Karl Korsch
Über materialistische Dialektik[1]
HEGEL, Wissenschaft der Logik, heraus gegeben von Lasson, Leipzig, 1923, Philosophische Bibliothek Bd. 56. u. 57.
LUKÁCS, Geschichte und Klassenbewusstsein (Studien über marxistische Dialektik), Berlin, 1923, Der Malik Verlag.
BUCHARIN, Theorie des historischen Materialismus, Hamburg, 1922, C. Hoym Verlag.
KORSCH, Marxismus und Philosophie, im letzten Bande von Grünbergs Archiv, auch als Sonderdruck erschienen in C.Is, Hirschfeld Verlag, Leipzig 1923.
Wladimir Iljitsch Lenin hat vor zwei Jahren in seinem in Nr. 21 der Zeitschrift Kommunistische Internationale veröffentlichten Aufsatz „Unter dem Banner des Marxismus“ erklärt, dass die eine der beiden großen Aufgaben, die der Kommunismus auf dem Gebiet der Ideologie zu erfüllen hat, darin bestehe, „ein systematisches, von materialistischen Gesichtspunkten geleitetes Studium der Dialektik Hegels zu organisieren, jener Dialektik, die Marx konkret sowohl in seinem Kapital als auch in seinen historischen und politischen Schriften mit soviel Erfolg angewendet hat“. Lenin teilte also nicht die große Angst, die heute sehr viele unserer führenden Genossen zu bekunden pflegen, sobald einmal irgendwo und von irgendwem ein praktischer Versuch zur Ausführung dieses Leninschen Programms unternommen wird: dass da etwa „auf dem Wege über die idealistische Philosophie des Neohegelianertums“ „ideologische Abwege“ in die marxistisch-kommunistische Theorie „eingeschmuggelt“ werden könnten. Ein paar Beispiele mögen diese Behauptung beweisen. Als vor einem Jahre der Meinersche Verlag nach 80 Jahren zum ersten mal wieder eine Ausgabe der großen Hegelschen Logik herausbrachte, erging in der R.F. vom 20. Mai 1923 eine förmliche Warnung vor der Gefahr, die dieser neue Hegel für alle die werden könnte, die zu ihrem Studium der Hegelschen Dialektik nicht „die kritische Kenntnis der gesamten Philosophiegeschichte und über dies die genaue Vertrautheit mit den Hauptergebnissen und Methoden der Naturwissenschaften und der Mathematik seit Hegels Zeiten mitbringen“. Acht Tage später erklärte in der Roten Fahne vom 27. Mai 1923 ein anderer Vertreter der damals in der KPD theoretisch wie praktisch herrschenden Richtung ein förmliches Verdammungsurteil über den damals von Georg Lukács unternommenen Versuch, durch eine Reihe von gesammelten Aufsätzen „den Beginn oder selbst bloß den Anlass zu einer wirklich fruchtbaren Diskussion der dialektischen Methode zu bieten“. Die wissenschaftliche Zeitschrift der deutschen Partei, die Internationale, schwieg der Einfachheit halber das ganze Buch des Genossen Lukács tot. Béla Kun lenkt in seinem Aufsatz über „Die Propaganda des Leninismus“ im neuesten Heft (33) der K.I. die Aufmerksamkeit nicht nur auf schon vorgekommene Abweichungen, sondern überdies auch noch auf „einzelne kommunistische Publizisten, die, obwohl noch ohne einen politischen Namen, dennoch in absehbarer Zeit in neue revisionistische Abwege vom orthodoxen Marxismus geraten könnten (!)“.
Man darf nach diesen Beispielen, die sich noch beliebig vermehren ließen, wohl die Behauptung aufstellen, dass die von Lenin schon früher und zuletzt in den erwähnten Aufsatz vom Jahre 1922 erhobene und detailliert ausgeführte Forderung, dass wir in unserer kommunistischen Aufklärungsarbeit ein von materialistischen Gesichtspunkten geleitetes, systematisches Studium nicht nur der dialektischen Methode Marx’ und Engels’, sondern auch der „Dialektik Hegels“ organisieren müssten, in den Kreisen der führenden Theoretiker der Komintern, und besonders unter den Theoretikern der deutschen K.P. im ganzen nicht sehr viel Verständnis gefunden hat. Fragen wir nach den Ursachen dieser Erscheinung, so müssen wir unterscheiden. Für die einen (typisch vertreten durch die Schrift Bucharins) ist im Grunde die gesamte „Philosophie“ schon gegenwärtig das, was sie in Wirklichkeit erst nach dem vollen Siege der proletarischen Revolution in der zweiten Phase der kommunistischen Gesellschaft sein wird, der überwundene Standpunkt einer unaufgeklärten Vergangenheit, Diese Genossen glauben, dass in der empirischen Methode der Naturwissenschaften und der entsprechenden positiv-historischen Methode der Gesellschaftswissenschaften die Frage der „wissenschaftlichen“ Methode ein für allemal gelöst sei und ahnen wenig davon, dass gerade diese Methode, die das Feldgeschrei war, unter dem die bürgerliche Klasse ihren Kampf um die Macht von Anfang an geführt hat, auch heute noch die spezifisch bürgerliche Methode der wissenschaftlichen Forschungen ist, die von den Vertretern der modernen bürgerlichen Wissenschaft in der heutigen Niedergangsperiode der bürgerlichen Gesellschaft zwar theoretisch bisweilen verleugnet, in der Praxis aber festgehalten wird.
Sehr viel komplizierter liegt der Sachverhalt bei der anderen Richtung. Hier sieht man in der wenn auch noch so „materialistisch“ gewendeten Beschäftigung mit der dialektischen Methode Hegels eine „Gefahr“ aus dem Grunde, weil man diese Gefahr aus eigener Erfahrung nur allzu gut kennt und ihr insgeheim tatsächlich selbst zum Opfer fällt, so oft man sich ihr aussetzt. Diese zunächst etwas kühn klingende Behauptung wird nicht nur illustriert, sondern geradezu bewiesen durch das Beispiel eines kleinen Aufsatzes „Über den Stoff der Dialektik“ von A. Thalheimer, der in Heft 9 des 6. Jahrgangs der Internationale (Mai 1923) und gleichzeitig auch in dem Mitteilungsblatt der kommunistischen Akademie in Moskau erschienen ist. Genosse Thalheimer knüpft in diesem Aufsatz an an die von Franz Mehring vertretene, nach unserer Meinung auch allein haltbare These, dass es vom materialistisch-dialektischen Standpunkt Marxens aus nicht mehr zweckmäßig und strenggenommen überhaupt nicht mehr möglich ist, diese „materialistisch-dialektische“ Methode losgelöst von einem konkreten „Stoff“ zu behandeln, Genosse Th. erklärt, dass diese Mehringsche Ablehnung einer abstrakten Behandlung der dialektischen Methode als solcher zwar einen richtigen Kern habe, aber doch „übers Ziel hinausschieße“. Die Ausarbeitung einer Dialektik sei „ein dringendes Bedürfnis“, unter anderem darum, weil „in den fortgeschrittensten Teilen des Weltproletariats das Bedürfnis entsteht, über die praktischen Anforderungen des Kampfes und des sozialistischen Aufbaues hinaus sich ein umfassendes und streng geordnetes Weltbild (!) zu schaffen“, und das enthalte wiederum in sich „die Forderung nach einer Dialektik“. – Genosse Th. führt weiter aus, dass bei einer solchen Bearbeitung der Dialektik kritisch an Hegel anzuknüpfen sei, und zwar „nicht nur in Bezug auf die Methode, sondern auch in Bezug auf den Stoff“. Der geniale Fortschritt Hegels bestehe in der Forderung, dass „der innere, allseitige, systematische Zusammenhang aller Denkkategorien aufgezeigt werde“. Diese Aufgabe bestünde auch für die materialistische Dialektik. Nur müsste dabei die Hegelsche Methode umgestürzt werden; eine materialistische Dialektik habe davon auszugehen, dass nicht der Gedanke die Wirklichkeit, sondern umgekehrt die Wirklichkeit das Denken bestimmt.
Wir glauben, dass diese Ausführungen des Genossen Th. bei all ihrer Kürze sonnenklar beweisen, dass Genosse Thalheimer sich die dialektische Methode überhaupt nicht anders als hegelianisch-idealistisch vorstellen kann, Wir wollen allerdings deshalb nicht behaupten, dass Genosse Th, ein idealistischer Dialektiker sei. Wir haben an anderer Stelle dargelegt, dass Genosse Thalheimer sich in einem neueren Aufsatz zu einer angeblich materialistisch-dialektischen Methode bekennt, die in Wirklichkeit überhaupt nicht mehr dialektisch, sondern reiner Positivismus ist. Wir können hier jene Darlegung dadurch ergänzen, dass wir sagen: soweit und sofern Genosse Th. Dialektiker ist, ist er idealistischer Dialektiker, er konzipiert die dialektische Methode überhaupt nicht anders als in ihrer Hegelschen idealistischen Form. Den Beweis hierfür wollen wir positiv erbringen, indem wir erklären, worin nach unserer Auffassung das Wesen der materialistischen Dialektik, d.h. der von Marx und Lenin materialistisch angewendeten Hegelschen Dialektik besteht. Wir knüpfen hierbei an die Ergebnisse unserer früher veröffentlichten Untersuchung über das Verhältnis von Marxismus und Philosophie an.
Es ist höchste Zeit, mit jener oberflächlichen Auffassung Schluss zu machen, als ob der Übergang von der idealistischen Dialektik Hegels zu der materialistischen Dialektik Marxens eine so einfache Sache wäre, dass sie sich durch einen bloßen „Umsturz“, die bloße „Umstülpung“ einer sonst unverändert bleibenden Methode bewerkstelligen ließe. Gewiss gibt es einige allgemein bekannte Marxstellen, in denen Karl Marx den Unterschied seiner Methode von der Hegelschen selbst in dieser abstrakten Weise als einen bloßen Gegensatz charakterisiert hat. Wer aber das Wesen der Marxschen Methode nicht nach diesen Zitaten bestimmt, sondern sich in die theoretische Praxis Marxens vertieft, der sieht sehr leicht, dass auch dieser methodische „Übergang“, wie alle Übergänge, keine bloß abstrakte Umdrehung darstellt, sondern einen reichen konkreten Inhalt hat.
Zur selben Zeit, als die klassische Ökonomie das Wertgesetz in der „mystifizierten“ und abstrakt ungeschichtlichen Form des Ricardo entwickelte, hat auch die klassische deutsche Philosophie in mystischer und abstrakter Weise den Versuch gemacht, die Schranken des bürgerlichen Denkens gedanklich zu durchbrechen. Wie das Wertgesetz Ricardos, so weist auch die um dieselbe Zeit, in der revolutionären Epoche der bürgerlichen Gesellschaft, entwickelte „dialektische Methode“ in ihrer Konsequenz über die bürgerliche Gesellschaft bereits hinaus (gerade so, wie auch die praktische revolutionäre Bewegung des Bürgertums, solange ihr die proletarische revolutionäre Bewegung noch nicht „selbständig“ gegenübergetreten war, in ihren Zielen über die bürgerliche Gesellschaft teilweise schon hinausstrebte). Aber alle diese von der bürgerlichen Ökonomie und von der bürgerlichen Philosophie hervorgebrachten Erkenntnisse blieben zuletzt doch „reine“ Erkenntnisse, ihre Begriffe das „wiederhergestellte Sein“, ihre Theorien also bloße passive „Widerspiegelungen“ dieses Seins, eigentliche „Ideologien“ in dem engeren und präziseren Sinne dieses Marxschen Ausdruckes. Die bürgerliche Ökonomie und die bürgerliche Philosophie konnten die „Widersprüche“, die „Antinomien“ der bürgerlichen Wirtschaft und des bürgerlichen Denkens wohl erkennen und sogar mit allergrößter Helligkeit durchleuchten, mussten aber diese Widersprüche am Ende doch bestehen lassen. Erst die neue Wissenschaft der proletarischen Klasse, die nicht mehr, wie die bürgerliche Wissenschaft „reine“ theoretische Wissenschaft ist und sein will, sondern zugleich umwälzende Praxis, kann diesen Bann brechen. Die politische Ökonomie von Karl Marx und die materialistische Dialektik der proletarischen Klasse führt in ihrer praktischen Anwendung zu einer Auflösung dieser Widersprüche in der Wirklichkeit des gesellschaftlichen Lebens, und damit zugleich auch in der Wirklichkeit des Gedankens, der ein wirklicher Bestandteil dieser gesellschaftlichen Wirklichkeit ist. So ist es zu verstehen, wenn Karl Marx dem proletarischen Klassenbewusstsein und seiner materialistisch dialektischen Methode eine Kraft zuschreibt, die die Methode der bürgerlichen Philosophie auch in ihrer letzten, reichsten und höchsten Hegelschen Entwicklungsform nicht besaß. Erst für die proletarische Klasse, erst für sie und nur für sie, wird es möglich, durch die Ausbildung ihres tendenziell praktisch gewordenen Klassenbewusstseins jene Fessel einer letzten übrigbleibenden „Unmittelbarkeit“ oder „Abstraktheit“ zu überwinden, die für jedes rein erkennende Verhalten, auch für die idealistische Dialektik Hegels, letzten Endes bestehen bleibt und in ihren unüberwindlichen „Widersprüchen“ sichtbar zutage tritt. Hierin und nicht in einer bloß abstrakten „Umkehrung“ oder „Umstülpung“ liegt die revolutionäre Weiterentwicklung der idealistischen Dialektik, der klassischen bürgerlichen Philosophie zu jener materialistischen Dialektik, die als die Methode der neuen Wissenschaft und Praxis der proletarischen Klasse von Karl Marx theoretisch konzipiert, von Lenin theoretisch und zugleich praktisch angewendet worden ist.
Betrachten wir den „Übergang“ von der bürgerlichen Dialektik Hegels zu der proletarischen Dialektik Marx-Lenins unter diesem geschichtlichen Gesichtspunkt, so ergibt sich daraus zugleich die vollständige Verkehrtheit der Vorstellung von der Möglichkeit eines selbständigen „Systems“ der materialistischen Dialektik. Nur ein idealistischer Dialektiker kann den Versuch unternehmen, die Gesamtheit der Denkformen (Denkbestimmungen, Kategorien), die von uns in der Praxis, in der Wissenschaft und Philosophie teils bewusst angewendet werden, teils unsern Geist instinktartig und bewusstlos durchziehen, von dem Stoff des Anschauens, Einbildens, Begehrens, in welchem sie sonst eingehüllt stecken, zu befreien und als einen besonderen Stoff für sich zu betrachten. Schon der letzte und größte idealistische Dialektiker, der Bürger Hegel, hat die „Unwahrheit“ dieses Standpunktes teilweise durchbrochen und „den Inhalt in die logische Betrachtung ein geführt“ (vgl. die Ausführungen in der Vorrede zur 2. Auflage der Logik, Lassonsche Ausgabe s. 17 ff.). Für den materialistischen Dialektiker aber ist dieses abstrakte Verfahren völlig widersinnig. Eine wirklich „materialistische“ Dialektik kann über die Denkbestimmungen und die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen an sich, abgesehen von ihrem jeweiligen konkreten geschichtlichen Inhalt, überhaupt nichts aussagen. Nur vom Standpunkt der idealistischen, also bürgerlichen Dialektik aus wäre es möglich, die Thalheimersche Forderung zu erfüllen, wonach die Dialektik den Zusammenhang der Denkbestimmungen als einen „inneren, allseitigen, systematischen Zusammenhang aller Denkkategorien“ aufzuzeigen hätte. Vom Standpunkt der materialistischen Dialektik aus ist dagegen jener Satz, den Karl Marx einmal mit Bezug auf die „ökonomischen Kategorien“ ausgesprochen hat, auf den Zusammenhang aller Kategorien oder Denkbestimmungen überhaupt anzuwenden: Sie stehen zueinander nicht in einem Zusammenhang „in der Ideen“ (für welche „verschwiemelte Vorstellung“ Marx den Proudhon verprügelte!), nicht in einem „inneren systematischen Zusammenhang“; vielmehr ist auch ihre scheinbar rein logische und systematische Reihenfolge „bestimmt durch die Beziehungen, die sie in der modernen bürgerlichen Gesellschaft aufeinander haben“. Mit der Änderung dieser geschichtlichen Wirklichkeit und Praxis ändern sich auch die Denkbestimmungen und alle ihre Zusammenhänge. Von dieser ihrer geschichtlichen Bezogenheit abzusehen und die Denkbestimmungen und ihren Zusammenhang abstrakt für sich in ein System bringen zu wollen, bedeutet die Preisgabe der revolutionären proletarischen materialistischen Dialektik zugunsten einer Denkweise, die nur in der Theorie „materialistisch“ umgekehrt ist, in der praktischen Wirklichkeit aber die alte unveränderte „idealistische“ Dialektik der bürgerlichen Philosophie geblieben ist. Die „materialistische“ Dialektik der proletarischen Klasse kann nicht als eine besondere „Wissenschaft“ mit einem besonderen, ihr eigentümlichen „Stoff“ abstrakt oder auch an sogenannten Beispielen gelehrt werden. Sie kann nur in der Praxis der proletarischen Revolution und in einer Theorie, die ein immanenter wirklicher Bestandteil dieser revolutionären Praxis ist, konkret angewendet werden.
[1] Die Internationale (Berlin), 2. Juni 1924, (Jg. 7., H. 10–11.), 376–379. (Mit einem „k” signiert.) – der Hrsg.