Karl Korsch

Der gegenwärtige Stand des Problems „Marxismus und Philosophie”[1]

Zugleich eine Antikritik

 

I.

Habent sua fata libelli. Eine im Jahre 1923 erschienene Schrift über das „theoretisch und praktisch höchst wichtige Problem des Verhältnisses zwischen Marxismus und Philosophie“, die trotz ihres streng wissenschaftlichen Charakters den praktischen Zusammenhang mit den damals bis aufs äußerste zugespitzten Kämpfen der Zeit keineswegs verleugnete, musste darauf gefasst sein, bei der von ihr praktisch bekämpften Richtung auch theoretisch auf Voreingenommenheit und Ablehnung zu stoßen. Sie konnte dagegen von der Richtung, deren praktische Tendenz sie in der Theorie und mit den Mitteln der Theorie vertrat, auch als Theorie eine unbefangene und sogar wohlwollende Prüfung erwarten. Das Gegenteil ist eingetreten. Die von Seiten der bürgerlichen Philosophie und Wissenschaft an der Schrift „Marxismus und Philosophie“ geübte Kritik hat, indem sie den praktischen Voraussetzungen und Konsequenzen der darin verfochtenen These auswich und auch die theoretische These selbst einseitig auffasste, zu dem so verwandelten theoretischen Inhalt der Schrift eine positive Stellung eingenommen. Statt das wirkliche, zugleich theoretisch und praktisch revolutionäre Gesamtresultat, zu dessen Entwicklung und Begründung alle Untersuchungen dieser Schrift dienen, konkret darzustellen und zu kritisieren, hat sie die für den bürgerlichen Standpunkt vermeintlich „gute“ Seite – die Anerkennung der geistigen Wirklichkeiten – gegenüber der für den bürgerlichen Standpunkt tatsächlich schlechten Seite – der Proklamierung der völligen Zerschlagung und Aufhebung dieser geistigen Wirklichkeiten und ihrer materiellen Basis durch die zugleich materielle und geistige, praktische und theoretische Aktion der revolutionären Klasse – einseitig hervorgekehrt und dieses Teilergebnis als einen wissenschaftlichen Fortschritt begrüßt.[2] Dagegen haben die maßgebenden Vertreter der beiden Hauptrichtungen des heutigen offiziellen „Marxismus“ in der unscheinbaren Schrift sofort mit sicherem Instinkt die ketzerische Auflehnung gegen gewisse, den beiden Konfessionen der alten Marx-orthodoxen Kirche trotz aller scheinbaren Gegensätze auch heute noch gemeinsame Dogmen gewittert und die in der Schrift vertretenen Anschauungen alsbald vor versammeltem Konzil als eine Abweichung von der akzeptierten Lehre verurteilt.[3]

Was an den kritischen Argumenten, mit denen dieses Ketzergericht der beiden Parteikongresse des Jahre 1924 übe die Schrift „Marxismus und Philosophie“ von ihren ideologischen Vertretern in der Folge „theoretisch“ begründet worden ist, auf den ersten Blick am meisten frappiert, ist ihre, bei der sonstigen theoretischen und praktischen Uneinigkeit ihrer Urheber einigermaßen unerwartete volle inhaltliche Übereinstimmung. Es war nur ein Unterschied in der Terminologie, wenn der Sozialdemokrat Wels die Anschauungen des „Professor Korsch“ als eine „kommunistische“, und der Kommunist Sinowjew die gleichen Anschauungen als eine „revisionistische“ Ketzerei verdammte. Sachlich steckt hinter all den Argumenten, die von den Bammel und Luppol, Bucharin und Deborin, Béla Kun und Rudas, Thalheimer und Duncker und anderen parteikommunistischen Kritikern teils direkt, teils indirekt (im Zusammenhang mit dem nachher zu erörternden neuen Ketzergericht über Georg Lukács!) gegen meine Anschauungen vorgebracht worden sind, nur die Wiederholung und Weiterführung der gleichen Argumente, die schon lange vorher der führende Vertreter der anderen Fraktion des offiziellen Marxismus, der sozialdemokratische Parteitheoretiker Karl Kautsky, in seiner ausführlichen Rezension meiner Schrift in der theoretischen Zeitschrift der deutschen Sozialdemokratie aufs Tapet gebracht hatte.[4] Wenn also Kautsky in meiner Schrift die Anschauungen „aller Theoretiker des Kommunismus“ zu bekämpfen glaubte, so läuft in Wirklichkeit die Frontlinie in dieser Diskussion ganz anders, und in der, nach manchen Zeichen zu urteilen, jetzt begonnen grundsätzlichen Auseinandersetzung über die gesamte Lage des heutigen Marxismus werden trotz aller sekundären und vorübergehenden häuslichen Streitigkeiten in allen großen und entscheidenden Fragen die alte Marx-Orthodoxie Karl Kautskys und die neue Marx-Orthodoxie des russischen oder „leninistischen“ Marxismus auf der einen Seite und alle kritischen und fortschrittlichen Tendenzen in der Theorie der heutigen Arbeiterklassenbewegung auf der anderen Seite zusammenstehen.

Aus dieser gesamten Lage der heutigen marxistischen Theorie erklärt es sich auch, dass weitaus die meisten Kritiker meiner Schrift sich sehr viel weniger mit dem engeren Fragenkreis beschäftigt haben, der durch die Worte „Marxismus und Philosophie“ begrenzt wird, als mit zwei anderen, in dieser Schrift gar nicht erschöpfend behandelten, sondern durch sie nur angerührten Problemen. Das ist einerseits die allen Darlegungen meiner Schrift zugrunde liegende Auffassung des Marxismus selbst, andererseits die allgemeinere Frage, in die die Spezialuntersuchung über das Verhältnis zwischen dem Marxismus und der Philosophie am Ende ausmündet, das heißt also die Frage nach dem marxistischen Begriffe der Ideologie oder des Verhältnisses von Bewusstsein und Sein. In diesem letzteren Punkte berühren sich die von mir in „Marxismus und Philosophie“ aufgestellten Behauptungen vielfach mit den auf einer breiteren philosophischen Grundlage aufgebauten Darlegungen der um dieselbe Zeit unter dem Titel „Geschichte und Klassenbewusstsein“ erschienenen dialektischen Studien von Georg Lukács. Mit diesen erklärte ich mich in einem „Nachwort“ meiner Schrift grundsätzlich einverstanden, indem ich mir die ausführliche Stellungnahme zu den in einzelnen etwa noch bestehenden inhaltlichen und methodischen Meinungsverschiedenheiten für später vorbehielt. Diese Erklärung ist dann, besonders von den parteikommunistischen Kritikern, fälschlich als die Konstatierung einer vollkommenen Übereinstimmung gedeutet worden, und auch ich selbst war mir damals über die Tragweite der zwischen Lukács und mir neben vielen Gemeinsamkeiten unserer theoretischen Tendenz tatsächlich und nicht nur „in einzelnen“ bestehenden Meinungsverschiedenheiten noch nicht genügend klar geworden. Ich habe aus diesem Grunde, und aus anderen hier nicht zu erörternden Gründen, der mir von meinen parteikommunistischen Angreifern wiederholt nahegelegten Zumutung, meine Anschauungen von denen von Lukács „abzugrenzen“, damals keine Folge geleistet und ließ lieber die von den Kritikern beliebte wahllose Durcheinanderwerfung meiner und der Lukácsschen „Abweichungen von der allein selig machenden „marxistisch-leninistischen Lehre über mich ergehen. Auch heute, wo ich der unverändert erscheinenden zweiten Auflage meiner Schrift keine solche grundsätzliche Zustimmungserklärung zu den Anschauungen von Lukács mehr hinzufügen kann und auch alle anderen Gründe, die mich früher von einer ausdrücklichen Erklärung über unsere Meinungsverschiedenheiten zurückgehalten haben, längst fortgefallen sind, glaube ich dennoch, in der Hauptsache, in der kritischen Stellung zu der alten und der neuen, der sozialdemokratischen und der kommunistischen Marx-Orthodoxie, objektiv auch jetzt noch in einer Front mit Lukács zu stehen.

 

II.

Der erste dogmatische Gegenangriff, den die Marx-orthodoxen Kritiker der alten und der neuen Schule gegen die in „Marxismus und Philosophie“ vertretene völlig undogmatische und antidogmatische, historische und kritische, und also im eigentlichen Sinne des Worts materialistische Auffassung des Marxismus, das heißt im Grunde genommen gegen die Anwendung der materialistischen Geschichtsauffassung auch auf die materialistische Geschichtsauffassung selbst gerichtet haben, kleidet sich in den äußerst „historisch“ und gar nicht „dogmatisch“ anmutenden Vorwurf, dass ich in dieser Schrift eine sachlich ungerechtfertigte Vorliebe für jene „primitive“ Form offenbare, in der Marx und Engels in ihrer ersten Periode ihre neue materialistisch-dialektische Anschauung als eine mit der revolutionären Praxis unmittelbar zusammenhängende revolutionäre Theorie zuerst begründet haben. Aus diesem Grunde sei ich der positiven Fortbildung der Marx-Engelsschen Theorie durch die Marxisten der zweiten Internationale nicht gerecht geworden und habe obendrein noch ganz und gar die Tatsache übersehen, dass auch Marx und Engels selbst in der späteren Zeit ihre ursprüngliche Theorie wesentlich weiterentwickelt und sie so erst zu irrer vollendeten geschichtlichen Gestalt ausgebildet haben. Man sieht, es wird hier eine für die geschichtlich-materialistische Auffassung der marxistischen Theorie in der Tat äußerst wichtige Frage aufgeworfen, die Frage nach den aufeinander folgenden Entwicklungsphasen, die der Marxismus von seiner ursprünglichen Konzeption bis zu seiner heutigen, bereits in verschiedene geschichtliche Gestalten auseinandergebrochenen Erscheinung durchlaufen hat, nach dem Verhältnis dieser verschiedenen Phasen zueinander und ihrer Bedeutung für die gesamte geschichtliche Entwicklung der Theorie der modernen Arbeiterklassenbewegung.

Es ist ganz selbstverständlich, dass diese verschiedenen geschichtlichen Entwicklungsphasen von dem dogmatischen Standpunkt der einzelnen „marxistischen“ Richtungen, die heute in der sozialistischen Arbeiterklassenbewegung miteinander konkurrieren und sich untereinander auch theoretisch mit der größten Feindseligkeit bekämpfen, ganz verschieden beurteilt werden müssen. Sowohl aus dem Zusammenbruch der Ersten Internationale in den siebziger Jahren als auch aus dem durch den Weltkrieg ausgelösten Zusammenbruch der bisherigen geschichtlichen Gestalt der Zweiten Internationale sind in der Folge nicht nur eine, sondern mehrere getrennte Bewegungen hervorgegangen, die sich alle auf Marx berufen und untereinander um den Besitz des „echten Ringes“, um die Nachfolge des richtig verstanden „Marxismus“ streiten. Aber auch wenn man den gordischen Knoten dieser dogmatischen Streitigkeiten ganz zerschlägt und sich auf den Boden jener dialektischen Erkenntnis stellt, die ihren symbolischen Ausdruck in dem Worte findet, dass der echte Ring verlorenging, wenn man also gar nicht mehr dogmatisch nach der größeren oder geringeren. Übereinstimmung der verschiedenen in Frage kommenden Varianten der marxistischen Theorie mit irgendeinem abstrakten Kanon einer „reinen und unverfälschten Lehre“ fragt, sondern alle diese früheren und heutigen marxistischen Ideologien nur noch geschichtlich materialistisch und dialektisch als Produkte einer historischen Entwicklung betrachtet, wird man immer noch zu einer ganz verschiedenen Bestimmung der einzelnen Phasen dieses Entwicklungsprozesses und ihres Verhältnisses zueinander gelangen, je nach dem Gesichtspunkt, von dem man bei dieser geschichtlichen Betrachtung ausgegangen ist. In der vorliegenden Schrift, wo es sich um die besondere Frage nach dem Verhältnis des Marxismus zur Philosophie handelte, habe ich für diesen besonderen Zweck drei große Entwicklungsperioden unterschieden, welche die Theorie des Marxismus nach ihrer ursprünglichen Entstehung durchlaufen hat und in denen sich ihr Verhältnis zur Philosophie jedes mal in eigenartiger Weise verändert hat.[5] Dieser besondere, nur für die Geschichte von Marxismus und Philosophie maßgebende Gesichtspunkt rechtfertigt insbesondere auch die unter anderen Gesichtspunkten nicht genügend differenzierte Abgrenzung der zweiten dieser Entwicklungsperioden, die ich mit der Junischlacht 1848 und der darauf folgenden Epoche eines bisher unerhörten neuen kapitalistischen Aufschwunges und der gleichzeitigen Zermalmung aller in der vorhergehenden geschichtlichen Epoche bereits entstandenen Organisationen und Emanzipationsträume der Arbeiterklasse in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts beginnen und bis etwa um die Jahrhundertwende fortdauern lasse.

Man könnte nun gewiss darüber streiten, ob nicht die Zusammenfassung eines so langen Zeitraumes, die Vernachlässigung so vieler für die Gesamtentwicklung der Arbeiterklassenbewegung bedeutsamer geschichtlicher Wendepunkte auch für eine Darstellung der Beziehungen zwischen Marxismus und Philosophie ein allzu abstraktes Verfahren wäre. Es ist zwar eine zweifellose geschichtliche Wahrheit, dass in der ganzen zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in dem Verhältnis des Marxismus zur Philosophie niemals wieder eine so entscheidend wichtige Veränderung eingetreten ist wie das große, die gesamte deutsche Bourgeoisie und in veränderter Form auch die deutsche Arbeiterschaft in Mitleidenschaft ziehende totale Sterben der Philosophie, welches zeitlich ungefähr in die Mitte des Jahrhunderts fällt. Aber eine ausführliche Geschichte der Beziehungen der marxistischen Theorie zur Philosophie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die sich nicht bloß auf die Darstellung der allgemeinen Umrisse dieser geschichtlichen Bewegung beschränken würde, müsste hier selbstverständlich noch in hohem Grade differenzieren. Hier lässt meine Schrift tatsächlich noch eine große Reihe von Fragen offen, deren Untersuchung meines Wissens auch noch von keiner anderen Seite her in Angriff genommen worden ist. So wäre z. B. der berühmte Satz, mit dem Friedrich Engels im Jahre 1888 am Ende seiner Schrift über Ludwig Feuerbach und den Ausgang der klassischen Philosophie die deutsche Arbeiterbewegung als die „Erbin der deutschen klassischen Philosophie“ bezeichnet hat, nicht bloß als ein erstes Vorzeichen für das Herannahen jener dritten Entwicklungsperiode zu bewerten, in der die Beziehungen zwischen Marxismus und Philosophie – im Zusammenhang mit der von Engels in seinem Vorwort selbst erwähnten „Art Wiedergeburt der deutschen klassischen Philosophie im Ausland, namentlich in England und Skandinavien, und selbst in Deutschland“ – wieder positiv geworden sind, wenn auch zunächst nur in der Form der Übertragung des bürgerlichen „Zurück-zu-Kant“-Geschreis auf die marxistische Theorie durch die revisionistischen Kantianer-Marxisten. Vielmehr wäre auch für die dazwischen liegenden vier Jahrzehnte 185 –1890 rückblickend darzulegen, in welchen bestimmten Formen jene an sich noch philosophische „Anti-Philosophie“, als die wir die materialistisch-dialektische, kritische und revolutionäre Theorie von Marx und Engels in den vierziger Jahren charakterisiert haben, sich nun in der folgenden geschichtlichen Epoche in zwiespältiger Weise fortgesetzt hat: einerseits als die allmähliche Abkehr der „positiv“ gewordenen sozialistischen „Wissenschaft“ von aller Philosophie überhaupt; andererseits zugleich als eine dieser Entwicklung scheinbar entgegengesetzte, sie aber in Wirklichkeit polar ergänzende philosophische Entwicklung, die seit dem Ende der fünfziger Jahre zunächst bei Marx und Engels selbst, dann auch bei den besten ihrer Schüler – den Antonio Labriola in Italien, den Plechanow in Russland – zu verspüren ist und die ihrem theoretischen Wesen nach als eine Art von Rückwendung zu der Philosophie Hegels, und nicht bloß zu der ihrem ganzen Wesen nach kritischen und revolutionären „Antiphilosophie“ der linken Hegelinge aus der Sturm- und Drangzeit der vierziger Jahre, charakterisiert werden kann.[6]

Diese philosophische Tendenz in der späteren Entwicklung der Marx-Engelsschen Theorie zeigt sich nicht nur direkt in der durch Engels „Feuerbach“ bezeugten veränderten Stellung zur Philosophie. Sie hat auch bestimmte Folgen für die Weiterentwicklung der marxistischen Ökonomie (wovon die Marxsche „Kritik der politischen Ökonomie“ von 1859 und das „Kapital“ deutliche Spuren zeigen) und noch in höherem Grade für die vorzugsweise in das Engelssche Ressort fallenden naturwissenschaftlichen Arbeiten (wo sie ihren Niederschlag in den Engelsschen Manuskripten über „Dialektik und Natur“ und in seiner Streitschrift gegen Dühring gefunden haben). Nur insoweit die deutsche Arbeiterbewegung damals, in der Zeit der Entstehung der Zweiten Internationale, die Marx-Engelssche Theorie im ganzen, und damit auch die philosophischen Elemente dieser Theorie „rezipiert“ hat, kann die damalige „deutsche Arbeiterbewegung“ als die „Erbin der deutschen klassischen Philosophie“ betrachtet werden.

Aber nicht um diese Fragen handelt es sich bei den Angriffen meiner Kritiker gegen die von mir unterschiedenen drei großen Entwicklungsperioden des Marxismus. Sie machen gar keinen Versuch, diese Unterscheidung auch für den besonderen Zweck meiner Untersuchung als unbrauchbar nachzuweisen. Sie unterstellen mir vielmehr die Tendenz, nicht nur mit Bezug auf das Verhältnis von Marxismus und Philosophie, sondern ganz allgemein unter allen Gesichtspunkten die gesamte geschichtliche Entwicklung des Marxismus während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rein negativ als einen einzigen, geradlinig und eindeutig fortschreitenden Prozess der theoretischen Verkümmerung der ursprünglichen revolutionären Theorie von Marx und Engels darzustellen.[7] Sie polemisieren nun mit dem größten Eifer gegen diese von mir niemals und nirgends vertretene Auffassung, ereifern sich über die Unsinnigkeit der von ihnen selbst erfundenen und mir unterschobenen Behauptung, dass schon Marx und Engels selbst die Verflachung und Verarmung ihrer eigenen Theorie „verschuldet“ hätten, beweisen immer noch einmal den von niemand bestrittenen positiven Charakter jener Weiterentwicklung, die von dem ursprünglichen revolutionären Kommunismus des 1848er Manifestes zu dem „Marxismus der Ersten Internationale“ und weiter zu dem Marxismus des „Kapital“ und der späteren Marx-Engelsschen Schriften geführt hat, und gelangen so schließlich fast unvermerkt dazu, das gleiche „positive Verdienst“ für die Weiterentwicklung der marxistischen Theorie, das dem älteren Marx und Engels niemand abstreitet, auch für die „Marxisten der Zweiten Internationale“ in Anspruch zu nehmen. An dieser Stelle aber tritt nun ganz augenscheinlich die dogmatische Tendenz hervor, die hinter diesen ganzen, scheinbar gegen die geschichtliche Wahrheit meiner Darstellung der Entwicklungsgeschichte des Marxismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerichteten Angriffen von Anfang an gesteckt hat. Es handelt sich um weiter nichts als die dogmatische Verteidigung der traditionellen Marx-orthodoxen These über den grundsätzlich marxistischen Charakter, den die Theorie der Zweiten Internationale nach den einen bis zum heutigen Tage (Kautsky), nach den anderen wenigstens bis zu dem „Sündenfall“ des 4. August 1914 (die parteikommunistischen Theoretiker) bewahrt haben soll.

Am deutlichsten tritt diese dogmatische Befangenheit der Marx-Orthodoxie gegenüber der wirklichen geschichtlichen Entwicklung des Marxismus bei Kautsky hervor. Für ihn bedeutet nicht erst die spätere Umformung der Marx-Engelsschen Theorie durch die verschiedenen Schattierungen der Marxisten der Zweiten Internationale, sondern ganz ebenso auch schon die von Marx und Engels „durch die Inauguraladresse (1864) eingeleitete und mit dem Engelsschen Vorwort zur neuen Ausgabe der Marxschen »Klassenkämpfe in Frankreich« (1895) abgeschlossene Fortbildung des Marxismus“ zugleich die „Erweiterung“ dieser Theorie aus einer Theorie der sozialen Revolution des Proletariats zu einer „nicht bloß für das Stadium der Revolution, sondern auch für die nichtrevolutionären Zeiten anwendbaren Theorie“ (a. a. O. S. 313). Und wenn Kautsky hier die Marx-Engelssche Theorie nur erst ihres wesentlich revolutionären Charakters beraubt und sie seinerseits noch als eine „Theorie des Klassenkampfes“ bezeichnet hat, so ist er auch hierüber bald genug hinausgegangen und hat in seinem letzten großen Werk über die „Materialistische Geschichtsauffassung“ auch die wesentliche Beziehung der marxistischen Theorie zum proletarischen Klassenkampf gestrichen. Sein ganzer Protest gegen die angeblich von mir gegen den späteren Marx und Engels erhobene, „Beschuldigung“ der Verarmung und Verflachung des Marxismus erscheint also nur ein Deckmantel für seinen eigenen Versuch, die von ihm selbst und anderen neuerdings vollzogene Preisgabe der letzten und schon längst bis zur Unkenntlichkeit entstellten Überreste der ehemals in Worten rezipierten Marx- und Engelsschen Theorie auch jetzt noch scholastisch und dogmatisch auf die „Autorität“ von Marx und Engels zu stützen.

Aber sogar in diesem Punkte bewährt sich noch die volle theoretische Solidarität der neuen kommunistischen mit der alten sozialdemokratischen Marx-Orthodoxie. Auch hinter der Klage der parteikommunistischen Kritiker, dass in meiner Schrift solche Begriffe wie der „Marxismus der zweiten Internationale durch eine ungewöhnliche Abstraktheit und Schematisierung der allgemeinen Fragestellung verdunkelt werden“ (Bammel, a. a. O. S. 13), verbirgt sich tatsächlich nichts anderes als der Versuch einer dogmatischen Verteidigung dieses „Marxismus der Zweiten Internationale“, dessen geistige Erbschaft Lenin und die Seinen trotz mancher in der Hitze des Kampfes gefallener Worte im Grunde niemals abgelehnt haben. Wie es in solchen Fällen bei den parteikommunistischen „Theoretikern“ üblich ist, vermeidet es auch in diesem Falle der kommunistische Kritiker, die von ihm beabsichtigte Ehrenrettung für den Marxismus der Zweiten Internationale unter eigener Verantwortung zu vollziehen, sondern versteckt sich hinter dem breiten Schatten Lenins. Er zitiert, um den Sinn seiner Klage über die angeblich „abstrakte und schematischen Art“, mit der in der Schrift „Marxismus und Philosophie“ der Begriff des „Marxismus der Zweiten Internationale“ verdunkelt wird, dem Leser klarzumachen, nach bewährter scholastischer Manier einen Satz, mit dem der große Taktiker Lenin einmal in einer besonders komplizierten taktischen Situation zwar nicht für die theoretische, wohl aber für die praktische Weiterentwicklung der modernen Arbeiterbewegung das „historische Verdienst der zweiten Internationale“ anerkannt hat.[8] Dann aber bleibt der kommunistische Theoretiker vollends stecken, und statt die ihm vorschwebende Nutzanwendung dieser Leninschen Ehrenerklärung über die guten Seiten der sozialdemokratischen Praxis auch für die sozialdemokratische Theorie in einem klaren Schlusssatz zu vollziehen, stottert er nur in einer wirklich „ungewöhnlich abstrakten und verdunkelten“ Weise etwas davon, dass es „nicht schwer wäre, zu zeigen, dass es durchaus möglich wäre, dasselbe bis zu einem gewissen Grade auch mit Bezug auf die theoretische Begründung des Marxismus zu sagen“ (a. a. O. S. 14).

Der wirkliche geschichtliche Sachverhalt mit Bezug auf den „Marxismus der zweiten Internationale“, zu dessen Klarstellung ich inzwischen an anderer Stelle einen Beitrag geliefert habe, besteht darin, dass jene angebliche Rezeption des Marxismus im ganzen durch die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts unter veränderten geschichtlichen Bedingungen wieder erwachende und erstarkende sozialistische Bewegung in Wirklichkeit niemals stattgefunden hat.[9] Die „Rezeption des Marxismus“ in dieser neuen geschichtlichen Phase der modernen Arbeiterbewegung, die sich nach der Ideologie der orthodoxen Marxisten und der mit ihnen auf dem gleichen dogmatisch ideologischen Boden stehenden Gegner theoretisch und praktisch auf den ganzen Marxismus bezogen haben soll, bezog sich in Wirklichkeit auch theoretisch immer nur auf einzelne, aus dem Zusammenhang der revolutionären Marxschen Gesamtanschauung, herausgetrennte und schon dadurch in ihrer allgemeinen Bedeutung veränderte, obendrein aber meist auch noch in ihrem besonderen Inhalt gefälschte und verstümmelte ökonomische, politische und soziale „Theorien“. Und die Betonung und geflissentliche Hervorhebung des streng „marxistischen“ Charakters des Programms und der gesamten Theorie der Bewegung datiert auch noch gar nicht aus der Zeit, wo diese neue sozialdemokratische Arbeiterbewegung dem revolutionären Klassenkampfcharakter der Marxschen Theorie in ihrer Praxis noch am nächsten gekommen ist und „die beiden Alten in London“ bzw. nach dem Tode von Marx, 1883, Friedrich Engels allein noch unmittelbar an der Bewegung mitarbeiteten. Sie datiert vielmehr paradoxerweise erst aus jener späteren Periode, wo sich in der gewerkschaftlichen und politischen Praxis bereits jene neuen Tendenzen durchsetzten, die in der Folge ihren ideologischen Ausdruck im sogenannten „Revisionismus“ gefunden haben. Gerade in der Zeit, wo unter den Nachwirkungen der Krisen- und Depressionsperiode der siebziger Jahre, unter dem Druck der auf die Niederlage der Pariser Kommune 1871 folgenden politischen und sozialen Reaktion, des Sozialistengesetzes in Deutschland, der Niederwerfung der aufstrebenden sozialistischen Bewegung in Österreich 1884, der gewaltsamen Unterdrückung der Achtstundentagsbewegung in Amerika 1886 die praktische Tendenz der Bewegung am revolutionärsten war, war ihre Theorie im wesentlichen „volksparteilich“ demokratisch, Lassalleanisch, Dühringianisch, aber nur ganz sporadisch „marxistisch“.[10] Und erst in jener späteren Periode, wo seit den neunziger Jahren in Europa und besonders in Deutschland, der neue große Aufschwung der Geschäfte einsetzte und mit der Amnestierung der Kommune-Kämpfer in Frankreich 1880, der Nichterneuerung des Sozialistengesetztes in Deutschland 1890 die ersten Vorzeichen einer „demokratischeren“ Handhabung der Staatsgewalt auf dem europäischen Festlande sichtbar wurden, entstand aus diesen veränderten praktischen Bedingungen heraus als eine Art theoretische Abwehr und metaphysische Tröstung das formelle Bekenntnis zum ganzen Marxismus. Man kann in diesem Sinne das gewöhnlich angenommene Verhältnis zwischen dem Kautskyanischen „Marxismus“ und dem Bernsteinschen „Revisionismus“ förmlich umkehren und vielmehr die Kautskysche Marx-Orthodoxie als die andere Seite, das theoretische Widerspiel und die polare Ergänzung des Bernsteinschen Revisionismus bezeichnen.[11]

Gegenüber dieser wirklichen geschichtlichen Sachlage erscheinen alle Beschwerden der Marx-orthodoxen Kritiker über meine angebliche Bevorzugung der „primitiven“ Form der ersten historischen Gestalt der Marx-Engelsschen Theorie und meine angebliche Vernachlässigung der positiven Fortbildung dieser ursprünglichen Form des Marxismus, sowohl durch Marx und Engels selbst als durch die späteren Marxisten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nicht nur unbegründet, sondern auch gegenstandslos. Der angeblich als eine positive Weiterentwicklung der ursprünglichen Marx-Engelsschen Theorie anzusehende „Marxismus der Zweiten Internationale“ ist in Wirklichkeit eine aus den veränderten praktischen Bedingungen des Klassenkampfes in einer neuen geschichtlichen Epoche hervorgegangene neue geschichtliche Gestalt der proletarischen Klassentheorie, die zu der Marx-Engelsschen Theorie sowohl in ihrer ursprünglichen als auch in ihrer später weiter entwickelten Gestalt in einer ganz anderen und wesentlich komplizierteren Beziehung steht, als es sich diejenigen vor stellen, die von einer positiven Fortbildung oder auch umgekehrt von einem förmlichen Stillstand, einer Rückbildung und Verkümmerung der Marxschen Theorie in dem „Marxismus der Zweiten Internationale“ sprechen. Der Marxismus von Marx und Engels ist also nicht, wie dies Kautsky (formell nur für ihre ursprüngliche Gestalt, den „primitiven Marxismus des Kommunistischen Manifestes“, der Sache nach aber auch für alle revolutionären Bestandteile der späteren Marx-Engelsschen Theorie) behauptet, eine von dem heute erreichten Standpunkt der Arbeiterbewegung aus „überholte“ sozialistische Theorie. Der Marxismus von Marx und Engels ist ebensowenig, wie dies bei dem Anbruch der dritten Entwicklungsperiode um die Jahrhundertwende von den Vertretern der revolutionären Tendenzen innerhalb der sozialdemokratischen Marx-Orthodoxie bisweilen behauptet worden ist und von manchen Marxisten noch heute behauptet wird, eine Theorie, die auf irgendeine wunderbare Weise die künftige Entwicklung der Arbeiterklassenbewegung für eine noch unübersehbare Zeit theoretisch vorausgenommen hat, so dass also die spätere praktische Bewegung der Arbeiterklasse hinter dieser ihrer Theorie sozusagen zurück geblieben ist und den von ihr vorgezeichneten Rahmen erst in ihrer zukünftigen Entwicklung nach und nach ausfüllen wird.[12] Vielmehr erklärt sich das in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands seit ihrer (etwa mit dem Erfurter Programm Kautsky-Bernsteins im Jahre 1891 vollendeten) Entwicklung zu einer „marxistischen“ Partei tatsächlich vorhandene und in der nun folgenden Periode für alle (rechten und linken!) lebenden Kräfte in der Partei immer peinlicher fühlbare und nur von der zentristischen Marx-Orthodoxie geleugnete Missverhältnis zwischen der hochentwickelten revolutionären „marxistischen“ Theorie und einer hinter dieser revolutionären Theorie weit zurückbleibenden und ihr teilweise direkt widersprechenden Praxis ganz einfach daraus, dass der „Marxismus“ in dieser geschichtlichen Phase für die ihm formell verschriebene Arbeiterbewegung von Anfang an keine wirkliche Theorie, das heißt „bloßer allgemeiner Ausdruck für die tatsächlich vor sich gehende geschichtliche Bewegung“ (Marx) gewesen ist, sondern immer nur eine „von außen“ fix und fertig angenommene „Ideologie“.

Es hieß nur aus der Not der Zeit eine Tugend der Ewigkeit machen, wenn in dieser Situation solche „orthodoxen Marxisten“ wie Kautsky und Lenin mit großer Energie die Meinung verfechten, dass der Sozialismus in die Arbeiterklassenbewegung überhaupt nur „von außen“, von den sich mit der Arbeiterbewegung verbindenden bürgerlichen Intellektuellen hineingebracht werden könnte,[13] und wenn sogar solche Linksradikale wie Rosa Luxemburg den von ihnen konstatierten „Stillstand im Marxismus“ einerseits auf die geistige Schöpferkraft des seinerzeit mit allen Hilfsmitteln bürgerlicher Klassenbildung ausgerüstet gewesenen Marx, andererseits auf die für die ganze Dauer der kapitalistischen Epoche unverändert fortbestehenden „sozialen Daseinsbedingungen des Proletariats in der heutigen Gesellschaft“ zurückführten)[14] Die materialistische Erklärung dieses ganzen scheinbaren Widerspruches zwischen Theorie und Praxis in der „marxistischen“ Zweiten Internationale und zugleich die rationelle Auflösung aller zur Erklärung dieses Widerspruches von der damaligen Marx-Orthodoxie ersonnenen Mysterien liegt in der geschichtlichen Tatsache, dass die damalige Arbeiterbewegung, die den „Marxismus“ formell als Ideologie rezipiert hatte, in ihrer wirklichen Praxis auf der jetzigen verbreiterten Basis noch längst nicht wieder jene Höhe ihrer allgemeinen und also auch theoretischen Entwicklung erreicht hatte, die die gesamte revolutionäre Bewegung, und damit auch der Klassenkampf des Proletariats, in der letzten Phase des um die Mitte des Jahrhunderts zum Abschluss gelangten ersten Zyklus der geschichtlichen Entwicklung des Kapitalismus auf der damaligen engeren Basis schon einmal erreicht gehabt hatte. Als in der Mitte des Jahrhunderts die in der vorhergehenden geschichtlichen Epoche bereits zu einer hohen Entwicklungsstufe gelangte Arbeiterbewegung vorläufig völlig aufhörte und auch in der Folge unter den veränderten objektiven Bedingungen erst ganz allmählich wieder auflebte, da konnten auch Karl Marx und Friedrich Engels ihre ursprünglich im unmittelbaren Zusammenhang mit der praktischen Revolutionären Bewegung konzipierte revolutionäre Theorie nur noch als Theorie fortbilden. Und so gewiss auch diese spätere Fortbildung der Marx-Engelsschen Theorie niemals ein bloßes Produkt von „rein theoretischen“ Studien gewesen ist, sondern immer zugleich ein theoretischer Niederschlag der neuen praktischen Erfahrungen des in verschiedenen Formen neu erwachenden Klassenkampfes bleibt, so gewiss ist es doch andererseits, dass diese so zu immer höherer theoretischer Vollendung fortgebildete Marx-Engelssche Theorie jetzt mit der Praxis der gleichzeitigen Arbeiterbewegung nicht mehr unmittelbar verbunden ist, sondern beide Prozesse, die Fortbildung der in einer vergangenen geschichtlichen Epoche entstandenen alten Theorie unter den neuen geschichtlichen Bedingungen, und die neue Praxis der Arbeiterbewegung, relativ selbständig neben einander hergehen. Gerade hieraus erklärt sich jenes im vollen Sinne des Wortes „unzeitgemäß“ hohe Niveau, das nun die marxistische Theorie auch in dieser Periode sowohl im ganzen als auch besonders in ihrem philosophischen Aspekt bei Marx und Engels und bei einigen wenigen unter ihren Schülern gehalten und noch gesteigert hat. Hieraus erklärt sich aber auf der anderen Seite auch die vollständige Unmöglichkeit einer wirklichen und nicht nur formellen Rezeption dieser hochentwickelten marxistischen Theorie durch die seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von neuem einsetzende praktische Bewegung der Arbeiterklasse.[15]

 

III.

Der zweite Hauptangriffspunkt der Marx-orthodoxen Kritiker sozialdemokratischer und kommunistischer Observanz betrifft die in der Schrift „Marxismus und Philosophie“ vertretene Anschauung über die Aufgabe, die nun in der dritten Entwicklungsperiode des Marxismus, die seit der Jahrhundertwende begonnen hat und gegenwärtig noch fortdauert, durch eine erneute Aufrollung des Problems Marxismus und Philosophie zu erfüllen ist. Indem die Schrift „Marxismus und Philosophie“ diese Aufgabe darin erblickte, gegenüber der Vernachlässigung und Geringschätzung des revolutionären philosophischen Gehalts der Marx-Engelsschen Lehre, die in der vorhergehenden Periode bei den verschiedenen Richtungen des Marxismus in verschiedener Form, aber mit dem gleichen Ergebnis eingetreten war, auch diese philosophische Seite des Marxismus wieder zur Geltung zu bringen, trat sie in Widerspruch zu all den Richtungen des deutschen und internationalen Marxismus, die in der vorhergehenden Periode als bewusste Kantianische, Machistische oder sonstige philosophische „Revisionisten“ des Marxismus aufgetreten waren, und zu jener Hauptentwicklungslinie, die in der herrschenden zentristischen Richtung der sozialdemokratischen Marx-Orthodoxie mehr und mehr zu einer philosophiefremden, positivistisch wissenschaftlichen Auffassung des Marxismus geführt hatte und der damals auch solche revolutionäre Orthodoxe wie Franz Mehring durch die von ihnen zur Schau getragene Verachtung aller philosophischen „Hirnwebereien“ ihren Tribut entrichtet hatten. Diese Formulierung der auf dem Gebiet der Philosophie in der gegenwärtigen Periode zu erfüllenden revolutionären Aufgabe stand aber, wie sich alsbald herausstellen sollte, in einem womöglich noch schärferen Gegensatz zu einer dritten Tendenz, die sich in der letztvergangenen Periode hauptsächlich in den beiden damaligen Fraktionen des russischen Marxismus herausgebildet hatte und in der gegenwärtigen Entwicklungsphase besonders von den Theoretikern des neuen bolschewistischen „Marxismus-Leninismus“ vertreten wird.

Der außerordentlich kriegerische Empfang, der den im Jahre 1923 erschienenen marxistisch-dialektischen Studien von Georg Lukács und ebenso auch der damals erscheinenden 1. Auflage meiner Schrift alsbald nach ihrem Bekanntwerden in der russischen und in der gesamten kommunistischen Parteipresse aller Länder bereitet wurde erklärt sich zum größten Teil aus der Tatsache, dass gerade damals, in der Periode, wo nach Lenins Tode der schon zu seinen Lebzeiten begonnene Kampf der Diadochen um das Leninsche Erbe mit vermehrter Heftigkeit fortgesetzt wurde und zugleich durch die Ereignisse des deutschen Oktober und November 1923 der internationale Kommunismus des Westens in der politischen Praxis eine schwere Niederlage erlitten hatte, von der damaligen Führung der russischen Kommunistischen Partei unter der Losung der „Propaganda des Leninismus“ der Kampf um die auch ideologische „Bolschewisierung“ aller der Kommunistischen Internationale angeschlossenen außerrussischen Parteien begonnen wurde.[16] Zu dieser „bolschewistischen“ Ideologie gehörte als ein Haupt- und Kernstück auch eine strikt philosophische Ideologie, die sich selbst für die Wiederherstellung der wahren und unverfälschten marxistischen Philosophie ausgab und auf dieser Grundlage den Kampf gegen alle anderen innerhalb der modernen Arbeiterbewegung auftretenden philosophischen Tendenzen aufzunehmen versuchte.

Indem nun diese gerade nach Westen vorstoßende leninistisch-marxistische Philosophie in den Schriften von Lukács, mir und anderen „westeuropäischen“ Kommunisten auf eine gegensätzliche philosophische Tendenz innerhalb der Kommunistischen Internationale selbst traf, stießen hier in der Tat gerade damals die beiden im Schoße der sozialdemokratischen Internationale in der Vorkriegszeit herausgebildeten und in der Kommunistischen Internationale von Anfang an nur äußerlich vereinigten revolutionären Tendenzen, die sich bis da hin nur über politische und taktische Fragen auseinandergesetzt hatten,[17] zum ersten Male auch in einer direkten philosophischen Diskussion aufeinander. Und wenn diese philosophische Diskussion aus bestimmten, gleich zu erörternden geschichtliche Ursachen nur noch ein schwacher Nachklang der einige Jahre zuvor von beiden Seiten mit ungleich stärkerer Kraft geführten politischen und taktischen Auseinandersetzungen geworden ist und schon nach kurzer Zeit von den seit dem Jahre 1925 innerhalb der russischen Partei von neuem ausbrechenden und seitdem mit immer zunehmender Heftigkeit in allen kommunistischen Parteien ausgefochtenen politischen Fraktionskämpfen wieder in den Hintergrund gedrängt wurde, so hatte sie doch im Rahmen der Gesamtentwicklung eine nicht geringe transitorische Bedeutung als ein erster Versuch, jene „gegenseitige Undurchdringlichkeit“ zu durchbrechen, die nach den Worten eines über die theoretische Situation in bei den Lagern ungewöhnlich gut unterrichteten russischen Kritikers bis dahin zwischen der gesamten Ideologie des russischen und westlichen Kommunismus bestanden hatte.[18]

Will man diesen philosophischen Streit des Jahres 1924 auf eine kurze Formel bringen, ohne zunächst die ideologische Form zu durchbrechen, die dieser Streit damals im Bewusstsein der Beteiligten angenommen hat, so kann man sagen, es handelte sich um die Auseinandersetzung zwischen der in Russland damals formell kanonisierten Leninschen Interpretation des Marx-Engelsschen Materialismus[19] und den von diesem Kanon angeblich in der Richtung zum Idealismus, zu der philosophischen Erkenntniskritik Kants und zur idealistischen Dialektik Hegels „abweichenden“ Anschauungen von Georg Lukács und einer Anzahl anderer, mit mehr oder weniger Recht als seine „Anhänger“ betrachteter Theoretiker aus der ungarischen und der deutschen Kommunistischen Partei.[20] Mit Bezug auf die Schrift „Marxismus und Philosophie“ wurde dieser Vorwurf der „idealistischen Abweichung“ einesteils dadurch begründet, dass man dem Autor Ansichten unterstellte, die in seiner Schrift überhaupt nicht geäußert und zum Teil ausdrücklich zurückgewiesen sind, insbesondere die angebliche Leugnung der „Dialektik in der Natur“.[21] Zu einem anderen Teil aber richteten sich die Angriffe auch gegen die in „Marxismus und Philosophie“ wirklich vertretenen Anschauungen, und besonders gegen die darin mehrfach zum Ausdruck gebrachte dialektische Absage an jenen „naiven Realismus“, mit dem „der sogenannte gesunde Menschenverstand, dieser ärgste Metaphysiker“ und mit ihm auch die gewöhnliche „positive Wissenschaft“ der bürgerlichen Gesellschaft und in ihrer Nachfolge leider auch der heutige, von allem philosophischen Denken verlassene Vulgärmarxismus „zwischen dem Bewusstsein und seinem Gegenstand eine scharfe Trennungslinie zieht“ und das Bewusstsein (wie Engels noch im Jahre 1878 bei Dühring kritisch angekreidet hat) „als etwas Gegebenes, von vornherein dem Sein, der Natur Entgegengesetztes, so hinnimmt“.

Mit dieser, wie es mir damals schien, für jeden materialistischen Dialektiker und revolutionären Marxisten selbstverständlichen, und darum von mir vielmehr vorausgesetzten als ausführlich begründeten Kritik der primitiven, vordialektischen und sogar vortranszendentalen Auffassung des Verhältnisses von Bewusstsein und Sein hatte ich, ohne mir dessen bewusst zu sein, gerade den Hauptpunkt jener eigentümlichen „philosophischen“ Weltanschauung angegriffen, die damals als das eigentliche Fundament der neuen orthodoxen Lehre des sogenannten „Marxismus-Leninismus“ von Moskau aus über die ganze kommunistische Welt des Westens propagiert und ausgebreitet werden sollte. Und mit einer Naivität, die vom verderbten „westlichen“ Standpunkt aus nur als ein philosophischer „Stand der Unschuld“ charakterisiert werden kann, antworteten nun auf diesen angeblichen „idealistischen“ Angriff die berufenen Exponenten des neuen russischen „Marxismus-Leninismus“ mit den eingelernten Anfangsbuchstaben ihres „materialistischen“ Alphabets.[22]

Die eigentliche theoretische Auseinandersetzung mit dieser von den Leninschen Epigonen in Sowjetrussland trotz mancher grotesker Inkonsequenzen und schreiender Widersprüche im ganzen bis zum heutigen Tage formell festgehaltenen materialistischen Philosophie Lenins erscheint an dieser Stelle schon aus dem Grunde als eine sekundäre Aufgabe, weil auch Lenin selbst diese seine Philosophie zeit seines Lebens nicht in erster Linie theoretisch begründet, sondern sie vielmehr mit praktisch politischen Gründen als die einzige für das revolutionäre Proletariat „nützliche“ Philosophie gegenüber den für das Proletariat „schädlichen“ Kantischen, Machistischen und sonstigen idealistischen Philosophien verteidigt hat. Ganz klar und unzweideutig kommt dies zum Ausdruck in dem von Lenin über diese „philosophischen“ Fragen in der Periode nach der ersten russischen Revolution von 1905 mit Maxim Gorki geführten intimen Briefwechsel. Immer und immer wieder versucht hier Lenin seinem persönlichen Freund, aber philosophiepolitischen Widersacher Gorki klar zumachen, dass „ein Parteimensch, wenn er sich von der vollkommenen Irrigkeit und Schädlichkeit einer bestimmten Lehre überzeugt hat, auch die Pflicht hat, gegen sie vorzugehen“, und dass das äußerste, was er im Fall eines solchen absolut unvermeidlichen Kampfes noch tun kann, darin besteht, bei der Durchführung dieses Kampfes „darauf zu achten, dass die praktisch notwendige Parteiarbeit nicht darunter leidet“.[23] Und ganz ebenso besteht auch die wirkliche Bedeutung des philosophischen Hauptwerkes Lenins keineswegs in den philosophischen Argumenten, mit denen Lenin dort die verschiedenen idealistischen Tendenzen der modernen bürgerlichen Philosophie, die als Kantianismus auf die revisionistische, als machistischer „Empiriokritizismus“ auf die zentristische Richtung der damaligen sozialistischen Bewegung Einfluss gewonnen hatten, theoretisch bekämpft und „widerlegt“ hat, sondern vielmehr in der äußersten Konsequenz, mit der er diese zeitgenössischen philosophischen Tendenzen als parteimäßig falsche Ideologien praktisch bekämpft und zu zerstören versucht hat.

So ist sich der Urheber dieser angeblichen Wiederherstellung der wahren Marxschen und Engelsschen materialistischen Philosophie, um nur einen wichtigsten Punkt herauszugreifen,[24] vollkommen darüber klar, dass Marx und Engels, nachdem sie in den vierziger Jahren mit dem Idealismus Hegels und der Hegelianer ein für allemal fertig geworden waren, sich in der ganzen folgenden Zeit ihrer theoretischen Arbeit[25] „auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie darauf beschränkten, die Irrtümer Feuerbachs zu korrigieren, die Trivialitäten des Materialisten Dühring zu verlachen, die Fehler Büchners zu kritisieren und das zu unterstreichen, was diesen, in den Arbeiterkreisen am meisten verbreiteten und populären Schriftstellern besonders fehlte, nämlich die Dialektik“. „Um die ABC-Wahrheiten des Materialismus, die die Hausierer in Dutzenden von Auflagen in die Welt hinausschrien, machten sich Marx, Engels und J. Dietzgen keine Sorge; sie richteten ihre ganze Aufmerksamkeit darauf, dass diese ABC-Wahrheiten nicht vulgarisiert, nicht zu sehr vereinfacht werden, nicht zu einer Gedankenstagnation führen (»Materialismus unten, Idealismus oben«), nicht dazu, dass die wertvolle Frucht der idealistischen Systeme, die Hegelsche Dialektik, vergessen wird – diese echte Perle, die die Hähne Büchner, Dühring und Co. (samt Leclair, Mach, Avenarius usw.) aus dem Misthaufen des absoluten Idealismus nicht auszusondern versuchten.“ Kurzum, sie haben aus den für ihre philosophische Arbeit damals gegebenen geschichtlichen Bedingungen heraus sich „von der Vulgarisierung der ABC-Wahrheiten des Materialismus mehr abgegrenzt als diese Wahrheiten selbst verteidigt“, ganz ebenso, wie sie sich ja auch in ihrem politischen Kampf „von der Vulgarisierung der Grundforderungen der politischen Demokratie mehr abgegrenzt als diese Forderungen selbst verteidigt haben. Dagegen hält es nun Lenin, unter heute gegebenen, nach seiner Meinung in diesem Punkte völlig veränderten geschichtlichen Bedingungen, für die von ihm und allen anderen revolutionären Marxisten und Materialisten zuerst und vor allem zu erfüllende Aufgabe, zwar nicht auf dem Gebiet der Politik die Grundforderungen der politischen Demokratie (?), wohl aber auf dem Gebiet der Philosophie jene „ABC-Wahrheiten des philosophischen Materialismus“ gegen ihre modernen Angreifer aus dem bürgerlichen Lager und ihre Helfershelfer im eigenen Lager der Arbeiterklasse zu verteidigen, und sie zugleich in bewusster Anknüpfung an den revolutionären bürgerlichen Materialismus des 17. und 18. Jahrhunderts unter den Millionen und aber Millionen Bauern und sonstigen rückständigen Massen in Russland, Asien und der ganzen Welt zu verbreiten.[26]

Man sieht, es handelt sich für Lenin in dieser ganzen Frage im Grunde genommen garnicht um die theoretische Frage nach der Wahrheit oder Unwahrheit der von ihm vertretenen materialistischen Philosophie, sondern um die praktische Frage nach ihrer Nützlichkeit für den revolutionären Kampf der Arbeiterklasse bzw. – in den noch nicht zur vollen kapitalistischen Entwicklung gediehenen Ländern – der Arbeiter Klasse und aller andern unterdrückten Volksklassen. Und der „philosophische“ Standpunkt Lenins erscheint daher im Grunde nur noch als eine besondere, eigentümlich verkleidete Form jenes Standpunktes, der in einer anderen Erscheinungsform bereits in der ersten Auflage von „Marxismus und Philosophie“ behandelt worden ist, und dessen Grundmangel mit aller Schärfe gekennzeichnet ist durch den Ausspruch des jungen Marx gegen jene „praktische politische Partei, die sich einbildet, sie könne die Philosophie (praktisch) aufheben, ohne sie (theoretisch) zu verwirklichen“. Indem er zu den von der Philosophie behandelten Fragen nur nach ihren außerhalb der Philosophie gegebenen Motiven und Wirkungen und nicht zugleich auch nach ihrem theoretisch-philosophischen Inhalt Stellung nimmt, begeht er den gleichen Fehler, den damals nach den Marxschen Worten die ‚praktische politische Partei in Deutschland“ beging, indem sie glaubte, die von ihr mit Recht geforderte „Negation aller Philosophie“ (bei Lenin: aller idealistischen Philosophie!) dadurch zu vollbringen, dass sie „der Philosophie den Rücken kehrt und abgewandten Hauptes einige ärgerliche und banale Phrasen über sie hermurmelt“.[27]

Bei dieser von Lenin zur Philosophie, wie zu aller Ideologie überhaupt, eingenommenen Stellung erscheint als die erste Frage, von der die Beurteilung der besonderen, von Lenin vertretenen „materialistischen Philosophie“ zunächst abhängig gemacht werden muss, auch nach dem von Lenin selbst angenommenen Prinzip, die geschichtliche Frage, ob denn jene von Lenin behauptete Veränderung der gesamten geistesgeschichtlichen Lage, die es notwendig machen soll heute im dialektischen Materialismus nicht mehr die Dialektik gegenüber dem vulgären, vordialektischen und heute zum Teil auch schon bewusst undialektisch und antidialektisch eingestellten Materialismus der bürgerlichen Wissenschaft, sondern vielmehr den Materialismus gegenüber den vordringenden idealistischen Tendenzen der bürgerlichen Philosophie hervorzukehren, in der gegenwärtigen geschichtlichen Situation überhaupt besteht. Nach meiner an anderer Stelle dargelegten Auffassung ist dies in Wirklichkeit keineswegs der Fall. Vielmehr ist, trotz mancher widersprechender Erscheinungen an der Oberfläche des heutigen bürgerlichen Philosophie- und Wissenschaftsbetriebes und trotz gewisser zweifellos vorhandener realer Gegenströmungen, als die herrschende Grundrichtung in der bürgerlichen Philosophie, Natur- und Geisteswissenschaft auch heute noch, ganz ebenso wie vor 60 oder 70 Jahren, jene Richtung anzusprechen, die nicht von einer idealistischen, sondern vielmehr von einer naturwissenschaftlich gefärbten materialistischen Anschauung ausgeht.[28] Die gegenteilige Auffassung Lenins, die mit seiner politisch ökonomischen „Imperialismus“-Theorie in einem engen ideologischen Zusammenhang steht, hat, ebenso wie diese, ihre materiellen Wurzeln großenteils in der besonderen ökonomischen und gesellschaftlichen Lage Russlands und in den dadurch für die russische Revolution scheinbar, und für eine gewisse, eng begrenzte Zeitspanne auch tatsächlich gestellten besonderen praktisch-politischen und theoretisch-politischen Aufgaben. Diese gesamte „leninistische“ Theorie ist aber kein ausreichender theoretischer Ausdruck für die praktischen Bedürfnisse der gegenwärtigen Entwicklungsstufe des internationalen proletarischen Klassenkampfes, und die als das ideologische Fundament jener leninistischen Theorie dienende materialistische Philosophie Lenins ist aus diesem Grunde auch nicht die dieser heutigen Entwicklungsstufe entsprechende revolutionäre Philosophie des Proletariats.

Dieser geschichtlichen und praktischen Lage entspricht auch der theoretische Charakter der Leninschen materialistischen Philosophie. Im strikten Gegensatz zu jener zwar ihrem theoretischen Wesen nach unvermeidlich noch „philosophischen“ aber doch in ihrem Ziel und in ihrer gegenwärtigen Tendenz bereits auf die totale Aufhebung der Philosophie gerichteten materialistisch-dialektischen Anschauung, die Marx und Engels in ihrer ersten revolutionären Entwicklungsperiode begründet haben und in deren Erneuerung auf einer höheren Entwicklungsstufe auch gegenwärtig die einzige auf dem philosophischen Gebiet zu erfüllende revolutionäre Aufgabe besteht, will der Philosoph Lenin, ganz ebenso wie sein philosophischer Lehrer Plechanow und dessen andere philosophische Schülerin L. Axelrod-Orthodox, als Marxist allen Ernstes zugleich Hegelianer bleiben. Er stellt sich den Übergang von der Hegelschen idealistischen Dialektik zu dem dialektischen Materialismus von Marx und Engels tatsächlich als eine bloße Auswechselung der dieser dialektischen Methode bei Hegel zugrunde liegenden idealistischen Weltanschauung durch eine andere, nicht mehr „idealistische“, sondern „materialistische“ philosophische Weltanschauung vor, und er scheint nichts davon zu ahnen, dass durch eine solche „materialistische Umstülpung“ der Hegelschen idealistischen Philosophie im besten Falle nur eine terminologische Veränderung herbeigeführt werden könnte, die darin bestände, das Absolute nicht mehr „Geist“, sondern „Materie“ zu nennen. In Wirklichkeit aber handelt es sich bei diesem Leninschen Materialismus sogar um etwas noch weit Schlimmeres. Es wird dadurch nicht nur die letzte, durch Marx und Engels herbeigeführte materialistische Umstülpung der Hegelschen idealistischen Dialektik wieder rückgängig gemacht, sondern die gesamte Diskussion zwischen Materialismus und Idealismus auf eine schon durch die idealistische deutsche Philosophie von Kant bis Hegel überwunden gewesene frühere geschichtliche Entwicklungsstufe zurückgeworfen. Schon seit der Auflösung der Leibniz-Wolffschen Metaphysik, die mit der transzendentalen Philosophie Kants begonnen und mit der Hegelschen Dialektik vollendet wurde, war das „Absolute“ aus dem Sein sowohl des „Geistes“ als auch der „Materie“ endgültig verbannt und in die dialektische Bewegung der „Idee“ verlegt worden. Die Marx-Engelssche materialistische Umstülpung dieser idealistischen Dialektik Hegels bestand nur noch darin, diese Hegelsche Dialektik von ihrer letzten mystifizierenden Hülle zu befreien, in der dialektischen „Selbstbewegung der Idee“ die darunter verborgene wirkliche geschichtliche Bewegung zu entdecken und diese revolutionäre geschichtliche Bewegung als das einzige jetzt noch übrigbleibende „Absolute“ zu proklamieren.[29] Dagegen kehrt nun Lenin zu jenen schon durch Hegel dialektisch überwundenen absoluten Gegensätzen von „Denken“ und „Sein“, „Geist“ und „Materie“ zurück, über die einst im 17. und 18. Jahrhundert der philosophische und zum Teil noch religiöse Streit zwischen den beiden Richtungen der Aufklärung geführt wurde.[30]

Natürlich ist nun ein solcher Materialismus, der von der metaphysischen Vorstellung eines absolut gegebenen Seins ausgeht, trotz aller formellen Beteuerungen in Wirklichkeit auch nicht mehr eine allseitig dialektische oder gar materialistisch-dialektische Auffassung. Indem Lenin und die Seinen die Dialektik einseitig in das Objekt, die Natur und die Geschichte verlegen, und die Erkenntnis als eine bloße passive Widerspiegelung und Abbildung dieses objektiven Seins in dem subjektiven Bewusstsein bezeichnen, zerstören sie tatsächlich jedes dialektische Verhältnis zwischen dem Sein und dem Bewusstsein, und in einer notwendigen Konsequenz hiervon dann auch das dialektische Verhältnis zwischen der Theorie und der Praxis. Nicht genug, dass sie dem von ihnen so sehr bekämpften „Kantianismus“ einen unfreiwilligen Tribut damit entrichten, dass sie die schon durch die Hegelsche Dialektik und erst recht durch die materialistische Dialektik von Marx und Engels in einem viel umfassenderen Sinne gestellte Frage nach dem Verhältnis zwischen der gesamten geschichtlichen Sein und allen geschichtlich vorhandenen Formen des Bewusstseins nach rückwärts revidieren zu der sehr viel engeren, erkenntniskritischen oder „gnoseologischen“ Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Objekt und dem Subjekt der Erkenntnis, fassen sie zugleich diese Erkenntnis als einen grundsätzlich widerspruchslos fortschreitenden evolutionären Prozess und als einen unendlichen Progress der Annäherung an die absolute Wahrheit auf. Sie kehren ebenso auch in ihren Vorstellungen über das Verhältnis, welches zwischen der Theorie und Praxis sowohl im allgemeinen als auch besonders in der revolutionären Bewegung selbst besteht, von der Marxschen materialistisch-dialektischen Auffassung allenthalben zurück zu einer ganz und gar abstrakten Gegenüberstellung einer reinen Theorie, die die Wahrheiten entdeckt, und einer reinen Praxis, die diese endlich gefundenen Wahrheiten auf die Wirklichkeit anwendet. „Die wirkliche Einheit von Theorie und Praxis wird verwirklicht durch die praktische Veränderung der Wirklichkeit, durch die revolutionäre Bewegung, die sich auf die theoretisch entdeckten Entwicklungsgesetze der Wirklichkeit stützt“ – zu diesem den Vorstellungen des gewöhnlichsten bürgerlichen Idealismus genau entsprechenden Dualismus zerfällt bei einem von der Lehre des Meisters in keinem i-Punkte abweichenden philosophischen Interpreten Lenins die großartige dialektisch-materialistische Einheit der Marxschen „umwälzenden Praxis“.[31]

Eine weitere unvermeidliche Folge dieser Verlegung des Akzentes von der Dialektik auf den Materialismus besteht in der dadurch herbeigeführten Unfruchtbarkeit dieser materialistischen Philosophie für die tatsächliche Weiterentwicklung der empirischen Wissenschaften von Natur und Gesellschaft. So sehr die im westlichen Marxismus vielfach Mode gewordene Gegenüberstellung der materialistisch-dialektischen „Methode“ und der durch die Anwendung in Philosophie und Wissenschaften gewonnenen inhaltlichen Resultate dem Geiste der Dialektik und gar der materialistischen Dialektik zuwiderläuft, da ja für die dialektische Auffassung Methode und Inhalt untrennbar zusammengehören und nach einem bekannten Wort von Marx „die Form keinen Wert hat, wenn sie nicht die Form ihres Inhalts ist“,[32] so liegt doch dieser Übertreibung die ganz richtige Einsicht zugrunde, dass die Bedeutung. die der dialektische Materialismus seit der Mitte des 19. Jahrhunderts für die Weiterentwicklung der empirischen Wissenschaften von Natur und Gesellschaft gehabt hat, vor allem in seiner Methode bestanden hat.[33]

Nachdem einmal mit dem Stillstand der praktischen revolutionären Bewegung seit den fünfziger Jahren die in „Marxismus und Philosophie“ bereits dargestellte unvermeidliche Wiederauseinanderentwicklung von Philosophie und positiven Wissenschaften, Theorie und Praxis eingetreten war, bestand tatsächlich für eine lange Periode die wichtigste Form der Weiterexistenz und Fortbildung der neuen materialistisch-dialektischen und revolutionären Weltanschauung von Marx und Engels in ihrer Anwendung als materialistisch-dialektische Methode auf das gesamte Gebiet der empirischen Wissenschaften von Natur und Gesellschaft. Aus dieser Periode stammen dann auch all jene Aussprüche, in denen besonders der ältere Engels die Unabhängigkeit der einzelnen Wissenschaften von „jeder Philosophie“ förmlich proklamiert und der so „aus Natur und Geschichte vertriebenen“ Philosophie als einziges für sie etwa noch übrigbleibendes Tätigkeitsfeld „die Lehre vom Denken und seinen Gesetzen – die formelle Logik und Dialektik“ zugewiesen, d. h. in Wirklichkeit die sogenannte „Philosophie“ zu einer empirischen Einzelwissenschaft neben und nicht über den anderen Einzelwissenschaften herabgesetzt hat,[34] so sehr der später von Lenin eingenommene Standpunkt diesem Engelsschen Standpunkt äußerlich verwandt zu sein scheint, so unterscheidet er sich doch von ihm wie Nacht vom Tage durch den einen Umstand, dass Engels die wesentliche Aufgabe der materialistischen Dialektik darin erblickt, „aus der deutschen idealistischen Philosophie die bewusste Dialektik in die materialistische Auffassung der Natur und Geschichte hinüberzuretten“,[35] während Lenin die Hauptaufgabe umgekehrt in der Aufrechterhaltung und Verteidigung der im Grunde von niemand ernstlich angegriffenen materialistischen Position selber sieht. So gelangt Friedrich Engels zu seiner der fortschrittlichen Entwicklung der Wissenschaften entsprechenden Erklärung, dass der moderne, auf die Natur und die Geschichte angewandte Materialismus „in beiden Fällen wesentlich dialektisch ist und keine über den anderen Wissenschaften stehende Philosophie mehr braucht“, während Lenin fortwährend an den von ihm nicht nur bei seinen politischen Freunden und Gegnern und bei den philosophischen Ideologen, sondern ebenso auch bei den produktivsten naturwissenschaftlichen Forschern herausgefundenen „philosophischen Abweichungen“ herumnörgelt[36] und für seine „materialistische Philosophie“ eine Art oberstes Richteramt gegenüber allen früheren, gegenwärtigen und künftigen Ergebnissen der einzelwissenschaftlichen Forschung in Anspruch nimmt.[37] Die von den Leninschen Epigonen bis zu den absurdesten Konsequenzen fortgesetzte Weiterentwickelung dieser materialistisch „philosophischen“ Bevormundung aller Wissenschaften, der Naturwissenschaften ebenso wie der Gesellschaftswissenschaften, und ebenso der gesamten sonstigen kulturellen Bewusstseinsentwicklung in Literatur, Theater, bildender Kunst usw. führte dann in der Folge zur Ausbildung jener eigentümlich zwischen revolutionärem Fortschritt und finsterster Reaktion oszillierenden ideologischen Diktatur, die in dem heutigen Sowjetrussland im Namen des sogenannten „Marxismus-Leninismus“ über das gesamte geistige Leben nicht nur des herrschenden Parteiordens, sondern der gesamten Arbeiterklasse ausgeübt wird und in der jüngsten Zeit auch über die Grenzen Sowjetrusslands hinaus auf alle Kommunistischen Parteien des Westens und der ganzen Welt auszudehnen versucht worden ist. Gerade bei diesem Versuch aber zeigten sich auch schon die Grenzen, die der künstlichen Durchführung einer solchen ideologischen Diktatur in der internationalen Arena, wo sie durch keine staatlichen Zwangsmittel mehr direkt unterstützt werden kann, unvermeidlich gesetzt sind. Wenn noch der 5. Weltkongress der Kommunistischen Internationale im Jahre 1924 in den von ihm beschlossenen Entwurf des internationalen Kommunistischen Programms den „konsequenten Kampf gegen die idealistische und alle nicht materialistisch dialektische Philosophie“ aufgenommen hatte, so spricht die vier Jahre später von 6, Kongress endgültig angenommene Fassung des Programms schon sehr viel unbestimmter von einem Kampf gegen „alle Spielarten der bürgerlichen Weltanschauung“ und bezeichnet den „dialektischen Materialismus von Marx und Engels“ nicht mehr als eine materialistische Philosophie, sondern nur noch als „revolutionäre Methode (!) der Erkenntnis der Wirklichkeit zu ihrer revolutionären Umgestaltung“.[38]

 

IV.

Wenn in dieser zuletzt erwähnten Tatsache bereits ein beginnender Verzicht der neuen „marxistisch-leninistischen“ Ideologie auf die von ihr in der internationalen Arena noch kürzlich erhobenen. Ansprüche zu erblicken ist, so ist doch damit das tieferliegende Problem dieser „materialistischen Philosophie“ Lenins und des Marxismus-Leninismus in Wirklichkeit noch keineswegs erledigt. Die wirkliche Aufgabe, die durch die erneute Aufrollung des Problems Marxismus und Philosophie und der allgemeineren Frage nach dem Verhältnis zwischen der gesamten Ideologie und der Praxis der revolutionären Arbeiterbewegung mit Bezug auf den kommunistischen „Marxismus-Leninismus“” zu lösen ist, besteht in der rücksichtslosen Anwendung der gleichen materialistischen, d. h. geschichtlichen, kritischen und gänzlich undogmatischen Betrachtungsweise, mit der wir den historisch Charakter der „Kautskyanischen“ Marx-Orthodoxie der Zweiten Internationale bestimmt haben, auch auf die „Leninistische“ Marx-Orthodoxie der Dritten Internationale und, allgemeiner gesprochen, auf die gesamte geschichtliche Entwicklung des russischen Marxismus in seinem Verhältnis zum internationalen Marxismus, von der die Geschichte des heutigen „Marxismus-Leninismus“ nur den letzten historischen Ausläufer bildet. Eine solche materialistische Untersuchung der wirklichen geschichtlichen Entwicklung des russischen und internationalen Marxismus, die an dieser Stelle nicht mehr konkret durchgeführt, sondern nur noch in ihren allgemeinsten Umrissen angedeutet werden kann, führt zu dem nüchternen Resultat, dass dieser im Verhältnis zur deutschen Marx-Orthodoxie womöglich noch „orthodoxere“ russische Marxismus zugleich in allen seinen geschichtlichen Entwicklungsphasen einen womöglich noch ideologischeren Charakter gehabt zu der wirklichen geschichtlichen Bewegung, als deren Ideologie er auftrat, in einem womöglich noch schrofferen Widerspruch gestanden hat.

Das gilt schon für jene erste geschichtliche Phase, wo nach der treffenden kritischen Analyse Trotzkis vom Jahre 1908 gerade die marxistische Lehre als das ideologische Werkzeug dafür diente, die bis dahin im bakunistischen „Geist der nackten Verneinung der kapitalistischen Kultur“ erzogene russische Intelligenz mit der kapitalistischen Entwicklung auszusöhnen.[39] Es gilt aber ebenso auch für jene zweite Entwicklungsphase, die ihren geschichtlichen Höhepunkt in der ersten russischen Revolution von 1905 erreichte. Wenn damals alle revolutionären russischen Marxisten, nicht zuletzt Lenin und Trotzki, sich mit dem damaligen internationalen Sozialismus – und das hieß für sie mit dem orthodoxen Marxismus – für „Fleisch von einem Fleische und Blut von einem Blute“ erklärten, wenn umgekehrt Karl Kautsky und seine „Neue Zeit“ damals in allen theoretischen Fragen mit der russischen Marx-Orthodoxie zusammenging und wenn besonders mit Bezug auf die philosophischen Grundlagen des Marxismus die deutsche Marx-Orthodoxie im Verhältnis zur russischen unter dem überragenden Einfluss des russischen Theoretikers Plechanow sogar mehr der empfangende als der gebende Teil gewesen ist, so bestand doch ein Hauptgrund dafür, dass diese große internationale Einheitsfront der marxistischen Orthodoxie damals so ungestört aufrechterhalten werden konnte, gerade in der geschichtlichen Tatsache, dass sie in Wirklichkeit hüben wie drüben, und in Russland sogar noch in höherem Grade als in mittleren und westlichen Europa, nur in der Ideologie und nur als Ideologie zu bestehen brauchte. Der gleiche ideologische Charakter und der gleiche damit unvermeidlich verbundene Widerspruch zwischen der angenommenen „orthodoxen“ Theorie und dem wirklichen geschichtlichen Charakter der Bewegung haftet aber dem russischen Marxismus auch noch in seiner dritten Entwicklungsphase an, wo er seinen imposantesten Ausdruck in der orthodox-marxistischen Theorie und gänzlich unorthodoxen Praxis des Revolutionärs Lenin[40] und seine groteske Karikatur in den grellen Widersprüchen zwischen der Theorie und Praxis des heutigen „Sowjetmarxismus“ gefunden hat.

Eine unfreiwillige Bestätigung für diesen bis in den heutigen „Sowjetmarxismus“ grundsätzlich unverändert fortbestehenden Gesamtcharakter des russischen Marxismus bedeutet auch die Stellung, die zu den weltanschaulichen Grundlagen dieses „Sowjetmarxismus“ ein solcher politischer Gegner der heute in Sowjetrussland herrschenden bolschewistischen Partei, wie der bereits mehrfach erwähnte Schifrin, einnimmt. Hinter seinem scheinbar so scharfen Angriff auf den „Sowjetmarxismus“ in der „Gesellschaft“, IV, 7 verbirgt sich nämlich in weltanschaulicher Hinsicht vielmehr eine Verteidigung dieses „Sowjetmarxismus“, der „ganz aufrichtig den Marxismus in seiner konsequentesten und orthodoxesten Form aufbauen will’ (a. a. O. S. 43), gegen die ihm infolge der unüberwindlichen Schwierigkeiten seiner Lage entgegengetretenen „subjektivistischen“ und „revisionistischen“ Entartungstendenzen (z. B. gegen das „Übersehen auch der wichtigsten Äußerungen der Lehrer“, S. 53). Und noch stärker tritt der gleiche Zug hervor in einem weiteren Artikel, den derselbe Autor erst ganz neuerdings, im August 1929, in der „Gesellschaft“, VI, 8, veröffentlicht hat. Wenn Schifrin in diesem neuen Artikel das letzte Werk des führenden Vertreters der deutschen Marx-Orthodoxie, Karl Kautsky, trotz einer äußerst scharfen Kritik an den meisten einzelnen Positionen des Autors im ganzen doch emphatisch als den Beginn der „Wiederherstellung der Integrität des Marxismus“ begrüßt und ihm die „ideologische Mission“ zuweist, die in der neueren Zeit sowohl im Westen als auch im „sowjetisierten russischen Marxismus“ in verschiedenen Formen eingetretene „subjektivistische Zersetzung des Marxismus“ und die dadurch im gesamten Marxismus unserer Zeit hervorgerufene „ideologische Krise“ zu überwinden,[41] so tritt hier die bis zum heutigen Tage fortbestehende weltanschauliche Solidarität der gesamten internationalen Marx-Orthodoxie ganz außerordentlich scharf in die Erscheinung. Schifrin übersieht sowohl bei seiner Kritik des heutigen sowjetmarxistischen „Leninismus“ als auch bei seiner Stellungnahme zu dem heutigen „Kautskyanismus“ vollständig, dass diese beiden aus den Traditionen der alten russischen und internationalen Marx-Orthodoxie hervorgegangenen ideologischen Formen des orthodoxen Marxismus heute nur noch verschwindende geschichtliche Gestalten aus einer vergangenen Periode der modernen Arbeiterklassenbewegung darstellen. So bewährt sich auch an dieser Stelle, in der Beurteilung des geschichtlichen Charakters des sogenannten „Marxismus-Leninismus“ oder „Sowjetmarxismus“ die vollkommene grundsätzliche Übereinstimmung zwischen der alten und der neuen, der sozialdemokratischen und der kommunistischen Schule der heutigen Marx-Orthodoxie. Wie wir früher die kommunistischen Theoretiker gegenüber der in „Marxismus und Philosophie“ vertretenen Auffassung für den positiven und fortschrittlichen Charakter des Marxismus der Zweiten Internationale eintreten sahen, so sehen wir hier den menschewistischen Theoretiker in der Zeitschrift der deutschen Sozialdemokratie als Verteidiger der „allgemeingültigen“ und „verbindlichen“ Weltanschaulichen Züge des Marxismus der Dritten Internationale in die Schranken treten.

Mit dieser Bemerkung stehen wir am Ende unserer Darstellung des gegenwärtigen, seit 1923 durch neue theoretische und praktische Erfahrungen vielfach veränderten Standes des Problems Marxismus und Philosophie. Da hiermit zugleich auch die Weiterentwicklung, die die damaligen Anschauungen des Verfassers in der Zwischenzeit durchgemacht haben, in ihren allgemeinen Grundzügen zur Genüge Klargestellt ist, verzichten wir darauf, unsere damaligen Äußerungen auch noch in allen einzelnen Punkten entsprechend unserem heutigen Standpunkt zu berichtigen. Nur in einem Punkte scheint es uns nötig, eine Ausnahme zu machen. Die in „Marxismus und Philosophie“ (S. 70 der ersten Auflage) aufgestellte Forderung der im Prozess der sozialen Revolution auch auf dem Gebiet der Ideologie zu errichtenden „Diktatur“ ist vielfach missverstanden worden, am meisten von Kautsky, der in seiner Rezension meiner Schrift a. a. O. S. 312 ff. sein Missverständnis meiner Absichten und zugleich seine eigenen Illusionen über die in Russland wirklich herrschenden Verhältnisse dadurch dokumentiert hat, dass es noch im Jahre 1924 erklärte, dass so etwas wie „die Diktatur im Reich der Ideen“ bisher „noch niemand, nicht einmal Sinowjew und Dscherschinski eingefallen“ sei! Sie erscheint uns von unserem heutigen Standpunkt aus in dieser abstrakten Form auch tatsächlich missverständlich. Wir bemerken daher ausdrücklich, dass sich die in „Marxismus und Philosophie“ als ideologische Diktatur bezeichnete Fortsetzung des revolutionären proletarischen Klassenkampfes von dem geistigen Unterdrückungssystem, das heute in Russland im Namen einer angeblichen „proletarischen Diktatur“ aufrechterhalten wird, nach drei Richtungen hin unterscheidet. Sie ist erstens eine Diktatur des Proletariats und nicht über das Proletariat. Sie ist zweitens eine Diktatur der Klasse und nicht der Partei oder Parteispitze. Sie ist drittens und vor allem eine revolutionäre Diktatur, ein einfacher Bestandteil jenes radikalen gesellschaftlichen Umwälzungsprozesses, der mit der Beseitigung der Klassen und Klassengegensätze die Voraussetzungen für das „Absterben des Staates“ und zugleich für das Aufhören jedes ideologischen Zwanges schafft. Die wesentlichste Aufgabe für eine so verstandene „ideologische Diktatur“ besteht also darin, ihre eigenen materiellen und ideologischen Ursachen aufzuheben und damit sich selbst überflüssig und unmöglich zu machen. Und schon vom ersten Tage an wird diese echte proletarische Diktatur sich von allen unechten Nachahmungen dadurch unterscheiden, dass sie nicht nur für „alle“, sondern auch für „jeden einzelnen“ Arbeiter die Voraussetzungen für eine solche geistige Freiheit schafft, wie sie für die physisch und geistig unterdrückten Lohnsklaven in der bürgerlichen Klassengesellschaft trotz aller angeblichen „Demokratie“ und „Gedankenfreiheit“ in Wirklichkeit niemals und nirgends vorhanden gewesen ist. Mit dieser Konkretisierung des Marxschen Begriffes der revolutionären proletarischen Klassendiktatur verschwindet der Widerspruch, der ohne diese genauere Bestimmung zwischen der Forderung der „ideologischen Diktatur“ und dem seinem ganzen Wesen nach kritischen und revolutionären Prinzip der materialistisch-dialektischen Methode und kommunistischen Weltanschauung zu bestehen schien. Der Sozialismus ist in seinem Ziel und auf seinem ganzen Wege ein Kampf für die Verwirklichung der Freiheit.

 

[1] Erschienen als Vorwort zu der zweiten Ausgabe von Marxismus und Philosophie, Hirschfeld, Leipzig 1930; aus technischen Gründen aus der folgenden Ausgabe: Karl Korsch: Marxismus und Philosophie, EVA, Frankfurt am Main–Köln 1975 – der Hrsg.

[2] Vgl. z. B. „Politische Literaturberichte der Deutschen Hochschule für Politik” Band 1 Heft 2: „Besonders bemerkenswert erscheint die Opposition gegen die vulgärmarxistische Auffassung, dass die geistige (ideologische) Struktur der Gesellschaft eine Scheinwirklichkeit sei. Deren eminente Wirklichkeitsbedeutung wird gerade von den Grundlagen des marxistischen Denkens aus überzeugend klargestellt“. Oder den Ausklang der ausführlichen und tief eindringenden Rezension von László Radványi im „Archiv für Sozialwissenschaften” LIII 2 S. 527 ff; „Auch derjenige, der die Grundüberzeugung des Verfassers nicht teilt, muss ihr die Einsicht entnehmen, dass der originäre Marxismus kein Panökonomismus ist, die ökonomische Struktur nicht als das alleinige Bereich der Vollwirklichkeit betrachtet, sondern auch die geistigen Sphären als durchaus wirkliche und konstitutive Teile des Ganzen des gesellschaftlichen Lebens anerkennt“ (a .a. O. S. 535).

[3] Vgl. die im Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands („Vorwärts vom 12. 6. 1924) wiedergegebene Eröffnungsrede des Parteivorsitzenden Wels auf dem Sozialdemokratischen Parteitag 1924 und die in der kommunistischen „Internationalen Pressekorrespondenz“ (IV. Jahrgang Nr. 76 vom 28. 6. 1924, S. 931 ff. und Nr. 79 vom 2. 7. 1924 S. 965 ff.) wiedergegebene Eröffnungsrede des Vorsitzenden der Kommunistischen Internationale Sinowjew auf dem gleichzeitig tagenden 5. Weltkongress der Kommunistischen Internationale.

[4] Vgl. „Die Gesellschaft”. I 3 vom Juni 1924, s. 306 ff. – Die bei allen parteikommunistischen Kritikern stereotyp wiederkehrenden Argumente sind gesammelt in der kritischen Einleitung des Herausgebers Gr. Bammel zu einer 1924 im Verlag „Oktober des Geistes”, Moskau, erschienen russischen Übersetzung von „Marxismus und Philosophie“. (Eine andere, unkommentierte Übersetzung erschien kurz vorher im Verlag „Kniga“, Leningrad und Moskau 1924.)

[5] Wenn Kautsky a. a. O. S. 312 den von mir mit allen anderen kommunistischen Theoretikern angeblich allein anerkannten „primitiven Marxismus“ zeitlich bestimmt als die Theorie der von Marx und Engels „vor ihrem 30. Lebensjahr verfassten Erstlingswerken“, und wenn andererseits Bammel, der in allen übrigen Punkten seiner Kritik a. a. O., S. 13 ff. dem Kautskyschen Vorgang blindlings folgt, es mir S. 14 mit falsch angebrachter eigener Gelehrsamkeit als ein Zeichen von Unbildung ankreidet, dass ich „die geistige Biographie Marxens mit der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie vom Jahre 1843. angefangen hätte“, so genügt es hier beiden gegenüber darauf hinzuweisen, dass ich mit einer ausdrücklichen Betonung von den drei Perioden gesprochen habe, die die marxistische Theorie nach ihrer ursprünglichen Entstehung durchlaufen habe und als ideologischen Ausdruck der ersten dieser drei Perioden nicht die „Erstlingswerke“, sondern die seit der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie verfassten Schriften betrachte.

[6] Vgl. über diese von Marx und Engels seit dem Ende der fünfziger Jahre vollzogene zweite „Hinwendung“ zu Hegel einige interessante Notizen bei Rjasanow, „Marx–Engels Archiv“ II, S. 122 ff. Die weitere Fortsetzung dieser Hegelschen philosophischen Entwicklungslinie bei Labriola und Plechanow spricht aus jeder Zeile ihrer Schriften und setzt sich in einer später darzustellenden Form auch bei Plechanows philosophischen Schüler Lenin fort.

[7] Kautsky zitiert als Beleg für diese Behauptung ausführlich zwei von ihm aus ihrem konkreten Zusammenhang herausgerissene Wendungen aus den Flussnoten 30 und 68, unterschlägt aber den Satz, mit dem ich meine wirkliche Stellung zu dieser Frage an der Stelle, wo sie im Zusammenhang meiner Darlegungen hingehört (S. 73 ff. dieser Auflage), ganz unzweideutig ausgesprochen habe, indem ich diesen späteren „Wissenschaftlichen Sozialismus des »Kapitals« von 1867–94 und der übrigen späteren Schriften von Marx und Engels“ ausdrücklich als eine „weiterentwickelte Erscheinungsform der marxistischen Gesamttheorie“ gegenüber dem „unmittelbar revolutionären Kommunismus“ der vorhergehenden historischen Epoche charakterisiert habe. Weitere Belege für meine bis zum äußersten Grade positive Stellung zu der späteren, weiter entwickelten Gestalt der Marx-Engelsschen Theorie finden sich z. B. in meiner Einleitung zu den von mir 1922 herausgegebenen Marxschen „Randglossen zum Programm der Deutschen Arbeiterpartei“ aus dem Jahre 1875 und in meinem Artikel „Der Marxismus der Ersten Internationale“ in der Zeitschrift „Die Internationale“, Jahrgang 1924, S. 573. ff.

[8] Der Satz stammt aus einer von Lenin vor dem Luzerner Kongress der Berner Internationale im Juli 1919 geschriebenen Erwiderung auf einen Artikel des damals noch als linker Sozialist geltenden englischen Arbeiterführers Ramsay Macdonald über die eben mit ihrem Gründungsmanifest vor die Arbeiteröffentlichkeit getretene „Dritte Internationale“. Er ist deutsch veröffentlicht in der damals vom West-Europäischen Sekretariat der Kommunistischen Internationale herausgegebenen Zeitschrift „Die Kommunistische Internationale“, Nr. 4 und 5, s. 52 ff. Die von Bammel als „Autorität“ für die Begründung einer ganz anderen Behauptung herangezogene „Stelle“ hat in dem konkreten Zusammenhang, in dem sie bei Lenin steht, mit der marxistischen Theorie der Zweiten Internationale überhaupt nichts zu tun und nennt als das „historische Verdienst“ und die „bleibende Errungenschaft“ der Zweiten Internationale, die „ein klassenbewusster Arbeiter nie leugnen wird“, nur solche durchaus praktischen Dinge wie „Organisation der Arbeitermassen, Schaffung genossenschaftlicher, gewerkschaftlicher und politischer Massenorganisationen, Ausnutzung des bürgerlichen Parlamentarismus wie überhaupt aller Einrichtungen der bürgerlichen Demokratie und anderes mehr“ (a. a. O. S, 60).

[9] Vgl. hierzu meine soeben im gleichen Verlage erschienene Schrift „Die materialistische Geschichtsauffassung. Eine Auseinandersetzung mit Karl Kautsky“ (im folgenden zitiert als „Auseinandersetzung mit Kautsky“), besonders den letzten (in dem Teilabdruck in Grünbergs „Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung“, XIV, S. 179 ff. nicht mit enthaltenen) Abschnitt über „Die geschichtliche Bedeutung des Kautskyanismus“.

[10] Vgl. hierzu die in meiner Ausgabe der Marxschen „Randglossen zum Programm der Deutschen Arbeiterpartei“ abgedruckte damalige Korrespondenz von Marx und Engels und die daran geknüpften Bemerkungen in meiner Einleitung S. 6 ff. – Weitere wichtige Beiträge für die Klarstellung dieses Verhältnisses enthalten die inzwischen (Berlin 1925) veröffentlichten Briefe Friedrich Engels’ an Bernstein von 1881 bis 1895.

[11] Vgl. hierzu besonders den jetzt von Bernstein und Kautsky übereinstimmend gegebenen Bericht über die um diese Zeit in ihrem beiderseitigen Verhältnis zur marxistischen Theorie und zugleich in ihrer gegenseitigen theoretischen Beziehung eingetretene Veränderung, durch den die Legende von einem ausgesprochen und betont „marxistischen“ Charakter der sozialdemokratischen Theorie vor ihrer Bernsteinschen „Revision“, ziemlich gründlich berichtigt wird, in Meiners „Volkswirtschaftslehre in Selbstdarstellungen“, Leipzig 1924, s. 12 ff. (Bernstein) und S, 134 ff. (Kautsky).

[12] Trotz bekannten Ausspruches von Marx, dass er „kein Marxist“ sei, hat sich auch Marx gelegentlich von dieser einigermaßen dogmatischen und idealistischen Auffassung des Verhältnisses seiner marxistischen Theorie zu der späteren wirklichen Erscheinung der Arbeiterklassenbewegung nicht ganz freigehalten. Man vgl. z. B. die von ihm in seinen „Randglossen zum Programm der Deutschen Arbeiterpartei“ 1875 wiederholt ausgesprochenen Beschwerden über die „empörenden theoretischen Rückschritten“ dieses Programmentwurfes gegenüber der früher bereits erreichten besseren Erkenntnis und über die von den Verfassern des Entwurfs begangenen „ungeheuerlichen Attentate auf die in den Parteimassen verbreitete Einsicht“. Von den späteren linksradikalen Bekämpfern des Revisionismus und der zentristischen Marx-Orthodoxie aber ist aus dieser Auffassung förmlich ein System gemacht worden, mit dessen Hilfe sie den von ihnen konstatierten „Stillstand“ in der theoretischen Entwicklung des Marxismus zu erklären versuchten. So behauptet z. B. Rosa Luxemburg in ihrem im „Vorwärts“ vom 14. 3. 1903 erschienenen Artikel allen Ernstes, dass der in der Bewegung jetzt zu verspürende „theoretische Stillstand“ nicht darum eingetreten sei, „weil wir im praktischen Kampf Marx überholt haben, sondern umgekehrt, weil Marx in seiner wissenschaftlichen Schöpfung uns als praktische Kampfespartei im voraus überholt hat; nicht weil Marx für unsere Bedürfnisse nicht mehr ausreicht, sondern weil unsere Bedürfnisse noch nicht für die Verwertung der Marxschen Gedanken ausreichen“. Und der gelehrte Marxist Rjasanow, der diesen Artikel Rosa Luxemburgs im Jahre 1928 in seinem Sammelbuch „Karl Marx als Denker, Mensch und Revolutionär“ neu abgedruckt hat, fügt zu diesen von Rosa Luxemburg vor fast 30 Jahren geschriebenen Ausführungen von seinem heutigen Standpunkt nur die eine Bemerkung hinzu, dass „die Praxis der russischen Revolution bewiesen hat, dass jede neue und höhere Entwicklungsphase im proletarischen Klassenkampf der unerschöpflichen Rüstkammer der marxistischen Theorie (!) stets neue Waffen, deren das neue Stadium des Emanzipationskampfes der Arbeiterklasse jeweils bedarf, zu entnehmen vermag“ (a. a. O. S. 7). Man wird nicht behaupten können, dass hiermit das von Rosa Luxemburg auf den Kopf gestellte Verhältnis von Theorie und Praxis auf die Füße gestellt ist.

[13] Vgl. hierzu die Polemik Kautskys in der „Neuen Zeit“, XX. I, S. 68 ff. gegen den dem Wiener Parteitag 1901 vorgelegten Entwurf zu einer neuen Fassung des Hainfelder Programms, worin es an einer Stelle hieße, dass das Proletariat in den ihm von der kapitalistischen Entwicklung aufgezwungenen Kämpfen zum Bewusstsein von der Möglichkeit und Notwendigkeit des Sozialismus kommt. Kautsky umschreibt den Sinn dieses Satzes ganz zutreffend damit, dass „in diesem Zusammenbang das sozialistische Bewusstsein als das notwendige und direkte Ergebnis des proletarischen Klassenkampfes erscheint“ und fährt dann wörtlich fort: „Das ist aber falsch. Der Sozialismus als Lehre wurzelt allerdings ebenso in den heutigen ökonomischen Verhältnissen wie der Klassenkampf des Proletariats, entspringt ebenso wie dieser aus dem Kampfe gegen die Massenarmut und das Massenelend, das der Kapitalismus erzeugt; aber beide entstehen nebeneinander, nicht auseinander, und unter verschiedenen Voraussetzungen. Das moderne sozialistische Bewusstsein kann nur erstehen auf Grund tiefer wissenschaftlicher Einsicht. In der Tat bildet die heutige ökonomische Wissenschaft ebenso eine Vorbedingung sozialistischer Produktion, wie etwa die heutige Technik, nur kann das Proletariat beim besten Willen die eine ebenso wenig schaffen wie die andere; sie entstehen beide aus dem heutigen gesellschaftlichen Prozess. Der Träger der Wissenschaft ist aber nicht das Proletariat, sondern die bürgerliche Intelligenz; in einzelnen Mitgliedern dieser Schicht ist denn auch der moderne Sozialismus entstanden und durch sie erst geistig hervorragenden Proletariern mitgeteilt worden, die ihn dann in den Klassenkampf des Proletariats hineintragen, wo die Verhältnisse es gestatten. Das sozialistische Bewusstsein ist also etwas in den Klassenkampf des Proletariats von außen hineingetragenes, nicht etwas aus ihm urwüchsig Entstandenes. Dementsprechend sagt auch das alte Hainfelder Programm ganz richtig, dass es zu den Aufgaben der Sozialdemokratie gehöre, das Proletariat mit dem Bewusstsein seiner Lage und seiner Aufgabe zu erfüllen. Das wäre nicht notwendig, wenn dies Bewusstsein von selbst aus dem Klassenkampf entspränge“ (a. a. O. S. 79 ff.). – An diese Ausführungen Kautskys hat dann im nächsten Jahre (1902) Lenin in seiner berühmten politischen Programmschrift „Was tun?“ an entscheidender Stelle angeknüpft. Er gibt dort (S. 169 ff. der erst 1929 als Band IV Teil 2 der „Sämtlichen Werke“ erschienenen deutschen Ausgabe) diese „sehr treffenden und bedeutsamen Worte Kautskys“ in ihrem vollen Wortlaut wieder und zieht daraus die ausdrückliche Konsequenz, dass „Von einer selbstständigen, durch die Arbeitermassen im Verlauf ihrer Bewegung selbst ausgebildeten Ideologie keine Rede sein kann“ (S. 172). So auch noch an vielen anderen Stellen des Buches, z. B. S. 159/60 in folgenden völlig unmissverständlichen Sätzen: „Die Geschichte aller Länder legt Zeugnis dafür ab, dass die Arbeiterklasse aus eigenen Kräften nur imstande ist, ein trade-unionistisches Bewusstsein auszubilden, d. h. die Überzeugung von der Notwendigkeit, sich zu Verbänden zusammenzuschließen, den Kampf gegen die Arbeitgeber zu führen, von der Regierung diese oder jene gesetzgeberische Maßnahmen im Interesse der Arbeiter zu verlangen usw. Die sozialistische Lehre aber ist aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgegangen, die von gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, den Intellektuellen geschaffen worden sind.“

[14] A. a. O. S. 63 ff. – Eine eigentümliche Wiederholung und Fortbildung dieser Luxemburgischen These, dass die Arbeiterklasse „eine eigene Wissenschaft und Kunst erst nach der vollzogenen Emanzipation von ihrer gegenwärtigen Klassenlage zu schaffen imstande sein wird“ und dass insbesondere auch die Marxsche Forschungsmethode erst in der sozialistischen Gesellschaft volles Eigentum des – dann als solches überhaupt nicht mehr existierenden –  Proletariats werden wird, findet sich auch in Leo Trotzkis Ende 1923 russisch und im folgenden Jahre deutsch im Verlag für Literatur und Politik (Wien 1924) erschienenem Werk „Literatur und Revolution“, S. 80/81 und S. 113 ff., besonders 127 ff.

[15] Ausführlichere Angaben hierzu in meiner „Auseinandersetzung mit Kautsky“, a. a. O. S. 119.

[16] Vgl. hierzu meinen damals in der wissenschaftlichen Zeitschrift der deutschen Kommunistischen Partei „Die Internationale“ (Jahrg. 1924 S. 320 ff.) zu dem bevorstehenden 5. Weltkongress der Kommunistischen Internationale veröffentlichten programmatischen Artikel „Lenin und die Komintern”.

[17] Man denke hier an die scharfe Kritik, die an der Politik und Taktik der Bolschewiki schon in der ersten Periode der russischen Revolution, vor der formellen Gründung der Kommunistischen Internationale, von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht geübt worden ist, und an die in den Jahren 1920/21 ihren Höhepunkt erreichenden Auseinandersetzungen zwischen der von den holländischen Kommunisten Pannekoek und Gorter geführten linksradikalen Richtung und der von Lenin geführten russisch-bolschewistischen Richtung.

[18] Vgl. die ausführliche und besonders durch die ausgiebige Benutzung von nur in russischer Sprache zugänglichen Dokumenten für den außerrussischen Leser aufschlussreiche Studie von Max Weber (A. Schifrin) über den „Sowjet-Marxismus“ in der „Gesellschaft“ IV, 7; s. 42 ff., bes. S. 60 ff. Wenn bei dieser kritischen Gegenüberstellung des russischen und westlichen Kommunismus einerseits in Rücksicht gezogen werden muss, dass sie von einem politischen Gegner der heute in Sowjetrussland herrschenden Partei herstammt, so steht andererseits der Verfasser als orthodoxer Plechanowist in weltanschaulicher Hinsicht selbst auf der Seite des russischen Marxismus. Seine Kritik richtet sich daher auch gar nicht gegen die gesamte geschichtliche Gestalt des „Sowjet-Marxismus“, sondern nur gegen seine karikierten jüngsten Erscheinungsformen, durch die er nicht als „Fortführung und Weiterentwicklung, sondern als „Entstellung und Ausartung“ der theoretischen Traditionen des russischen Marxismus erscheint. („Plechanow trägt selbstverständlich keine Verantwortung für den Sowjet-Marxismus.“) Er begreift darum auch nur sehr ideologisch und oberflächlich die Ursachen dafür, dass es „für die westeuropäischen Kommunisten und auch – noch weiter gefasst – für alle europäischen Linksmarxisten, für alle diejenigen, die z. B. in den theoretischen Traditionen von R. Luxemburg und F. Mehring ideologisch erzogen worden sind, eine sehr komplizierte und fast unmögliche Sache ist, sich in den Sowjet-Marxismus geistig einzufügen“. Er erklärt diese Erscheinung einerseits rein ideologisch daraus, dass dieser linksradikale Marxismus des Westens nicht „die aufklärerischen Traditionen des russischen Marxismus hinter sich hat“. Er sieht andererseits ihre Ursache sehr oberflächlich in der „ganz besonderen, auf ganz spezifische Aufgaben des Sowjetstaates zugeschnittenen Formung“ des Sowjet-Marxismus als einer „verstaatlichten Ideologie“. Er begreift aber nicht, dass die gleichen historischen und klassenmäßigen Ursachen, die er S. 63 ff. zur Erklärung der Gegensätze zwischen der politischen Theorie des westeuropäischen Kommunismus und des ihm vorangehenden Linksradikalismus einerseits und des russischen Bolschewismus andrerseits heranzieht, ganz ebenso auch die wirklichen tiefer liegenden Ursachen für die theoretisch-ideologischen Gegensätze zwischen dem russischen und dem westeuropäischen revolutionären Marxismus sind.

[19] Vgl. über diesen die beiden kleinen, noch im Jahre 1924 erschienenen Schriften von A, Deborin: „Lenin, der kämpfende Materialist“ und „Lenins Briefe an Maxim Gorki 1908-1913“ und die erst mit einer dreijährigen Verspätung post festum gefolgte deutsche Übersetzung des Leninschen Programmwerks „Materialismus und Empiriokritizmus. Kritische Bemerkungen über eine reaktionäre Philosophie“ (W. I. Lenins „Sämtliche Werke“, vom Lenin-Institut in Moskau autorisierte Ausgabe, Band XIII, Wien und Berlin 1927). – Einen verspäteten Nachzügler zu dieser ganzen Literatur bildet das 1929 erschienene Buch von J. Luppol: „Lenin und die Philosophie. Zur Frage des Verständnisses der Philosophie zur Revolution“ – ein jämmerliches Machwerk.

[20] Vgl. z. B. die damals erschienene philosophische Antikritik von A. Deborin an den von Lukács in seinem Buch „Geschichte und Klassenbewusstsein“ vertretenen Anschauungen (Artikel „Lukács und seine Kritik des Marxismus“ in der vom Verlag für Literatur und Politik Wien 1924 herausgegebenen Zeitschrift „Arbeiterliteratur“, Nr. 10, S. 615 ff.) und die dort S. 618 gegebene Darstellung der Lage, wie sie sich damals in den Köpfen der führenden Vertreter des philosophischen „Leninismus“ widerspiegelte: „Lukács hat bereits seine Jünger und ist im gewissen Sinne der führende Kopf einer ganzen Richtung, der unter anderen angehören: die Genossen Korsch (siehe sein Buch „Philosophie und Marxismus“), Fogarasi, Révai und andere. Bei einer solchen Lage der Dinge ist es unmöglich, sie einfach zu ignorieren. Wir müssen zumindest die Grundprinzipien dieser neuen Strömung in Marxismus einer Kritik unter ziehen.“ Dazu auch die ähnlichen Ausführungen in der „Prawda“ vom 25. 7. 1924: „Das Lukácssche Buch muss die Aufmerksamkeit eines marxistischen Theoretikers auf sich ziehen, denn hinter Lukács steht eine ganze Reihe von Kommunisten: K. Korsch, Révai, Fogarasi und anderen – und weiterhin: „K, Korsch gehört zu der Gruppe deutscher kommunistischer Genossen, die auf dem 5. Weltkongress der Gen. Sinowjew beiläufig als Theoretiker erwähnt hat, die von der Linie des orthodoxen Marxismus in der Philosophie abweichen.“ Und ganz ähnlich auch bei den meisten anderen Theoretikern, die sich an der damals in der gesamten kommunistischen Zeitschriften- und Tagespresse geführten Kampagne gegen diese neue „Abweichung“ beteiligt haben.

[21] So wörtlich der bereits erwähnte Artikel in der „Prawda“ vom 25. 7. 1924 und die meisten anderen parteikommunistischen Kritiker. Vgl. dagegen die in „Marxismus und Philosophie“ (S. 73 ff, dieser Auflage) gegebene Darstellung, die das Gegenteil der mir hier unterstellten Meinung ausspricht. Und ganz ebenso steht es auch mit der in diesem Zusammenhang bei den parteikommunistischen Kritikern ebenso stereotyp wiederkehrenden Behauptung, dass ich in diesem Punkte einen wesentlichen Unterschied zwischen der Anschauung von Engels und der von Marx gemacht hätte. In Wirklichkeit hält sich die Schrift „Marxismus und Philosophie“ sowohl im allgemeinen als auch mit Bezug auf den jetzt in Frage stehenden Punkt (vgl. Fußnote 75) von der Einseitigkeit, mit der damals Lukács und Révai die Marxsche und die Engelssche Anschauung als zwei völlig auseinandergehende Anschauungen behandelt haben, ganz ebenso fern, wie von dem grundsätzlich dogmatischen und also unwissenschaftlichen Verfahren der „Orthodoxen“, für die die vollständige und absolute Übereinstimmung der von den beiden Kirchenvätern bezeugten „Lehre“ einen von vornherein feststehenden und unerschütterlichen Glaubenssatz bildet.

[22] „Das ABC der marxistischen Philosophie, die Bestimmung der Wahrheit als Übereinstimmung der Vorstellung mit den außerhalb ihrer befindlichen Gegenständen, nennt Korsch »den naiv metaphysischen Gesichtspunkt des bürgerlichen gesunden Menschenverstandes«, ohne zu verstehen oder verstehen zu wollen, dass gerade sein (Korschs) Standpunkt in dieser Frage bürgerlich ist – eine idealistische Mischung von Identitätsphilosophie und Machismus“ („Prawda“ vom 25. 7. 1924). – Ähnlich auch der Herausgeber und kritische Kommentator der russischen Übersetzung von „Marxismus und Philosophie“, Gr. Bammel, der in seiner Einleitung S. 19 meine Ausführungen über die Konsequenzen dieses „naiv metaphysischen Standpunkts des gesunden bürgerlichen Menschenverstandes“ für die theoretische und praktische Stellung zu den sogenannten „höheren Ideologien“ (S. 49/118 dieser Ausgabe) in Wortlaut zitiert, und dann diesen ganzen Satz und alle darauf folgenden Betrachtungen als „vollkommen unverständlich“ bezeichnet und die vorwurfsvolle Frage aufwirft: „Wenn für den Genossen Korsch der Standpunkt, der die Wahrheit als Übereinstimmung der Vorstellung mit dem außerhalb ihrer bestehenden und von ihr abgebildeten Gegenstand definiert, der »naiv metaphysische Standpunkt des bürgerlichen Verstandes« ist, rechnet er sich dann noch zu den materialistischen Marxisten? Muss man erst darauf hinweisen, dass sein Standpunkt in dieser Frage eine Kapitulation vor der idealistischen Erkenntnistheorie ist?“ Da aber dieser vernichtenden Frage gegenüber leicht die Gegenfrage gestellt werden könnte: „Warum denn ein solches idealistisches Machwerk überhaupt erst veröffentlichen?“, so besinnt sich der scharfe Kritiker gleich darauf auf seine Verantwortung als Herausgeber und plädiert mildernde Umstände: „Indessen liegt das Wesen der Frage darin, dass dem Genossen Korsch die Fragen der Gnoseologie in Bezug auf das ihn interessierende Problem unbekannt sind.“

[23] Die im Text zitierten Sätze sind entnommen aus dem Brief Lenins vom 24. März 1908, die von uns in kursiv gestellten Worte sind von Lenin unterstrichen. – Wenn man aus diesem und allen folgenden Briefen Lenins deutlich ersieht, wie der „Parteimensch“ Lenin alle theoretischen Fragen dem Parteiinteresse rücksichtslos unterordnet, so ist es doch auf der anderen Seite eine nachträgliche Legendenbildung, wenn jetzt der russische Herausgeber der deutschen Übersetzung von Lenins „Materialismus und Empiriokritizismus“, A. Deborin, die Sache so darstellt, als ob auch zwischen dem von Lenin zu diesen philosophischen Fragen nach außen hin vertretenen taktischen Standpunkt und dem von solchen anderen orthodoxen Marxisten und Materialisten wie dem damaligen Karl Kautsky vertretenen Standpunkt schon damals ein „grundsätzlicher Unterschied“ bestanden hätte. Schon der soeben zitierte Brief Lenins an Gorki, auf den Deborin a. a. O. S. XIX ff, seine diesbezügliche Behauptung stützt, endet praktisch keineswegs mit einer offenen Kriegserklärung, sondern mit dem diplomatischen Vorschlag einer „bedingten Neutralität“, bedingt in dem Sinn, dass man „diesen ganzen Zwist von der Fraktion trennen müsse“ (a. a. O. S. 29-31). Und wir haben schon in der ersten Auflage von „Marxismus und Philosophie“ in Anmerkung 7 jene eigentümliche Gegenerklärung angeführt, die um dieselbe Zeit die Redaktion des russischen „Proletarier“ (Lenin) in der von Kautsky redigierten „Neuen Zeit“ vom 10. März 1908 (XXVI I, S. 898) zu einer in einer vorhergehenden Nummer über diese philosophischen Differenzen innerhalb der russischen Sozialdemokratischen Partei geäußerten kritischen Bemerkung abgegeben hat. Wenn Lenin damals im Namen der Bolschewiki der russischen Sozialdemokratie ausdrücklich erklärt: „Dieser philosophische Streit (d. h. nach dem vorhergehenden: »die Frage, ob der Marxismus erkenntniskritisch mit Spinoza und Holbach, oder mit Mach und Avenarius in Ein klang steht«) bildet in Wirklichkeit keine Fraktionsfrage und darf es, nach der Meinung der Redaktion, auch nicht werden. Jeder Versuch, diese Meinungsverschiedenheiten als Merkmale der Fraktionen innerhalb der Partei hinzustellen, ist grundverkehrt. In den Reihen jeder der beiden Fraktionen gibt es Anhänger wie Gegner von Mach und Avenarius“ – so stellt er sich damit formell auf den gleichen Standpunkt, den auch die vorhergehende kritische Bemerkung in der „Neuen Zeit“ vom 14. Februar 1908 eingenommen hatte, als sie diesen philosophischen Zwist als eine unnötige Verschärfung der „sehr ernsten taktischen Differenzen der Bolschewiki und Menschewiki“ bezeichnete. Und wenn Deborin a. a. O. gegen die „für jeden Marxisten offen zu Tage liegende Ungereimtheit“ des von Kautsky ein Jahr später in einem Brief vom 26. 3. 1909 an den russischen Emigranten Bendianitse wiederholten Ratschlages, den Machismus in der Partei zur „Privatsache“ zu erklären, äußerst heftig polemisiert, so muss der unbefangene Historiker an demgegenüber feststellen, dass Lenin in den beiden bereits erwähnten Äußerungen vom Jahre vorher den Machismus nicht nur in der Partei, sondern sogar in der Fraktion „zur Privatsache erklärt hat“. Und noch ein Jahr später, als es auf der Pariser Konferenz der „Erweiterten Redaktion des Proletarier“ (d. h. tatsächlich des damaligen bolschewistischen Parteizentrums) nicht zuletzt wegen dieser philosophischen Fragen zu einer Spaltung zwar nicht zwischen der bolschewistischen und der menschewistischen Fraktion, wohl aber innerhalb der bolschewistischen Fraktion selbst gekommen war, erklärte Lenin in einer offiziellen Gegenerklärung zu der von Bogdanow damals abgegebenen Trennungserklärung, dass dieser Vorfall die Trennung Bogdanows von der bolschewistischen Fraktion, aber nicht von der Partei bedeutete, denn „die Fraktion ist keine Partei, eine Partei kann eine ganze Skala von Schattierungen in sich vereinigen, von denen die extremsten sogar absolute Gegensätze sein können“ (mitgeteilt in Band II S. 329 Fußnote 2 der von den Herausgeber P. Pascal sorgfältig kommentierten französischen Ausgabe von Lenins ausgewählten Werken [V. I. Lénine, „Pages Choisies“, Band I und II, Paris 1926 und 1927]). In Wirklichkeit haben also Lenin und Kautsky zu dieser Frage auch jetzt noch formell die gleiche Stellung eingenommen, und erst die spätere Entwicklung beider hat die gewaltige Verschiedenheit der bei dem einen und bei dem andern zugrunde liegenden Gesamtanschauung an den Tag gebracht.

[24] Vgl. zum folgenden den dieser Frage gewidmeten Abschnitt in „Materialismus und Empiriokritizismus“, S. 236 ff. unter dem Titel „Über zweierlei Kritik an Dühring“, aus dem auch sämtliche von uns im Wortlaut angeführten Sätze entnommen sind; das Kursive ist von Lenin.

[25] Lenin unterlässt an dieser Stelle die im Text vorgenommene Unterscheidung der verschiedenen Entwicklungsperioden von Marx und Engels und spricht ganz allgemein von der Zeit, wo „sowohl Marx und Engels als auch J. Dietzgen die philosophische Arena betraten.“ (a.2.0. S. 241). Er versteht aber darunter offenbar ihre spätere Stellung seit Ende der fünfziger Jahre. Noch wichtiger als diese zeitliche Unterscheidung ist für die Beurteilung der verschiedenen Marx-Engelsschen Äußerungen die in „Marxismus und Philosophie“ zur weiteren Konkretisierung herangezogene Unterscheidung ihrer jeweiligen Adressaten.

[26] Vgl. über diese positive Seite der Leninschen materialistischen Propaganda besonders den für die richtige Einschätzung der wirklichen geschichtlichen Bedeutung dieses Leninschen Materialismus besonders aufschlussreichen Artikel Lenins in dem im März 1922 erschienenen Heft 3 des I. Jahrganges der russischen Zeitschrift „Unter dem Banner des Marxismus“, deutsch erschienen in der Zeitschrift „Kommunistische Internationale“ Nr. 21 und später erneut abgedruckt in Jahrgang 1 Heft 1 der deutschen Ausgabe von „Unter dem Banner des Marxismus“ im März 1925.

[27] „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, Mehringsche Ausgabe des Literarischen Nachlasses von Marx und Engels 1841–1850 Band I S. 390. – Dass die von Lenin gegen die idealistische Philosophie vorgebrachten Argumente tatsächlich größtenteils in die von Marx hier charakterisierte Gattung fallen, soll an dieser Stelle nicht ausführlicher dargetan werden. Wir begnügen und damit, als Illustration jenes eine Argument anzuführen, durch das Lenin die transzendentalphilosophische Lehre über das Verhältnis von Subjekt und Objekt in der Erfahrung „widerlegt“, indem er auf den ehemals feurig flüssigen und in dieser Form noch keine subjektiven „Vorstellungen“ zulassenden Zustand der Erde verweist. Dieses einigermaßen eigentümliche philosophische Argument wird nicht nur von Lenin selbst in einem besonderen, mit dieser Frage befassten Abschnitt seines Werks (S. 59 ff. unter der Überschrift „Hat die Natur vor dem Menschen existiert?“) in vielfacher Variation immer wieder ins Feld geführt, sondern spielt auch schon bei seinem materialistisch-philosophischen Vorgänger Plechanow eine Rolle, bei dem an Stelle der „feurig flüssigen Erde“ die moderne „Sekundärzeit“ mit den „subjektiven Denkformen der Ichthyosaurier“ auftrat. Bei einer bestimmten einseitigen Auslegung kann in diese Reihe auch schon das bekannte „Alizarin-Argument“ von Friedrich Engels gegen die „Kantischen unfassbaren Dinge an sich“ aus dem zweiten Abschnitt des „Ludwig Feuerbach“ gerechnet werden; vgl. Lenin a. a. O. S. 66 und 86 und die dort von Lenin zitierten Ausführungen von Plechanow und Engels.

[28] Vgl. hierzu die näheren Darlegungen in meiner „Auseinandersetzung mit Kautsky“, S, 29 ff., und in „Grünbergs Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung“, Band XIV, S, 205 ff. Dazu ist hier noch nachzutragen, dass auch Friedrich Engels, auf dessen 1893 geschriebene Einleitung zu der englischen Übersetzung der Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft sich Lenin mit Bezug auf den von ihm behaupteten neuerlichen Umschwung des frühbürgerlichen Materialismus in Idealismus und Agnostizismus wiederholt beruft, in dieser ausgezeichneten Schrift (die deutsch in der „Neuen Zeit“ XI, 1. erschienen und jetzt in der neuen Ausgabe der Engelsschen Schrift über Ludwig Feuerbach, Berlin und Wien 1927 wieder abgedruckt ist) diesen neuen bürgerlichen Idealismus und Agnostizismus in Wahrheit so wenig als die theoretische Hauptgefahr für die revolutionäre Arbeiterbewegung betrachtet, dass er ihn vielmehr theoretisch direkt als einen „verschämten Materialismus“ charakterisiert und die von der Bourgeoisie an solche ideologischen Schutzwälle etwa geknüpften Hoffnungen mit souveräner Verachtung verlacht.

[29] Vgl. hierzu einerseits die bekannte Stelle aus dem Nachwort zur zweiten Auflage des Marxschen „Kapital“ von 1873, andererseits die Engelssche Würdigung der „wahren Bedeutung und des revolutionären Charakters“ der von ihm als „Abschluss der ganzen Bewegung seit Kant“ betrachteten Hegelschen Philosophie in den einleitenden Absätzen des Ludwig Feuerbach: „Der Konservatismus dieser Anschauungsweise ist relativ, ihr revolutionärer Charakter ist absolut –  das einzige Absolute, das sie gelten lässt“. – Dass das Wort „absolut“ hier, sowohl bei Engels als auch in unserem Text, nur noch eine bildliche Bedeutung hat, brauchte nicht erst besonders betont zu werden, wenn nicht gerade Lenin und die Seinen mit einem Mal wieder ganz munter in einem ganz und gar nicht bildlich zu verstehenden Sinne von einem absoluten Sein und einer absoluten Wahrheit zu sprechen angefangen hätten!

[30] Vgl. hierzu einerseits die Marxschen Thesen „Über Feuerbach“ von 1845, andererseits die von A. Deborin in seiner Antikritik gegen „Lukács und seine Kritik des Marxismus“ a. a. O. S. 640 gegebene Darstellung des „dialektischen“ Verhältnisses von revolutionärer Theorie und Praxis. – Alle im Text bezeichneten Rückbildungen der Marxschen Theorie zu einer undialektischen Auffassung treten infolge der nichts verschleiernden Entschiedenheit Lenins in seinem philosophischen Werk auf Schritt und Tritt so deutlich hervor, dass sich einzelne Belege dafür an dieser Stelle erübrigen. Es sei nur noch auf die Tatsache verwiesen, dass Lenin in diesem ganzen Werk, das sich auf 370 Seiten mit den Beziehungen von Sein und Bewusstsein beschäftigt, diese Beziehungen durchweg nur vom abstrakten erkenntniskritischen Standpunkt behandelt, ohne jemals die Erkenntnis in einer Reihe mit den sonstigen geschichtlich-gesellschaftlichen Bewusstseinsformen als eine geschichtliche Erscheinung, als ideologischen „Überbau“ der jeweiligen ökonomischen Struktur der Gesellschaft (vgl. das Marxsche Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie“) oder als bloßen „allgemeinen Ausdruck tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes“ (Kommunistisches Manifest) zu untersuchen.

[31] Vgl. hierzu einerseits die Marxschen Thesen „Über Feuerbach“ von 1845, andererseits die von A. Deborin in seiner Antikritik gegen „Lukács und seine Kritik des Marxismus“ a.a.O. S. 640 gegebene Darstellung des „dialektischen“ Verhältnisses von revolutionärer Theorie und Praxis. – Alle im Text bezeichneten Rückbildungen der Marxschen Theorie zu einer undialektischen Auffassung treten infolge der nichts verschleiernden Entschiedenheit Lenins in seinem philosophischen Werk auf Schritt und Tritt so deutlich hervor, dass sich einzelne Belege dafür an dieser Stelle erübrigen. Es sei nur noch auf die Tatsache verwiesen, dass Lenin in diesem ganzen Werk, das sich auf 370 Seiten mit den Beziehungen von Sein und Bewusstsein beschäftigt, diese Beziehungen durchweg nur vom abstrakten erkenntniskritischen Standpunkt behandelt, ohne jemals die Erkenntnis in einer Reihe mit den sonstigen geschichtlich-gesellschaftlichen Bewusstseinsformen als eine geschichtliche Erscheinung, als ideologischen „Überbau“ der jeweiligen ökonomischen Struktur der Gesellschaft (vgl. das Marxsche Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie“) oder als bloßen „allgemeinen Ausdruck tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes“ (Kommunistisches Manifest) zu untersuchen.

[32] Vgl. Mehringsche Nachlassausgabe I. 319.

[33] Diese Tatsache hat gelegentlich auch Lenins philosophischer Lehrer, der in der ganzen Marx-Orthodoxie des Westens und des Ostens für eine bestimmte geschichtliche Periode als die eigentliche Autorität für alle philosophischen Fragen des Marxismus anerkannte russische Theoretiker Plechanow, anerkannt; z. B. in der Erklärung, mit der er in seinen deutsch 1913 erschienenen „Grundproblem des Marxismus“ von der Darstellung der materialistischen Philosophie zur Erörterung der materialistisch-dialektischen Methode und ihrer Anwendung

in den Wissenschaften von Natur und Gesellschaft übergeht: „Die materialistische Geschichtsauffassung hat also vor allem (!) eine methodologische Bedeutung“. Überhaupt ist das Verhältnis zwischen Plechanow und Lenin auf diesem philosophischen Gebiet so, dass erst der Schüler die in allem Grundsätzlichen blindlings übernommenen Lehren des Meisters mit einer vor nichts zurückschreckenden Rücksichtslosigkeit durchgeführt hat. Es ist daher geschichtlich falsch, wenn nicht nur von bolschewistischer Seite, sondern z. B. auch von dem linksmenschewistischen Theoretiker Schifrin die von Plechanow in seiner späteren Periode gemeinschaftlich mit seiner Schülerin Axelrod-Orthodox vollzogene „Revision“ ihrer früheren philosophischen Anschauungen „gewissermaßen im Sinne einer Annäherung an die Kantische Philosophie“ als eine Folge der von beiden im Kriege vollzogenen politischen „Abweichung zum Sozialpatriotismus“ erklärt wird. (Vgl. seine oben bereits erwähnte kritische Studie über den „Sowjetmarxismus“ S. 46 und Fußnote 6.) Der wirkliche geschichtliche Sachverhalt ist der, dass Plechanow auch schon früher, insbesondere in der l. und 2. Auflage seiner Übersetzung des Engelsschen „Ludwig Feuerbach“ im Jahre 1902 und 1905, der Kantianisch gefärbten Erkenntnistheorie einiger moderner Naturwissenschaftler sehr viel weiter entgegengekommen ist, als dies bei Lenin jemals der Fall war. Vgl. hier zu die beiden in Anm. 7 der deutschen Ausgabe von Lenins „Materialismus und Empiriokritizismus“ angeführten Fassungen der Plechanowschen „Hieroglyphentheorie“. Wenn der Verfasser dieser Anmerkung, L. Rudas, in sklavischer Wiederholung der darüber von Lenin früher aus taktischen Gründen vertretenen Auffassung, die zweite dieser beiden Formulierungen auch heute noch als eine „Berichtigung“ der ersten „irreführenden“ Formulierung bezeichnet, so führt ein unbefangener wissenschaftlicher Vergleich dieser beiden Formulierungen zu dem Resultat, dass es im Leninschen Sinne mindestens so „agnostizistisch“ ist, wenn Plechanow im Jahre 1905 behauptet, dass die Dinge an sich außerhalb ihrer Einwirkung auf uns überhaupt „keine Gestalt“ besitzen, als wenn er im Jahre 1902 unsere Empfindungen als „eine Art Hieroglyphen“ bezeichnet hat, die den Ereignissen zwar nicht ähnlich sind, aber doch „sowohl die Ereignisse selbst wie auch – was das Wichtigste ist – die Relationen, die zwischen ihnen bestehen, vollkommen richtig wiedergeben“. Der einzige Vorzug jener späteren Formulierung vor der früheren besteht darin, dass sie „den philosophischen Gegnern keine terminologischen Zugeständnisse macht“ und infolgedessen das totale Missverständnis der erkenntnistheoretischen Fragestellung, das der ganzen Hieroglyphentheorie zugrunde liegt, bei dieser neuen Fassung nicht so grell hervortritt. Zu der ganzen Frage habe ich ausführlicher Stellung genommen in meiner Auseinandersetzung mit Kautsky, S. 111. ff.

[34] Vgl. hierzu besonders den Schlussabschnitt der Schrift „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der Klassischen Philosophie“, wo Engels ausdrücklich erklärt, dass die von Marx und ihm vertretene materialistisch-dialektische Auffassung sowohl auf dem Gebiet der Geschichte wie auf dem der Natur alle Philosophie „sowohl unnötig wie unmöglich macht“, und die allgemeinen Ausführungen der Einleitung zu „Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft“, wo es heißt, dass vom Standpunkt des modernen „wesentlich dialektischen“ Materialismus, der jeder einzelnen Wissenschaft die Aufgabe stellt, über ihre Stellung im Gesamtzusammenhang der Dinge und der Kenntnis von den Dingen sich klar zu werden, „jede besondere Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang überflüssig ist“.

[35] Vorwort zur zweiten Auflage von „Dührings Umwälzung der Wissenschaft“, von 1885.

[36] Vgl. hierzu als ein Beispiel für viele den eigentümlichen „philosophischen“ Kommentar Lenins zu Helmholtzs „Handbuch der physiologischen Optik“, wo auf ein und derselben Seite die Sinnesempfindungen einmal als „Symbole für die Verhältnisse der Außenwelt ohne jede Art der Ähnlichkeit oder Gleichheit mit dem, was sie bezeichnen“, das andere Mal als „Wirkungen der angeschauten oder vorgestellten Objekte auf unser Nervensystem und unser Bewusstsein“ bezeichnet werden. Lenin fügt zu der ersten Behauptung hinzu „Das ist Agnostizismus!“ und zu der zweiten „Das ist Materialismus!“ und bemerkt gar nicht, dass zwischen diesen beiden Behauptungen von Helmholtz gar kein Widerspruch besteht, da ja eine „Wirkung“ keine Art von Ähnlichkeit oder Gleichheit mit ihrer Ursache zu haben braucht, und die vermeintliche „Inkonsequenz“ in dieser wissenschaftliche Darstellung des Naturforschers erst durch den „philosophischen“ Kritiker hereingebracht wird, der von ihm keine Wissenschaft, sondern nur ein „konsequentes“ Bekenntnis zu dem einen oder anderen metaphysisch philosophischen Standpunkt verlangt.

[37] Ein Beispiel für die kritiklose Bewunderung, die Lenin bei der Ausübung dieses materialistisch-philosophischer Richteramtes auch dem allerabstraktesten und von keinem Hauch der Dialektik berührten, obendrein nicht einmal offen auftretenden naturwissenschaftlichen Materialismus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts entgegenbringt, und zugleich für den gewaltigen Unterschied, der in dieser Beziehung zwischen dem einseitig „philosophisch“ gewendeten Materialismus Lenins und dem konkreten historischen Materialismus besteht, liefert der Vergleich des Schlussabschnittes des Leninschen Werkes über Ernst Haeckel und Ernst Mach (a.2.0. S. 355-365) mit der kritischen Würdigung der Haeckelschen „Welträtsel“ durch den deutschen Linksradikalen Franz Mehring in der „Neuen Zeit“, XVIII, I, s. 417 ff. Die ganze ungenügende Einseitigkeit des von Lenin in seinem Werke eingenommenen materialistischen Standpunktes wird schlagend zusammengefasst durch den einen von Lenin selbst S. 265 zitierten Mehringschen Satz, dass „das Werk Haeckels in seinen minder guten wie in seinen sehr guten Seiten außerordentlich geeignet ist, die in der marxistischen Partei anscheinend etwas durcheinander geratenen Ansichten darüber zu klären, sowohl was sie am historischen Materialismus als auch was sie am historischen Materialismus besitzt“, oder in dem anderen zusammenfassenden Satz: „Wer einmal diese Unfähigkeit des beschränkt naturwissenschaftlichen Materialismus, auf gesellschaftlichem Gebiet mitzureden, mit Händen greifen, wer sich mit der Erkenntnis durchdringen will, dass der naturwissenschaftliche Materialismus sich zum historischen Materialismus erweitern muss, wenn er wirklich eine unwiderstehlich aufräumende Waffe im großen Befreiungskampfe der Menschheit sein will, der lese Haeckels Buch“ (Mehring a…0. S. 418 und 419.) In diesem Zusammenhang vergleiche man dann auch noch die treffende Kritik, die schon Engels in den Manuskripten über „Dialektik und Natur“ an dem von Mehring wie von Lenin positiv gewürdigten materialistischen Naturforscher Haeckel geübt hat, im „Marx-Engels Archiv“ II, besonders S. 177, 234 („Promammale Haeckel”!), 259 und 260. – Dagegen spricht Lenin völlig positiv von dem berühmten Naturforscher Haeckel (ohne Anführungsstriche) im Gegensatz zu dem „berühmten Philosophen Mach“ (mit Anführungsstrichen), und von seinem „allmächtigen Materialismus“.

[38] Vgl. über die verschiedenen Fassungen des Programms „Internationale Pressekorrespondenz“, 4. Jahrgang, Nr. 136 vom 18. X. 1924 S. 1976 und 8. Jahrgang Nr. 133 vom 30. XI. 1928 S. 2630; dazu die Programmreden Bucharins auf dem 5. und 6. Weltkongress („Internationale Pressekorrespondenz“, 1924, s. 989 und 1170, 1928 S. 1520 und 1682).

[39] Vgl. den Artikel Trotzkis zum 25jährigen Jubiläum der „Neuen Zeit“, XXVI, 1, S. 7 ff. Weitere schlagende Belege für die widerspruchsvolle Entwicklung der marxistischen Ideologie und der wirklichen Bewegung in Russland sowohl für diese erste Entwicklungsphase als auch für die ihr folgenden weiteren Phasen bei Schifrin: „Zur Genesis der sozialökonomischen Ideologien in der russischen Wirtschaftswissenschaft“ (Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 55, S. 720 ff.) und in der ausgezeichneten Einleitung des Herausgebers Kurt Mandelbaum zu der deutschen Ausgabe der „Briefe von Marx und Engels an Nikolai-on“, Leipzig 1929, S, V-XXXIV.

[40] Vgl. hierzu meinen oben S. 22 erwähnten Artikel „Lenin und die Komintern“.

[41] A. a. O. S. 149 ff. Sämtliche Hervorhebungen von Schifrin.