Karl Korsch

Georg Lukács: Lenin, Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken[1]

 

Es sind die Grundfragen des Leninismus, die das Thema des neuen Lukács-Buches bilden. Und Gen. L. hat es verstanden, in erstaunlich knapper Form, auf 70 Seiten, alle diese Grundfragen in höchst einfacher und leicht fasslicher Sprache, zugleich aber in sehr tiefer und gründlicher Weise zu klären. Die Aktualität der proletarischen Revolution ist der wesentliche Grundgedanke, der die Theorie und Praxis Lenins kennzeichnet und zugleich das Verhältnis dieses „Leninismus“ zu der Theorie und Praxis von Karl Marx bestimmt. Schon der historische Materialismus Marxens hat, als die Theorie der proletarischen Revolution, die weltgeschichtliche Aktualität der proletarischen Revolution zur Voraussetzung. Erst die Epigonen haben diese, von Karl Marx und Friedrich Engels auch nach 1850 festgehaltene, Grundvoraussetzung des Marxismus auf die eine (Bernsteinsche) oder die andere (Kautskysche) Weise unterdrückt. Lenin hat durch die Wiederaufnahme jener Voraussetzung die marxistische Lehre „wiederhergestellt“, und er hat sie zugleich deutlicher und konkreter gefasst, indem er das Weiterschreiten des geschichtlichen Prozesses seit Marx in sie hineingearbeitet hat: Aus der weltgeschichtlichen Aktualität der proletarischen Revolution im Marxismus ist im Leninismus die Aktualität der Revolution als einer Tagesfrage der Arbeiterbewegung geworden. Die für die vergangene Epoche der proletarischen Bewegung gültige reformistische und menschewistische Theorie von der „notwendigen“ Verknüpfung von kapitalistischer Entwicklung und Demokratie wird damit für die gegenwärtige kapitalistisch-imperialistische Epoche zu einer unwahren Vorstellung. „Wie die Tatsachen beweisen, entwickelt sich sowohl der Kapitalismus als auch der Imperialismus bei jeder politischen Form und unterwirft sich alle Formen.“ (Lenin.) Wir müssen daher in dieser Epoche mit der chaotischen Zusammenschweißung des Proletariats mit den „progressiven“ bürgerlichen Schichten unter dem unklaren Begriff des „Volkes“ theoretisch und praktisch endgültig brechen. Die proletarische Klasse muss theoretisch und praktisch als die entscheidende Kraft, als die führende Klasse auftreten, Das bedeutet aber nicht, dass wir nunmehr in das Zeitalter der „reinen proletarischen Revolution“ eingetreten wären und das Proletariat alle jene Zerfalls- und Gärungsbewegungen innerhalb des imperialistisch-kapitalistischen Weltsystems (in der Agrarfrage, Kolonialfrage, Nationalitätenfrage), die unterhalb des Niveaus einer solchen rein proletarischen Revolution stehen, verachten und abstoßen könnte. „Wer eine reine soziale Revolution erwartet, der wird sie niemals erleben und ist nur in Worten ein Revolutionär, der die wirkliche Revolution nicht versteht.“ (Lenin.) Vielmehr hat sich die proletarische Klasse als die führende Klasse für den Gesamtprozess der gegenwärtigen wirklichen Revolution zu bewähren; in diesem revolutionären Gesamtprozesse bildet die proletarische Revolution das übergreifende und beherrschende Moment, und alle jene Bewegungen, die, abstrakt betrachtet, nur den Übergang von mittelalterlich vorkapitalistischen zu neuzeitlich kapitalistischen Verhältnissen vollenden, sind für die konkrete historische Betrachtung des Leninismus zu bloßen Teilmomenten dieses Gesamtprozesses geworden, so wird durch das revolutionäre Bündnis zwischen Proletariat und Bauernschaft in Russland, durch das revolutionäre Bündnis der Proletarier aller Länder und der unterdrückten Völker der Welt in der Kommunistischen Internationale, die Hegemonie der proletarischen Klasse als der führenden Klasse der gegenwärtigen Weltrevolution nicht verfälscht oder abgeschwächt, sondern erst zu konkreter praktischer Wirklichkeit erhoben. Unter diesem Grundgedanken der „Aktualität der Revolution“ ist auch der leninistische Begriff von der „Rolle der Partei“ und alle organisatorischen Probleme des Leninismus erst voll zu begreifen. „Man kann nicht mechanisch das Politische vom Organisatorischen trennen, und wer die bolschewistische Parteiorganisation unabhängig von der Frage, ob wir in der Zeit der proletarischen Revolution leben, bejaht oder verneint, bat von ihrem Wesen sicher gar nichts verstanden.“ (Lenin.) Erst in diesem Zusammenhange wird die Vorstellung Rosa Luxemburgs, dass die Organisation ein Produkt der revolutionären Massenbewegung sei, einseitig und ungenügend. Die ungeheuren Aufgaben, die die Untergangsepoche des Kapitalismus dem Proletariat stellt, bürden der bewussten Führerschicht des Proletariats eine ungeheure aktuelle Verantwortung auf; die „Kommunisten“ haben die Rolle der Führung der proletarischen Klasse bewusst und aktiv zu übernehmen und haben zur Erfüllung ihrer Aufgabe, der Organisation der Revolution, sich selbst als die führende und organisierende revolutionäre Partei des Proletariats zu organisieren und zu disziplinieren. Die Aktualität der Revolution macht es zur Lebensfrage für das Proletariat, dass es das seiner Klassenlage wirklich entsprechende Denken und Handeln klar, in sichtbarer Gestalt, in der führenden proletarischen Partei: den nationalen kommunistischen Parteien und der internationalen kommunistischen Gesamtpartei der Dritten Internationale, vor Augen habe. Aus diesem Zusammenhange ergibt sich ebenso auch die richtige Erfassung der leninistischen Staatstheorie. Lenin hat die Staatsfrage als Tagesfrage des kämpfenden Proletariats gestellt und das Wesen des Staates als Waffe in diesem Kampfe konkret aufgezeigt. Dem bürgerlichen Staat, der auch als reine Demokratie die Organisation einer Minderheitsherrschaft darstellt (eine Organisation mit der Funktion, die herrschende bourgeoise Klasse konzentriert und zum einheitlich geschlossenen Auftreten tauglich zu machen und zugleich die unterdrückten Klassen zu desorganisieren und zu zersplittern!), treten die proletarischen „Arbeiterräte“ gegenüber, die schon in ihren allerersten unentwickeltsten Formen ihren wesentlichen Charakter als proletarische Gegenregierung zeigen. Diese Arbeiterräte müssen deshalb von der leninistischen Partei, die die Partei der Aktualität der proletarischen Revolution ist, im Proletariat ununterbrochen propagiert werden, während ihr wirkliches Dasein, wenn es keine Farce sein soll, unbedingt bereits den ernsten Kampf um die Staatsmacht, den Bürgerkrieg, bedeutet. Nach dem Siege der proletarischen Klasse vollendet sich das Wesen des Arbeiterrates als Staatsapparat, als Waffe im Klassenkampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie, die auch im Anfang der Räterepublik, auch nach ihrer ökonomischen Expropriation, auch nach ihrer politischen Unterdrückung, noch immer die mächtigere Klasse bleibt und darum von der siegreichen proletarischen Klasse mit ihrer wichtigsten Waffe, der Waffe des Rätesystems als Staatsorganisation, bekämpft, zersetzt, isoliert, vernichtet werden muss. – Die auch nach der Eroberung der Macht konsequent fortgesetzte Anwendung der gleichen von Lenin wiederhergestellten, konkretisierten und aktualisierten, geschichtlich dialektischen Methode des Marxismus auf die nunmehr aktuell gewordenen ökonomischen und sonstigen Probleme des Sozialismus macht das Wesen dessen aus, was Lukács im letzten Abschnitt seines Büchleins als die „revolutionäre Realpolitik“ Lenins behandelt. Unter diesem Gesichtspunkt wird der leere Schein aller jener „Widersprüche“ aufgelöst, die die opportunistischen Sozialisten und die bürgerlichen Politiker in der bolschewistischen Politik der letzten drei Jahre zu finden gemeint haben. Die mechanische Starrheit des undialektischen und unrevolutionären Denkens vermag es nicht zu fassen, dass alle diese „Widersprüche“ (das Festhalten der Bolschewiki nach ihrer „Rückkehr zum Kapitalismus“ an der alten Parteistruktur, an der alten „undemokratischen“ Diktatur der Partei; ihr Festhalten an der Aufgabe der Vorbereitung und Organisierung der Weltrevolution, während der Staat des russischen Proletariats gleichzeitig seinen Frieden mit den imperialistischen Mächten zu schließen, den imperialistischen Kapitalismus zum wirtschaftlichen Aufbau Russlands heranzuziehen sucht; die energische ideologische Reinhaltung und organisatorische Festigung der proletarischen Partei, während zugleich die Wirtschaftspolitik der Räterepublik ängstlich jede Lockerung des Bündnisses mit dem Bauerntum zu verhüten bestrebt ist usw., usw.) objektive, seiende Widersprüche des gegenwärtigen Zeitalters sind und dass die Politik der Kommunistischen Partei Russlands, die Politik Lenins nur insofern widerspruchsvoll ist, als sie die dialektisch richtigen Antworten auf die objektiven Widersprüche ihres eigenen gesellschaftlichen Seins sucht und findet. Führt man auf diese Weise alle Einzelfragen der leninistischen Praxis auf die Grundfrage der materialistisch-dialektischen Methode zurück, so begreift man zugleich, in welchem Sinne es berechtigt ist, vom Leninismus als einer neuen Phase in der Entwicklung dieser materialistischen Dialektik zu sprechen. Lenin hat nicht nur die Reinheit der Marxschen Lehre aus der vulgärmarxistischen Verflachung und Entstellung „wiederhergestellt“. Der Leninismus bedeutet vielmehr eine bisher unerreichte Stufe des konkreten, nicht schematischen, nicht mechanischen, ganz auf die Praxis gerichteten, materialistisch-dialektischen Denkens und Handelns. Die kommunistische Bewegung der Welt auf der Höhe dieser marxistisch-leninistischen Theorie und Praxis zu erhalten, ist die zentrale Aufgabe der Leninisten.

Indem Gen, L. seine, hier nur abstrakt und unvollkommen skizzierten Untersuchungen über den Zusammenhang der wesentlichen Leninischen Gedanken bis zu diesem Punkte fortgeführt hat, hat er zugleich die unmittelbare Aktualität dieser seiner Untersuchungen für die gegenwärtigen Aufgaben der Komintern bewiesen. Er hat zu der Frage „Lenin und die Komintern – Über die Grundlagen und die Propaganda des Leninismus“, die als erster Punkt auf der Tagesordnung des bevorstehenden 5. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale steht, einen wichtigen Beitrag geliefert. Dieser Beitrag ist nur theoretisch, für manchen, an allgemeine methodische Untersuchungen nicht gewöhnten Leser vielleicht mancherorts sogar „zu theoretisch“. Wir meinen aber, dass die Kommunisten es mit Karl Marx halten sollen, der gesagt hat: Auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.

 

[1] Die Internationale (Berlin), 5. Juni 1924 (Jg. 7., H. 12.), 413–414. (Mit einem „k” signiert.) – der Hrsg.