives Verhalten aufherrscht (sowohl in ihrer Gesellschaftswissenschaft, als auch in der Naturwissenschaft und Philosophie), so ist es ebenfalls das gesellschaftliche Sein des Proletariats, das den Marxismus befähigt, über die bloße Faktizität der Gesellschaft, über die bloße Unmittelbarkeit des Kapitalismus hinauszugehen, den Boden der einzelwissenschaftlichen Forschung, der die isolierten Teilgebiete beherrschenden Gesetze zu verlassen, die Gesellschaft in ihrer Geschichtlichkeit, also in ihrer Totalität zu begreifen. Der Marxismus als Klassenbewusstsein des Proletariats, als Einheit von Theorie und Praxis ist die Selbsterkenntnis der kapitalistischen Gesellschaft und als solche die erste Erkenntnis in der Geschichte, die kein „falsches Bewusstsein“, keine bloße Ideologie ist, die den Gegenstand žu „verändern“, zu „erzeugen“ imstande ist. Darum wendet sich L. scharf gegen die Versuche, den Marxismus zu vereinzelwissenschaftlichen, zu versoziologisieren, darum schreibt er eine so große Bedeutung der marxistischen Erforschung der Urgesellschaft zu. Denn nur im Geiste des Engelsschen Bestrebens, zu zeigen, dass es schon einmal einen Gesellschaftszustand gab, in dem die „gesellschaftlichen Naturgesetzen nicht gegolten haben, kann man sowohl den geschichtlichen Prozess verfolgen, worin sich diese Gesetze allmählich durchgesetzt und im Kapitalismus ihre absolute Gültigkeit erlangt haben, als auch das „Reich der Freiheit“ als Aufhebung der Gültigkeit dieser Gesetze begreifen. Der historische Materialismus folgt also aus dem praktischen, auf die Veränderung des Gegenstandes eingestellten Charakter der M.schen Dialektik: es ist kein bloßes heuristisches Prinzip, mit dessen Hilfe die Tatsachen der Geschichte besser bearbeitet, rationalisiert werden können; er ist die Erkenntnis des archimedischen Punktes, der „Anatomie“ der bürgerlichen Gesellschaft, von wo aus einerseits ihre Totalität erfasst und umgewälzt und anderseits die Geschichtlichkeit der Vergangenheit, die zu der Gegenwart führende Stufenartigkeit der vergangenen Epochen, also die Totalität des Geschichtsprozesses begriffen werden kann. Der ökonomische Gesichtspunkt des historischen Materialismus ist kein einzelwissenschaftlicher, sondern folgt notwendig aus der revolutionären, dialektischen Geschichtsphilosophie Marxens, ist ein von der naturwüchsigen Unmittelbarkeit vergangener Epochen zu ihrer Totalität und Geschichtlichkeit vermittelnder Gesichtspunkt.

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Aber die das erste mal konkret durchgeführte marxistische Auffassung L.s, wonach die Dialektik M.s die Wirklichkeit und Wahrheit der H.schen Dialektik bedeutet, reproduziert auf höherer Stufe die Antinomien der H.schen Dialektik von neuem. Die „Kopernikanische Wendung“, die M. der Dialektik gegeben hat, besteht nach L. darin, dass er die Dialektik nicht post festum, außerhalb des Prozesses in die Geschichte hineininterpretiert, sondern inmitten derselben, auf Grund der revolutionären Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt erkannt hat. Er hat in den Bereich der revolutionären Dialektik die Zukunft hineinbezogen, nicht als teleologische Zwecksetzung oder naturrechtliches Sollen, sondern als wirkende Wirklichkeit, die der Gegenwart bestimmend innewohnt. Die bloße Kontemplation der Geschichte gegenüber wurde damit aufgehoben und durch das Klassenbewusstwerden des Proletariats, als Selbsterkenntnis der kapitalistischen Gesellschaft, die objektive Möglichkeit der Veränderung des Gegenstandes gegeben.

Die konkrete Auffindung des Proletariats als identisches Subjekt-Objekt der Geschichte, die Feststellung, dass sein Klassenbewusstsein die erste wirkliche Selbsterkenntnis des Objekts darstellt, bedeutet aber auf der anderen Seite, dass die bisherige Geschichte kein identisches Subjekt-Objekt besessen hat. Die Struktur, die durch die „List der Vernunft“ ausgedrückt ist und die Transzendenz des Sinnes des Prozesses gegenüber den Absichten und dem Bewusstsein der Menschen bedeutet, drückt ja nichts anderes aus, als diese Tatsache. Damit ist aber die struktive Veränderung der auf die Vergangenheit angewendeten Dialektik ausgesprochen. Wenn die Dialektik mit der revolutionären Dialektik restlos identisch wäre, so würde der M.sche Satz, womit er die bürgerliche Geschichtsauffassung charakterisierte: „Somit hat es eine Geschichte gegeben, aber es gibt keine mehr“ – in sein Gegenteil umschlagen: es gibt eine Geschichte, aber es hat keine gegeben. Die Geschichtserkenntnis des Proletariats, die auf Grund seiner revolutionären Dialektik in der Gegenwart erfolgt und möglich ist, besteht in der Erkenntnis der notwendig zur Gegenwart führenden Vergangenheit. Der Sinn dieser wird nur auf Grund der Selbstkritik jener offenbar. Für die Vergangenheit selbst bedeutet das aber eine unaufhebbare Transzendenz ihrer Geschichtlichkeit gegenüber ihrem Für-sich-Sein. Diese Transzendenz ist keine Kantische, denn als solche würde sie einen unendlichen Progress voraussetzen, sie ist eine sozusagen dem Prozess selbst innewohnende. Was ist das aber anderes als der H.sche Weltgeist? Das Subjekt-Korrelat einer sozusagen bloß „objektiven“ Dialektik, in der das identische Subjekt-Objekt der Geschichte noch nicht vorhanden ist, in der die Dualität zwischen Denken und Sein noch besteht. Die Setzung der List der Vernunft erfordert notwendigerweise die Setzung eines mit den empirischen Subjekten der Geschichte nicht identischen Subjektes, wobei das Wesen der Struktur seines Verhältnisses zur wirklichen Geschichte dasselbe ist, wie die Struktur des H.schen Verhältnisses zwischen Weltgeist und Geschichte. Damit ändert sich aber auch das Problem der Nachträglichkeit, des Post-festum-Bewusstseins. M. und mit ihm L. werfen H. vor, dass bei ihm das Denken nur nachträglich erscheint, nur Zuschauer des Prozesses ist und, außerhalb der Geschichte, sich ihr gegenüber nur rein kontemplativ verhält. Mir scheint dieser Vorwurf H. gegenüber teilweise ungerecht, denn es wird ihm eine Kantische Bedeutung der Kontemplation unterschoben. Die Kontemplation im Kantschen Sinn würde eine inmitten des Prozesses vor sich gehende bedeuten, wobei die Kontemplation – im Sinne L.s – nur die „Naturgesetzlichkeit“ des Prozesses, die Unerkennbarkeit seiner Totalität, seiner Richtung und Notwendigkeit bedeuten würde. Bei H. handelt es sich aber nicht um Kontemplation inmitten eines unbegreifbaren und unbegriffenen Prozesses, sondern um die Kontemplation über einen vollendeten Prozess, dessen Sinn bereits sichtbar geworden ist. Diesen Gesichtspunkt der so aufgefassten Nachträglichkeit muss auch der Marxismus beibehalten, er ist sogar die Voraussetzung seiner Geschichtsphilosophie. Das Wesen dieser letzteren ist die Erkenntnis des „Reiches der Notwendigkeit“ gegenüber dem „Reiche der Freiheit“, wobei die Erkenntnis des zu dem Freiheitsreiche dialektisch hinführenden Notwendigkeitsreiches nur auf Grund seines Beendet-seins, seines Abschlusses durch das Proletariat, durch den Kommunismus, möglich geworden ist. Der Marxismus ist das nachträgliche Bewusstsein einer methodisch bereits als vollendet gedachten Weltperiode.

Dieses spezifische Problem der Vergangenheit, die sich nur kontemplativ begreifen lässt (wobei es sich allerdings um die Kontemplation des Proletariats, des identischen Subjekt-Objekts der Gegenwart handelt), welche sich einer endgültigen Beseitigung der Ding-an-Sich-Problematik entgegenstemmt, spürt L. selbst, Dem Aufsatz „Der Funktionswechsel des historischen Materialismus“ liegt dieses Problem zugrunde. Der „Funktionswechsel“, der mit dem Sieg des Proletariats eintritt, bedeutet die Aufhebung des Kampfcharakters des Marxismus, das Hervortreten seiner rein wissenschaftlichen Elemente, sein Zugewendet-sein der Vergangenheit. Und hier wird die Frage der Anwendbarkeit des historischen Materialismus laut. Denn als Selbsterkenntnis der kapitalistischen Gesellschaft muss er auf Gesellschaften, in denen der Warenfetischismus noch eine Erscheinung der gesellschaftlichen Oberfläche ist, welche noch nicht oder noch nicht rein von den „gesellschaftlichen Naturgesetzen“ beherrscht waren, viel „vorsichtiger“ angewendet werden. Denn „in den vorkapitalistischen Gesellschaften hat es jene Selbständigkeit, jenes Sich-selbst-als-Ziel-Setzen, jene Insichgeschlossenheit und Selbstherrlichkeit, jene Immanenz des wirtschaftlichen Lebens, wie es in der kapitalistischen Gesellschaft erreicht worden ist, noch nicht gegeben“ (S. 244.). Es handelt sich also um die Anwendung der Kategorien der Selbsterkenntnis des Kapitalismus, der Kategorien der vollendeten Vergesellschaftung auf noch nicht vergesellschaftete „Gesellschaften“, in denen noch die „Naturbeziehung“ vorherrscht. Was bedeutet diese Naturbeziehung? Soviel, dass die Selbständigkeit der einzelnen Teilgebiete der Gesellschaft, im Gegensatz zum fetischistischen Schein dieser Selbständigkeit im Kapitalismus, keine scheinbare, sondern eine „wirkliche“, in-sich-begründete ist. Dass also wieder im Gegensatz zum Kapitalismus die Kategorie der Totalität eine den „Naturbeziehungen“ äußerliche ist, dass die Auflösung dieser nicht-fetischistischen Dingbeziehungen im Prozess der Geschichte nicht die wirkliche Erkenntnis ihrer Momentartigkeit bedeutet, sondern ihre Entstellung. Das Werden ist hier nicht die Wahrheit des Seins. Oder genauer: die Wahrheit des Seins als Werden, als Geschichte ist ein ihm selbst äußerliches Moment, die Kategorie der Wirklichkeit (der Totalität, der Geschichte) ist nicht die Vermittlung zur Existenz, sie führt nicht zu ihr, sondern führt von ihr weg. Das bedeutet nicht die Selbstaufhebung der Geschichte, sondern bloß das Wiederauftauchen des Ding-an-Sich-Problems in der Geschichte selbst. Es erscheint in der Gestalt des Widerstreites zwischen der „wahren“, originären und für das Subjekt der geschichtlichen Kontemplation „erscheinenden“ Wesensart vergangener Epochen. Es handelt sich nicht um „die selbe“ Ding-an-sich-Struktur wie im Kritizismus, sondern um das notwendige Auftauchen einer kontemplativen Dialektik, die also auch bei H. keinen „Rückfall“ in den Kantianismus bedeutet hat. Die dialektische Kontemplation kann man bloß formell mit der Kontemplation des Rationalismus gleichsetzen.

L. konnte diese Problematik darum nicht klar erblicken. Denn er sah sich gezwungen, die verschiedenen Totalitätskategorien einander gleichzusetzen, weil er nicht klar genug unterschieden hat zwischen dem identischen Subjekt-Objekt der Gesamtgeschichte und dem bloß der kapitalistischen Gesellschaft. Der Gegenstand als Totalität kann nur begriffen und umgewälzt werden durch ein Subjekt, das ebenfalls eine Totalität ist; und das ist in der kapitalistischen Gesellschaft das sich zur Klasse konstituierende Proletariat. Aber das Proletariat ist nur der Träger des einheitlichen Subjekts der Gesamtgeschichte, aber in seiner Unmittelbarkeit nicht dieses Subjekt selbst. Das identische Subjekt-Objekt der kapitalistischen Gesellschaft ist nicht gleichbedeutend mit dem „bloß“ als Korrelat gesetzten, konkret unauffindbaren, einheitlichen Subjekt der Gesamtgeschichte. Das moderne, um den Kommunismus kämpfende Proletariat ist kein Subjekt der Antike, der feudalen Gesellschaft. Es begreift diese Epochen als seine eigene Vergangenheit, als Stufen zu ihm selbst, aber es ist nicht ihr Subjekt. Das Proletariat als identisches Subjekt-Objekt einer bestimmten Geschichtsepoche, in der ein solches das erste mal zustande kam, muss von seiner spezifischen Standpunkt aus, um sich selbst begreifen zu können, ein einheitliches Subjekt der Gesamtgeschichte, das in ihm endlich mit seinem Objekte identisch wurde, in die Vergangenheit projizieren. L. selbst gibt das zu, indem er gegenüber Feuerbachs mechanischem Humanismus einen dialektischen setzt, durch den in den Mittelpunkt der Geschichte der „nichtseiende Mensch“ gestellt wird. Denn der „seiende Mensch“ als Mittelpunkt der Geschichte bedeutet bloß die Reproduktion „der Unmenschlichkeit der Klassengesellschaft auf metaphysisch-religiöser Ebene, im Jenseits, in der Ewigkeit“ (S. 209.). Wenn der Mensch nicht dialektisch gefasst wird, „so tritt der verabsolutierte Mensch einfach an die Stelle jener transzendenten Mächte, die er zu erklären, aufzulösen und methodisch zu ersetzen berufen wäre“ (S. 204.). Aber wenn zwei dasselbe sagen, so ist es doch nicht dasselbe. Das Proletariat, das durch seine eigene Unmenschlichkeit das Nicht-Sein des Menschen aller Klassengesellschaften begriffen hat, setzt doch irgendwelchen „seienden“ Menschen, d. h. irgendwelchen bloß negativ bestimmten Menschen voraus, zu dessen „Natur“ das Beherrschtsein durch gesellschaftliche Naturgesetze nicht gehört, dessen Verwirklichung durch das Proletariat das Ziel des Geschichtsprozesses ist, der also als bloßes Subjekt-Korrelat dem Geschichtsprozess als ihm transzendent innewohnend zugeordnet werden muss. Der „Mensch“, nicht der Feuerbachsche, sondern der durch das Proletariat zu verwirklichende, ist ebenfalls Begriffsmythologie. Aber eine unvermeidliche Begriffsmythologie. Sie ergibt sich für den Standpunkt des Proletariats notwendig, weil dieses am Wendepunkt zweier Weltepochen steht und demnach sowohl die Zukunft als auch die Vergangenheit erblicken kann. Aber die Zukunft ist noch notwendig leer und die Vergangenheit trägt, gerade als Totalität, eine undurchdringbare Spur von Irrationalität an sich. Beides erzeugt die Begriffsmythologie, den Ausdruck „der Unfähigkeit, in den Gegenstand selbst einzudringen“. Aber diese Begriffsmythologie ist schon eine prinzipiell andere, wie die des bürgerlichen Rationalismus. Denn bei ihm handelte es sich um den gedanklichen Ausdruck der Unbegreifbarkeit der eigenen geschichtlichen Wirklichkeit, während jene nur auf Grund der Erkenntnis und Umwälzung derselben entsteht. Die Reproduktion der H.schen Antinomien der Dialektik weist nach vorwärts, nicht nach rückwärts. Die Verwandtschaft zwischen H. und M. ist noch größer, wie in der Einstellung von L.

 

[1] Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung (Leipzig), 1925. (Jg. 11) 227–236. – Nach 1922, dem zehnten Band, erschien der elfte Band des Grünberg-Archivs, den wir als Vorlage zu dieser Publikation gebraucht haben, erst 1925, doch Révais Rezension selbst durfte schon früher, eventuell schon 1923 erscheinen können, was wir aber nicht kontrollieren konnten – der Hrsg.

[2] Die Namen Marx und Hegel sind im folgenden in M. und H. abgekürzt.