Karl Mannheim

Historismus[1]

 

1. Statisches und dynamisches Denken

Der Historismus ist eine geistige Macht, mit der man sich auseinandersetzen muss, ob man will oder nicht. Wie es einst im Athen des Sokrates Pflicht war, zu den Sophisten Stellung zu nehmen, weil ihr geistiger Standort dem gesellschaftlich-kulturellen Zustande der damaligen Welt entsprach, und ihre Fragen und Zweifel aus dem erweiterten geistigen Horizont der Zeit entsprangen, so ist es eine unumgängliche Gewissensfrage der Gegenwart, die Probleme des Historismus zu bewältigen.

Der Historismus ist eine geistige Macht geworden von unübersehbarer Tragweite, er ist der wirkliche Träger unserer Weltanschauung, ein Prinzip, das nicht nur mit unsichtbarer Hand die gesamte geisteswissenschaftliche Arbeit organisiert, sondern auch das alltägliche Leben durchdringt. Man kann heute keine Politik treiben, keinen Menschen verstehen – sofern man dies nur einigermaßen dem gegenwärtigen Bewusstsein entsprechend zu tun versucht –, ohne alle jene Realitäten, die uns dabei entgegentreten, als dynamisch gewordene und werdende hinzunehmen. Auch im alltäglichen Leben arbeiten wir mit Begriffen, in denen die historische Konzeption mitklingt, wie „Kapitalismus“, „soziale Bewegung“, „Kulturprozess“ usw.: wir nehmen sie hin als stets im Fluss begriffene, von irgendwo in der Zeit herkommende auf etwas hinstrebende Potenzen, und bereits unsere alltägliche Reflexion trachtet danach, die gegenwärtige Stunde, unser eigenes Einsetzen in diese Kontinuitäten an der Weltenuhr zu orientieren. Unsere Lebensbetrachtung ist bereits durch und durch soziologisch geworden und die Soziologie ist eben auch eines jener Gebiete, die, vom Prinzip des Historismus immer mehr beherrscht, unsere neue Lebenshaltung am intensivsten verraten.

Der Historismus ist also kein Einfall, er ist keine Mode, er ist nicht einmal eine Strömung, er ist das Fundament, von dem aus wir die gesellschaftlich-kulturelle Wirklichkeit betrachten. Er ist nicht ausgeklügelt, er ist kein Programm, er ist der organisch gewordene Boden, die Weltanschauung selbst, die sich herausbildete, nachdem das religiös gebundene Weltbild des Mittelalters sich zersetzte und nachdem das aus ihm säkularisierte Weltbild der Aufklärung mit dem Grundgedanken einer überzeitlichen Vernunft sich selbst aufgehoben hatte.

Die Romantiker der Gegenwart, die sich darüber beklagen, dass es heute keine Weltanschauung gibt, die das Schlagwort organisch geworden stets im Munde führen und dieses organisch Gewordene im gegenwärtigen Leben vermissen, merken gar nicht, dass gerade der Historismus es ist, der mit derselben Universalität das Weltbild organisiert, mit der es einst die Religion getan hat, und dass gerade und allein der Historismus es ist, der organisch aus den vorangehenden geistesgeschichtlichen Wurzeln erwachsen konnte. Ihm gegenüber erscheint eben die Romantik, sofern sie eine irgendwie vergangene Gestalt des Weltbildes für das gegenwärtige Leben propagiert, als ausgeklügelt, gewollt und bloß programmatisch.

All dies bedeutet aber nicht, dass man den Historismus hinnehmen muss wie ein Schicksal, an dem man nichts ändern kann, wie eine höhere, feindliche Gewalt: ist doch der Historismus selbst Weltanschauung, also im Werden begriffen, auf ein System hinstrebend, und es bedarf der philosophischen Arbeit von Generationen, ihn seiner vollendeten Gestalt entgegenreifen zu lassen, und nichts wäre armseliger, als eine seiner vorläufigen Lösungen als endgültige hinzunehmen.

Will man also den Historismus nicht von vornherein abweisen, sondern, ihn in seinem Wachstum belauschend, auf seine Probleme eingehen, so muss man sich zunächst fragen: was bedeutet der Historismus, was verstehen wir unter ihm, wenn wir in diesem weiteren Weltanschaulichen Sinne von ihm sprechen? Er bedeutet zunächst selbstverständlich nicht die Geschichtsschreibung überhaupt. Geschichte gab es seit Herodot in mannigfachen Gestalten, als schlichte Chronik, als Legende, Erbauung, als Rhetorik, als geistiges Bilderbuch, als Kunstwerk usw., wir haben aber einen Historismus erst, seit dem die Geschichte selbst aus der historischen Weltanschauung heraus geschrieben wird. Nicht die Geschichtsschreibung hat uns den Historismus gebracht, sondern der Geschichtsprozess hat uns zu Historisten gemacht. Historismus ist also Weltanschauung, und zur Weltanschauung gehört in unserem Bewusstseinsstadium, dass nicht nur unser außer- und innerweltliches Leben von diesem einen Zentrum aus durchdrungen werde, sondern dass dieses Zentrum auch unser Denken beherrsche, dass es sich auch in der Wissenschaft und Wissenschaftstheorie, Logik, Erkenntnistheorie und Ontologie durchsetze. Einen Historismus gibt es erst, seitdem die Probleme, die mit der neuen Lebenshaltung mitgegeben waren und sich vielleicht in der Geschichtsschreibung nur am handgreiflichsten auswirkten, die Stufe der Selbstbewusstheit erlangten.

Zweifellos war der Entwicklungsgedanke der Kristallisationspunkt, die philosophische Achse sowohl dieser neuen Geschichtsschreibung als auch der neuen Lebensanschauung, und deshalb ist auch die Geschichte des Entwicklungsgedankens der Ort, an dem man den Historismus sozusagen handgreiflich und am lehrreichsten erfassen kann. Aber der Entwicklungsgedanke ist dennoch nur der vorgeschobenste Posten dieser Weltanschauung, der, zu Ende gedacht und zu Ende gelebt, dazu treibt, die zu ihm gehörige Lebenstotalität und das adäquate Gedankensystem aufzurollen.

Der erste Ansatzpunkt zu einer historistischen Denk- und Erlebnisweise bleibt aber in jedem Falle die Fähigkeit, einen jeden Teil der geistig-seelischen Welt als im Fluss, im Werden begriffen zu erleben. Erst seitdem man Entwicklungsgeschichten von Institutionen, Sitten, Religionen, seelischen Gehalten usw. schreibt, ist man einer historistischen Lehre zugänglich. Solange man aber nur bis zu dieser „Mobilisierung“ aller Weltinhalte vorgedrungen ist, solange man nur dieses schlichte Lebensgefühl des Allfließens besitzt, hat man das Wesen des Historismus doch noch nicht erfasst. Es ist nur ein neues Erlebnis in die Mitte des Erlebens gestellt, und philosophiert man von da aus, so kommt man nur zu jenen relativistischen Lehren, die dem Gegner für eine allzuleichte Widerlegung offenstehen. Immer kompliziertere Problemstellungen der Dynamis entstehen nur dann, wenn man zu sehen beginnt, dass mehr als ein bloß chamäleonhafter Wandel der Lebenselemente in der Geschichte sich abspielt. Der Historismus bedeutet mehr als einen Hinweis darauf, dass man in einem Zeitalter so gedacht, gefühlt, gedichtet, gemalt, gewirtschaftet hat und in einem anderen Zeitalter wieder anders. Zur eigenen Vollendung kommt diese Lehre nur dadurch, dass sie zunächst diesen mannigfachen Veränderungen ein Prinzip der Ordnung zu entreißen vermag, dass sie in die innerste Struktur dieses Allwandels einzudringen imstande ist.

Diese Ordnung kann man aber in zwei Richtungen herauszuarbeiten bestrebt sein: einmal in der Richtung des historischen Längsschnittes und zweitens in der Richtung des historischen Querschnittes. Im ersteren Falle ergreift man irgendein Motiv des geistig-kulturellen Lebens, eine Kunstgattung, eine politische Idee, eine bestimmte Lebenshaltung usw. und verfolgt sie zurück in die Vergangenheit und versucht zu erweisen, wie eine jede spätere Gestalt kontinuierlich-organisch aus der früheren Gestalt erwachsen ist. Erweitert man diese Betrachtung allmählich auf alle Gebiete des kulturellen Lebens, so erhält man dadurch gleichsam ein Bündel der Entwicklungsreihen, in dem zwar innerhalb der einzelnen Reihen der Zufälligkeitscharakter des Gestaltwandels bereits überwunden ist, die Entwicklungslinien selbst aber wie äußerlich zusammengehaltene Stäbe nebeneinander liegen, Eine Ergänzung findet diese Art des Historismus erst durch die zweite auf den Querschnitt gerichtete Betrachtung, die es unternimmt, zu zeigen, wie in einem gleichzeitigen Stadium die soeben isoliert betrachteten Motive auch untereinander organisch zusammenhängen. Dass also der geistige Strom nicht in isolierten Kanälen der einzelnen Lebens- und Kulturgebiete sich fortwälzt und emporwächst, sondern in einem jeweiligen Stadium sich die einzelnen „Motive“ gegenseitig bedingen, Teil und Funktion einer Totalität sind, die das letzte Substrat, das wirkliche Subjekt dieses Allwandels ist.

Die Struktur oder die Gestalt[2] dieser Totalität aus der sorgsamen Untersuchung ihrer Einzelmomente herauszuarbeiten ist das Endziel des Historismus, der sich als universales, metaphysisches und methodisches Prinzip in allen Geisteswissenschaften durchsetzt und die Kunstwissenschaft wie die Religionswissenschaft, die Soziologie wie die Ideengeschichte beherrscht. Diese Totalität, die eine allmählich sich verändernde Gestalt und eine damit sich verändernde Struktur ihres inneren Bestandes aufweist, aus der Mannigfaltigkeit herauszuarbeiten: dies ist Ziel, aber auch eine vorweggenommene Vision des vollendeten Historismus zugleich. Möglichst im Zeichen dieser zunächst vorahnungsmäßigen Vision wird bereits heute auch eine jede geschichtliche Einzeluntersuchung unternommen, und es besteht weitgehend das Bestreben, auch die Gegenwart unter jenen Gesichtspunkten zu erfassen.

Damit transzendiert aber bereits unsere ganze historische Forschung, aber auch unsere Grundart, die Gegenwart zu erleben, aus der bloßen Geschichtsschreibung in die Geschichtsphilosophie. Wir wollen nunmehr nicht allein wissen, „wie es gewesen ist”, nicht nur das unmittelbare „Warum?” (die unmittelbaren kausalen Präzedentien) interessieren uns, sondern wir fragen uns stets: „Was bedeutet es?” Indem wir das zu erfassende Element (die historische Tatsache) in eine Totalität, und zwar in eine dynamische Totalität einfügen und von da aus seinen Sinn suchen, wird unsere Fragestellung zu einer philosophischen, und sowohl die historische Einzelwissenschaft als auch die Lebensbetrachtung wird wieder philosophisch. War es früher das religiöse System, in das man jede Einzelerfahrung einstellte und dadurch philosophisch werden ließ, so ist es jetzt eine geschichtsphilosophische Vision, die sich im Forschen immer mehr konkretisiert und präzisiert und unsere Welt gerade mit Hilfe des Historismus wieder philosophisch werden lässt. Man sieht es immer klarer, dass die schroffe Scheidung zwischen Geschichtsphilosophie und Geschichtsschreibung[3] – wobei die letztere als von der ersteren völlig abgelöste Einzelwissenschaft aufgefasst wird – nur der Einsicht bzw. der Kurzsichtigkeit einer bestimmten Epoche entspricht. Es wird zugleich immer durchsichtiger, dass Geschichtsphilosophie der scheinbar spezialisiertesten Einzeluntersuchung zugrunde liegt – wo nähme sie denn sonst u.a. ihre Fragestellung her?

Wenn die gegenwärtige Geschichtsschreibung nach einer Periode von möglichst isolierten Fragestellungen der Einzeluntersuchungen diese mit immer umfassenderen Problemstellungen in Zusammenhang bringt und dadurch ihre eigenen Konturen, ihre eigenen Grundlagen und Voraussetzungen in Form einer Geschichtsphilosophie herauszuarbeiten versucht, so bringt sie nur das ins eigene Blickfeld, wovon sie auch bisher – wenn auch oft unbewusst – getrieben wurde. Der Historismus wird zur Geschichtsphilosophie, indem er die in der Geschichtsschreibung eingebettete Philosophie heraushebt und die in ihr liegenden und wirkenden Probleme reflexiv durchdenkt. Dadurch aber tritt das Leben, das den Historismus erzeugt, die Geschichtsschreibung, die in dessen Zeichen geschaffen hatte, in das Stadium der Selbstreflexion, der systematischen Selbstvollendung; es entstehen jene philosophischen Probleme, die in existentieller Wirksamkeit die Spannungen der lebendigen Weltanschauung bereits konstituiert hatten.

Neue Philosophien entstehen nicht, indem jemand irgendein System zu Ende denkt, irgendwelche Gedanken ausklügelt, sondern indem der bereits daseiende, aber zunächst unreflexiv daseiende philosophische Gehalt neuer Lebenshaltungen ins Blickfeld rückt. Bis zu den extremsten scheinbar isolierten methodologischen und logischen Problemen lässt es sich zeigen, wie sie als ein Insblickfeldrücken und Zuendedenken jener Prämissen zustande kommen, die unausgesprochen bereits in der neuen Gestalt des Lebens eingebettet vorhanden sind. Es ist aber die Eigenart des Lebens und des lebendigen Denkens, dass sie nicht (wie es das fertige System darstellt) gleichsam von einem Obersatz, vom systematisch Ersten ausgehen und bis zur Besonderheit fortschreiten, diese aus dem ersteren deduzieren, sondern: das unreflexive Leben beginnt bei Unmittelbarkeiten, greift in medias res, in die Mitte ein und schält aus diesen Unmittelbarkeiten erst nachträglich auf einer reflexiven Stufe das heraus, was prämissenhaft in ihnen liegt. Was man aber in „phänomenologischer“ Unmittelbarkeit erfasst, ist bereits eine der historisch gewordenen Gestalten des Weltsubstrates, es ist bereits von den gestaltenden Kategorien der neuen „Vernunft“ und „Seele“ durchdrungen. Dass aber in jeder Einzelheit mehr liegt als „sie selbst“, dass die Totalität entweder im Sinne eines systematisierenden Prinzips oder im Sinne eines Gestaltgesetzes sie durchdringt, dass also die Voraussetzungen in die Einzelheit eingebettet und nachträglich auch entfaltbar sind, das ist – wenn man will – ein Wunder – allenfalls aber ein Beweis dafür, dass unsere unreflexive Kulturschöpfung, unser Tun, Handeln, Schauen, das die neuen Welten um uns und in uns erschafft, bereits kategorienhaft, geistig dem reflexiven Erkennen verwandt ist, und zugleich ein Beweis dafür, dass auch unser Denken nur eines jener Organe ist, mit denen wir uns in den „Weltenraum“ hineintasten, ihn erfüllen, erschaffen und zugleich erfassen. Das Erkennen ist keine reine Kontemplativität – höchstens dass es sich auf gewissen Gebieten diesem Grenzwerte annähert –, keine schlichte Hinnahme, sondern wie alle Sensorien weltschöpferisch und weltrezeptiv zugleich, vorwärtsströmend, in neuen Formen schaffend, in neuen Formen rezipierend mit einem Schlage.

Handelt es sich nun darum, den Historismus in seinem gegenwärtigen Stadium philosophisch zu Ende zu denken, jene ontischen, erkenntnistheoretischen, logischen Voraussetzungen herauszuholen, die in seiner lebendigen Handhabung bereits enthalten sind, also den gewordenen Historismus selbst zu systematisieren, so erfüllt sich am Historismus nur ein Schicksal, das er für alle gewesenen Gestalten des Weltprozesses selbst entdecken musste: dass das Leben die Tendenz hat, immer wieder selbst zum System zu werden.

In diesem Stadium des Systematisierens einer neuen Gestalt der Weltanschauung entstehen aber Spannungen, die man sich zum Bewusstsein bringen muss, ehe man weitergeht; es entstehen jene Spannungen, die vorhanden sind, seitdem es philosophische, systematisierte Weltanschauung überhaupt gibt. Es entsteht eine Spannung, ein Widerstreit zwischen den letzten Voraussetzungen, die eine frühere Philosophie durch das Herausschälen und Zuendedenken der Prämissen eines früheren geistigen Stadiums gewonnen hatte, und den Prämissen, die auf dieselbe Weise aus dem Durchdenken des neuen Lebenssubstrates hervorgehen.

Wenn man also die Philosophie des Historismus zu Ende denken will, entsteht die eigentümliche Aufgabe, die Philosophie selbst historisch zu sehen, in das System der Philosophie das Faktum der Geschichtlichkeit aller Philosophie aufzunehmen. Es handelt sich also letzten Endes darum, dem Satze, dass auch die Philosophie einem organischen Gestaltwandel unterworfen ist, seinen systematischen Sinn abzugewinnen. Das bedeutet aber eine Vision davon zu haben, wie die einzelnen Philosophien der verschiedenen Epochen sich zueinander verhalten: ob sie sich gegenseitig vernichten, oder ob sie gleichsam zu einer überzeitlichen Arbeitsteilung sich ergänzen und letzten Endes Teile eines noch unfertigen Systems sind, oder aber ob sie von jeweils umfassenderen neuen Zentren aus sich auf die Weise stets neu aufbauen, dass die alten Einsichten in das neue System aufgenommen werden, dadurch aber jedem Element ein neuer Sinn verlieben wird. Wir glauben, dass die zuletzt erwähnte Konzeption im Sinne des Historismus liegt.

Es wäre also unhistorisch, die Ergebnisse der früheren Philosophie einfach zu negieren, sie entstammen ja auch der Selbstreflexion über ein Lebenssubstrat, das als solches unbedingt Teil der dynamischen Ganzheit des Gesamtprozesses selbst ist; sie entsprangen aber einem Stadium, in dem das neue Substrat noch nicht vorhanden war und man sich folglich mit ihm noch nicht auseinandersetzen konnte. Keineswegs kann man also die früheren Ergebnisse und Problemstellungen ohne weiteres abweisen, es gilt sie vielmehr in das neue System aufzunehmen, was für uns bedeutet, ihre scheinbar universale Bedeutung auf eine regionale einzuschränken und vom neuen, umfassenderen Zentrum aus das alte, in allen seinen Elementen – sofern diese aufrecht zu halten sind –, umzudeuten.

Ganz und gar unmöglich ist es aber, eine neue Philosophie, die ein neues Substrat als Unterlage für Analyse und Reflexion besitzt, vom Standorte der Prämissen des früheren Systems einfach zu negieren, nur weil sie den letzten Voraussetzungen dieses Systems widerspricht. Dies tun aber jene, die vom Standorte der Aufklärungsphilosophie die sich entfaltenden neuen Einsichten des Historismus von vornherein ablehnen. Unter Aufklärungsphilosophie wollen wir hierbei jene Systeme verstehen, die in irgendeiner Form eine Lehre von der Überzeitlichkeit der Vernunft enthalten. Alle die Widerlegungen, die von dieser Seite kommen, laufen letzten Endes auf den Vorwurf des Relativismus, der angeblich im Historismus enthalten sei, hinaus, und man meint mit diesem Schlagworte ohne weiteres den neuen Gegner vernichtet zu haben. In Deutschland gewährt vornehmlich der Kantianismus einen solchen Boden für die Widerlegung des Historismus. Der Gedanke von der Identität, der ewigen Selbstgleichheit und Apriorität der formalen Bestimmungen der Vernunft ist jener aufklärerische Kern, mit dem man der historistischen Lehre, soweit sie bereits entwickelt ist, entgegentritt.

Wie aber, wenn es sich zeigen lässt, dass auch die allgemeinsten Bestimmungen, Kategorien der Vernunft, sich verändern und – genau so, wie ein jeder Begriff in seinem Inhalt sich wandelt – im Laufe der Geistesgeschichte einen „Bedeutungswandel“ durchmachen. Form und Inhalt sind überhaupt eine äußerst problematische Unterscheidung, und es bleibt immer fraglich, wie weit der besondere Inhalt, der doch unbedingt historisch ist, die Formstruktur in ihrer Besonderheit bedingt. Geht man aber so weit, dass man in der Formalisierung sich bis auf eine „Form überhaupt“, „Begriff überhaupt“, „Wert überhaupt“, bis auf diese „Überhaupt-Strukturen“ zurückzieht, nur um der Problematik des Historischen zu entgehen, so wird es unmöglich, irgend etwas Konkretes in der Methodologie zu sagen. Aber auch diese, sich selbst in die Enge treibende Position bleibt geschichtsphilosophisch bedingt. Der absolute Formalismus bleibt gebunden an eine und kann nur entstehen in einer Welt, für die alle Werte in ihrer Konkretheit unglaubhaft geworden sind und das Glaubhafte nunmehr nur die Wertform überhaupt ist. Dadurch aber wird eine abstrakte künstliche Spaltung in die unzertrennbare Einheit der geistigen Gebilde hineingetragen, die alles eher als eine überzeitliche Distinktion ist. Sie entspricht völlig einer geschichtsphilosophischen Lage, die in allen Gebieten auf dieses „formale Moment“ rekurrierte und gerade dadurch nur in einer ganz bestimmten Perspektive die gemeinten Sachverhalte zu erfassen imstande war. Wie wenig letzthinnig diese Form-Inhalt-Spaltung, die einer statischen Vernunftphilosophie zugrunde liegt, ist, wie völlig einseitig mit einem an starren, dinghaften Gegenständlichkeiten orientierten Denken diese Konzeption zusammenhängt, sei durch den Hinweis aufgezeigt, dass ihr tatsächlich die zwar verschwiegene Analogie mit toten Gegenständen vorschwebt. Es schweben, wenn man von formalen Kategorien oder von formalen Werten spricht, die sich stets nur mit neuem Inhalt erfüllen, Bilder vor, wie etwa das eines Gefäßes, in das stets neue Flüssigkeit, oder das von Schläuchen, in die immer neuer Wein gegossen werden kann, wobei diese Gefäße, Schläuche als stets sich gleichbleibende Formen genommen werden können. Zu einer ganz anderen Korrelation von Form und Inhalt müsste man aber kommen, wenn man von Bildern ausginge, die sich etwa an lebende, wachsende Pflanzen hielten; in diesen letzteren ändern sich nicht nur die sie aufbauenden Stoffe und fluktuieren nicht nur die Säfte, sondern auch die „Form“, die „Gestalt“ der Pflanze wächst mit, verändert sich mit dem immer sich erneuernden „Inhalt”. Je mehr man sich aber von der Dingwelt entfernt und je mehr man sich dem wirklich historischen Substrat der seelischen und geistigen Welt nähert, um so problematischer muss ein solcher, den Schein der Überzeitlichkeit vorspiegelnder Spaltungsversuch werden, der alle Veränderung auf die eine Seite und alles Bleibende auf der anderen Seite konzentriert. Die Frage der Möglichkeit und Adäquatheit der historischen Abstraktion, Generalisierung und Formalisierung wird an dieser Stelle wieder problematisch, sie sei aber hier nur soweit angedeutet, als sie geeignet ist, die vermeinten Selbstverständlichkeiten dieser Positionen wieder in Fluss zu bringen.

Als ein weiteres Argument gegen den Historismus pflegt man die These ins Feld zu führen, dass Logik und Erkenntnistheorie ein Primat gegenüber einzelwissenschaftlichen Erkenntnissen, wie die der Psychologie und Historie, haben. Man behauptet dann, dass die Genesis (d.h. in unserem Falle die einzelwissenschaftlich historischen Ergebnisse vom steten Wandel der Vernunftgehalte) den prinzipiellen Behauptungen jener systematischen, jede Erkenntnis erst fundierenden Wissenschaften nichts anhaben könne.

Was aber dann, wenn es sich zeigen lässt, dass die Erkenntnistheorie eines Zeitalters nichts anderes enthüllt, als die letzten Voraussetzungen einer Denkstruktur, die in jener Epoche die dominierende war, und dass der Erkenntnistheoretiker und Logiker sich faktisch an der Struktur bestimmter Erfahrungsgebiete des Lebens (z.B. an der der religiösen Erfahrung), oder in wissenschaftlichen Epochen an bestimmten Einzelwissenschaften, die gerade ins Zentrum treten, orientiert? Was dann, wenn es sich zeigen lässt, dass – wie dies bereits heute durchsichtig ist – das Ideal einer ewig identischen Vernunft nichts anderes ist, als der leitende Satz eines (post festum) hinzukonstruierten erkenntnistheoretischen Systems, das seine Erfahrungsgrundlagen aus der Analyse der Denkstruktur der exakten Naturwissenschaften schöpfte? Gerade um die exakten Naturwissenschaften in der Art, wie sie sich geben, zu begründen, musste man eine statische, ewige Gesetze ermöglichende Vernunft hinzukonstruieren,[4] und man wäre zu einer anderen Erkenntnistheorie gekommen, wenn man die dynamischen historischen Gebiete zum Ausgangspunkte gemacht hätte. Schon die zentrale Fragestellung gerade der kantischen Erkenntnistheorie in der Form des „wie ist es möglich?“ (dass es exakte Naturwissenschaften gibt) zeigt zur Genüge, dass die Erkenntnistheorie sich zwar prinzipiell und systematisch als fundierend gibt, faktisch aber und in ihrem strukturellen Aufbau, in ihrer konkret historischen Gestalt abhängig ist von jenen Erkenntnisgebieten, die zur Unterlage ihrer Analysen dienen.[5] Folglich kann man, von gewissen Postulaten ausgehend, die zur Analyse eines Erkenntnisgebietes hinzukonstruiert sind, jene Postulate, die aus der Betrachtung von Strukturen anderer Erkenntnisgebiete sich ergeben, nicht ohne weiteres aus der Welt schaffen.

Und endlich: was dann, wenn sich zeigen lässt, dass der Vorwurf des Relativismus aus einer Philosophie stammt, die eine unvollständige Konzeption von absolut und relativ hat, die wahr und falsch in einer Alternative gegenüberstellt, wie sie sich wohl im Gebiete der sog. exakten Wissenschaften auffinden lässt, während das Gebiet der Geschichte uns zeigt, dass es Erkenntnisse über den gleichen Sachverhalt gibt, die nicht wie wahr und falsch, sondern prinzipiell nur als perspektivische, als standortsgebundene nebeneinandergestellt werden können.

In allen diesen zuletzt erwähnten Bedenken haben wir bereits eine Konfrontierung der letzten Positionen einer statischen Vernunftphilosophie und einer dynamisch-historistischen Lebensphilosophie vorgenommen. Es kommt hierbei nicht so sehr auf Einzelheiten wie darauf an, zu zeigen, wie weitgehend die letzten, systematisch ersten Argumente der beiden Philosophien in einem über- bzw. vorphilosophischen Fundament verankert sind. Die grundlegenden Probleme, ob die Vernunft dynamisch oder statisch zu setzen sei, ob die Erkenntnistheorie strukturell einen Primat gegenüber der Geschichtsphilosophie besitzen könne, ob die letzthinnige Konzeption der Wahrheit, der Gegensatz von absolut und relativ nur eine Gestalt haben könne, also sozusagen die letzten Kriterien, an denen dieser Streit überhaupt entschieden werden könnte, sind bereits von der Grundeinstellung der Wirklichkeit gegenüber und davon abhängig, auf welchen Teil der Wirklichkeitserfassung man sich beruft. Die Differenzen haben übertheoretische Wurzeln, und obzwar man vollständig versteht, was der andere meint, kann man dennoch gerade auf diesen vortheoretischen Grundlagen fußend keine theoretische Vermittlung ohne weiteres finden: dies gilt es zunächst zu sehen,

In einem Punkte hat der Historismus bereits eine unbedingte Überlegenheit dem Gegner gegenüber, und zwar darin, dass er den Kontrast nicht nur in den Gegensätzen der theoretischen Systeme zu erfassen, sondern ihn als solchen der verschiedenen Lebenstotalitäten aufzuweisen vermag. Bisher hatten die theoretischen Streitigkeiten den Blick soweit geschärft, dass man, wenn man uneinig war, die Struktur des eigenen und des fremden Gedankenganges gut genug zu überblicken vermochte, um herausfinden zu können, wo jene letzten theoretischen Ausgangspunkte lagen, die die Verschiedenheit der über denselben Sachverhalt aufstellbaren Einzelbehauptungen bedingten. Der Historist ist in der Lage, und wird es in gesteigertem Maße immer mehr sein, aufzuweisen, welche überphilosophische, vorphilosophische Lebenshaltung, welche dominierenden Substrate des Erlebens diese oder jene „Axiomatik“ bedingen. Dadurch überschreitet eigentlich der Historist die immanente Geschlossenheit der Theorie und wird zugleich mehr oder minder zum „Irrationalisten“ und „Lebensphilosophen“, aber auch dieses Überschreiten eines Gebietes kann ihm nicht ohne weiteres mit Selbstverständlichkeit vorgeworfen werden, wie es jene tun, die sich hierbei auf die Autonomie der Theorie gegenüber den übrigen Sphären, als auf etwas völlig Aproblematisches, berufen.

In der Lehre von der Autonomie der theoretischen Sphäre haben wir also einen weiteren prinzipiellen Gegensatz zwischen historizistischer und nichthistoristischer Philosophie zu erblicken. In der Apodiktizität, mit der man sich auf die Autonomie der theoretischen Sphäre beruft, enthüllt sich nicht so sehr ein sicherer, unantastbarer Posten, als vielmehr einer der als selbstverständlich hingenommenen Ausgangspunkte dieser Philosophie. Dieser Ausgangspunkt (die Lehre von der Autonomie der Theorie) hat aber seine Wurzeln und letzten Grundlagen in einem vortheoretischen Hintergrunde. Als diese Lehre von der Autonomie der Vernunft für die Neuzeit sich konstituierte, drückte sie nur ein Sphärenverhältnis aus, das im damaligen „Lebens- und Kultursystem“ faktisch vorhanden war, das aber keineswegs ein ewiges ist, sondern vielmehr dermaßen stets geschichtlich sich verschiebt, dass man geradezu die tiefste Charakteristik der Kulturbewegung geben würde, wenn man beschriebe, wie sich die einzelnen Lebensgebiete jeweils anders in ihrem Verhältnis zueinander schon den Erleben darbieten. Um die historische, vortheoretische Bedingtheit der Lehre von der Autonomie der Theorie nur zu streifen, wollen wir daran erinnern, dass für das Mittelalter das „ancilla“-Verhältnis der Philosophie und mit ihr einer jeden Theorie gegenüber der Theologie bzw. der hinter ihr stehenden religiösen Sphäre geradezu eine Selbstverständlichkeit war. Dies ist aber keineswegs eine Beschränktheit, sondern eine letzthinnige Formulierung eines Sphärenverhältnisses, das die mittelalterliche Welt charakterisierte und ihre Lebensordnung, beherrschte. Ebenso wie es damals keine autonome Theorie gab, so gab auch keine autonome Ethik, Kunst usw.; sie waren dermaßen in das Religiöse eingebettet, dass man von ihnen als von autonomen Gebieten in demselben Sinne, wie man dies für spätere Zeiten mit Recht tun kann, gar nicht sprechen dürfte. Erst nachdem diese hierarchische Gebundenheit aller Lebenssphären des Mittelalters ihr Zentrum im Religiösen verloren hatte, sehen wir auf allen Gebieten ein Heraustreten zunächst der Lebenssphären selbst aus der vorhergehenden Einheit und Verschmolzenheit, um dann als Abbildung dieses existenziellen Zustandes die verschiedenen Theorien von der Autonomie dieser Sphäre anzutreffen. Die Kunst emanzipiert sich in der Renaissance, um jene Entwicklung zu durchlaufen, die dann letzten Endes in der Idee des l’art pour l’art kulminiert, das ethische Handeln, das zunächst im religiösen Leben und in einem ihm adäquaten metaphysischen System fundiert war, strebt nach Selbstwertigkeit, und genau dasselbe geschieht mit der Philosophie und mit der gesamten „theoretischen Sphäre”, die sich gleichfalls aus dem “ancilla”-Verhältnis gegenüber dem religiösen Zentrum emanzipierte. In der Renaissance beginnt jene Emanzipation der Sphären, in der das lebendige Leben im Handeln, Kunstschaffen, Denken, jene Loslösung wirklich vollzieht, und die Lehre von einer Autonomie der Sphären ist nur eine reflexive Sanktionierung des vollzogenen und durch die Hilfe der Philosophie noch intensiver sich gestaltenden Prozesses. Die sich als neue Wissenschaft konstituierende Ästhetik, die Ethik mit der Lehre von der Autonomie des ethischen Wertes und nicht zuletzt die Lehre von der Autonomie der Theorie gegenüber den übrigen Sphären sind nunmehr normative Fassungen und über zeitliche Hypostasierungen dieses vorreflexiven, an bestimmte Epochen gebundenen Sphärenverhältnisses. Aber gerade auch in diesem Punkte scheint in der gegenwärtigen Gestalt des Lebens ein Wandel sich zu vollziehen. Auf allen Gebieten merken wir (zunächst auf der „ideologischen” Seite ins Auge springend), dass im Gegensatze zu jenen Autonomie setzenden, atomisierenden, analysierenden Tendenzen (drei grundverschiedene Tendenzen, die dennoch etwas Gemeinsames haben) eine Wendung zur Synthese durchdringt. Was der Historismus in den einzelnen kulturhistorischen Gebieten, in der Kunstgeschichte, Religionsgeschichte, Soziologie usw. leistet, indem er diese einzelnen Kulturgebiete nicht mehr in ihrer Immanenz darstellt, sondern sie stets als Teile einer Totalität zu erfassen versucht, wird auch in der neueren Psychologie – um nur ein Beispiel für viele anzuführen – versucht. Auch hier dringt z. B. das Prinzip durch, nicht nur die einzelnen Sinnesgebiete voneinander abgetrennt zu durchforschen, sondern auch den Problemen der Kooperation, der Einheit der sinnlichen Erfahrung auf den Grund zu gehen. Auch hier wird ferner jene analysierende, atomisierende, isolierende Tendenz, die auch die übrigen Wissenschaften beherrschte und die aus einfachsten Elementen die kompliziertesten Gebilde zusammenzustellen strebte, durch die Erfassung des „Komplexen“, der „Totalität“ als etwas Primäreren, Unableitbareren in der Lehre von den „Gestaltwahrnehmungen“ überwunden. Alle diese Beispiele mögen nur als Symptome dafür aufgefasst werden, dass auf der reflexiven („ideologischen“) Seite des Gesamtprozesses gleichgerichtete Erscheinungen auftreten, die den Gedanken auftauchen lassen, ob es sich hier nicht um allgemein-wissenschaftsmethodische Entsprechungen zu jenem Wandel handle, der sich auch in der sozialen Struktur vollzieht. Entsprach die atomisierende, sphärentrennende Denkweise einer sozialen Struktur, die eine maximale Auflösung der gesellschaftlichen Bindungen bedeutete und eine Wirtschaft der liberalistisch freigelegten, atomisierten Einzelkräfte aufwies, so ist die gegenwärtige Wendung zur Synthese, zur Totalitätsforschung ein reflexives sich Durchsetzen einer Kategorie, die auch existenziell unsere soziale Wirklichkeit kollektivistischer gestaltet. Und es würde wohl möglich sein, dass dieses neuerdings lebendig werdende Bestreben, die in der vorangehenden Epoche durchgeführte Isolierung der Sphären wieder in die Totalität des Geistig-Seelischen zurückzuführen und die schroffen Trennungsstriche zwischen ihnen aufzulösen, einem Wandel im Gesamtverhalten entspricht. Auch hier ist also – soweit dies heute bereits zu überblicken ist – der veränderte Weltzustand die Grundlage für die über ihm sich aufbauende Theorie, und eine Lehre von der Autonomie der Theorie enthüllt sich vor den Augen des Soziologen des Erkennens und vor dem Geschichtsphilosophen als genauso an den geschichtsphilosophischen Standort und an dessen „Lebensunterlage” gebunden wie die früher erwähnten, ins Zeitlose hypostasierten Ausgangspunkte der Vernunftphilosophie. Mit diesen Hinweisen auf die letzthinnige Verbundenheit der jeweiligen theoretischen „Axiomatik“ mit der Gesamtstruktur der jeweiligen Lebens- und Kulturtotalität wollen wir nicht den bleibenden Kern dieser Lehren schlankweg verneinen, denn bei einer letzthinnigen Klärung dieser Probleme müsste noch bedacht werden, ob die Ergebnisse einer Strukturanalyse und eine Herausstellung der geschichtsphilosophisch-soziologischen Gebundenheit der Theorie ohne weiteres deren systematischen Geltungssinn begründen bzw. entgründen können. Uns kam es hier in erster Reihe darauf an, eine letzthinnige Konfrontierung der heute sich radikal gegenüberstehenden Theorien, einer als überzeitlich sich konstituierenden Vernunftphilosophie einerseits, und einer dynamisch angelegten historistischen Ansicht des Gesamtprozesses andererseits, auf ihre prinzipiellsten Voraussetzungen hin vorzunehmen. Es sollte hierbei gezeigt werden, wie die letzten Stützpunkte der möglichen Argumentationen mit der Alternative statisch und dynamisch organisch zusammenhängen, wie eine statische Konzeption der Vernunft verwachsen ist mit der Lehre von der Autonomie der Theorie, wie zugleich die Sicherung des Primats der Erkenntnistheorie von einer anderen Seite dieselbe Position ausbaut und wie hierzu zugleich eine eigentümliche schroffe (am Erfahren des Historischen nicht differenzierte) Alternative zwischen absolut und relativ bzw. eine völlige Auseinanderreißung des Verhältnisses von Zeitlichem und Überzeitlichem gehört. Andererseits sollte es auch sichtbar werden, wie für ein dynamisches Denken alle diese Positionen, die vom statischen Denken her in einen in seinen Bestandteilen sich gegenseitig stützenden Kreis der Argumente zusammenschließen und als solche als selbstverständlich hingenommen werden, gerade in ihren Ausgangspunkten wieder zum Problem werden. Indem man nicht mehr von einer statischen Vernunft, sondern von einer dynamischen, werdenden Totalität des gesamten geistig-seelischen Lebens, als vom letzthinnig Gegebenen, ausgeht, tritt an die Stelle der Erkenntnistheorie als Grundwissenschaft die Geschichtsphilosophie als dynamische Metaphysik, und alle Fundierungsverhältnisse ordnen sich neu um diesen Ausgangspunkt herum, und was bisher als aproblematisch hingenommen wurde, wird dadurch von Neuem zum Problem.

 

2. Die Ausgangspunkte einer Theorie des Historismus

(Troeltsch) Alle diese Gedankengänge mussten wir vorausschicken, um bei der Beurteilung des gegenwärtigen Standes des Historismus klar zu sehen, worauf es ankommt, und nicht das Zentrale durch Detailfragen zu verdecken. Es war unbedingt nötig, jene letzten Gegensätze zu formulieren und zu konfrontieren, die im gegenwärtigen noch ziemlich chaotischen Zustande der Überlegungen über diesen Gegenstand oft verbogen, verdeckt oder auch gar nicht gesehen werden. Es ist um so wichtiger, in diesen Fragen klar zu sehen, als das Problem einer adäquaten Fundierung der Geisteswissenschaften, insbesondere der Soziologie damit zusammenhängt.

Wollen wir nun, von diesen Vorfragen ausgehend, den gegenwärtigen Stand der Philosophie des Historismus konkret ins Auge fassen und ihn an der vorhandenen Leistung untersuchen, so bietet sich dazu eine Gelegenheit in einer Analyse des letzten Werkes von Troeltsch, das ausdrücklich dem Problem des Historismus gewidmet ist.[6] Sowohl die geistige Gestalt des Verfassers mit allen ihren Vorzügen und ihren Grenzen wie auch das Werk in seiner objektiven Handhabung des Problems sind charakteristisch für das gegenwärtige Stadium der historistischen Geistesverfassung und Theorie.

Troeltsch repräsentiert einen Typus des Geisteswissenschaftlers, der, durchdrungen von einem Lebensdurst, die in der letzten Epoche zum großen Teil spezialistisch gewordene Geschichtsforschung zur Synthese überleiten möchte. Keineswegs ist es eine ruhige, klare, von allen Seiten abgegrenzte Problemstellung und Aufgabenbeschränkung, was er uns bietet, sondern das Fluten und Übergehen der einzelnen Detailprobleme in umfassendere und ihr Verbundensein mit der Lebenstotalität ist es, was ihn interessiert. Dadurch kommt eine stets fluktuierende Unruhe in seine Ausführungen, ein Häufen der Fragen, ein Imstichelassen des einmal Herausgegriffenen, ein Vermengen der historischen Probleme mit systematischen Interessen.

Alles, Fehler und Tugenden zugleich. Er will aber nicht mehr die glückliche Insel der Zurückgezogenheit eines Gelehrtentypus, der, vom Leben abgewandt, unpolitisch,[7] unaktiv, in der scheinbaren Ordnung einer ausgereiften Welt seinen Detailproblemen nachgeht und sein Teilleben führt. Er will mitten drin stehen und die Linien seines theoretischen Interesses mit den Leiden einer aufgewühlten Welt verbinden. Daraus entsteht manchmal eine Sucht, das Aller neuste sofort auszusprechen, ein Spähen und Spüren nach noch nicht Dagewesenem; er ist der Journalist der Wissenschaft (dies im guten Sinne des Wortes gemeint), indem er Aktualität und Wissen in Hast verbindet, mit Feingefühl auch das Tiefe ergreift, aber sofort, noch unausgereift, einer Objektivation entgegentreibt. Er scheint die soziologisch bedingte geistige Spaltung im deutschen Denken der Gegenwart zwischen einem geistreichen, oft sehr tiefen freien Gelehrten- und Ästhetentum, das aber häufig in seiner äußeren und inneren Ungebundenheit ins Unkontrollierbare sich verläuft, einerseits, und einem an ein Lehramt gebundenen, den Stoff beherrschenden, aber dem lebendigen Zentrum der Gegenwart fernen Gelehrtentum andererseits in sich wieder vereinigen zu wollen – eine Synthese, die an und für sich nötig ist. (Vgl. hierzu seinen im Vorwort ausgesprochenen Standpunkt.)

An einem solchen Versuch geht zwar die Innerlichkeit zugrunde, man könnte aber sein inneres Schicksal, den Sinn seines Tuns mit den Worten umschreiben: er hatte sein Bestes geopfert, weil er nicht besser sein wollte als man heute – will man in die Gegenwart wirklich lebendig sich verankern – überhaupt sein kann. Bereits hierin, in dieser Form des Schaffens und in dieser unausgesprochenen Lebenshaltung wirkt sich die neue Funktion der Zeitlichkeit aus. Man fühlt sich nicht mehr, wie einst, in „absolute Situationen“ versetzt, als wäre für alle Zeiten ein eindeutig bestimmbares Ewiges die höchste Tugend. Man könnte zwar von früheren Standorten aus, deren Rudimente heute noch mehr oder minder lebendig sind, ein in sich geschlossenes unscheltbares Leben führen, aber die Belastung, die aus der Gegenwartssituation erwächst, einmal in uns eingegangen, erlaubt nunmehr nur ein Zuendegehen. Man wühlt dadurch allmählich unter sich alle Fundamente auf, und es bleibt nur übrig, das Ewige in den unmittelbarsten Zeitaufgaben zu erfassen. Es ist ein Mitsündigen des Propheten, des Führers, aber es ist vielleicht der Weg, dass durch die Radikalität der Hingabe das zeitlich Bedingte sich selbst überwindet.

Durch all dies, durch die Unbeschränktheit und Maßlosigkeit kommt etwas Enzyklopädisches in seine Darstellungen, eine Universalität im Wissen, eine Breite der Gesichtspunkte; das Globetrottertum des gegenwärtigen Menschen wirkt sich immer mehr auch in der Druchwanderung der Vergangenheit aus. Ein jedes Problem wird zugleich historisch und systematisch gestellt, man ist aber nie ganz auf die Frage, auf den Gegensatz gerichtet, man will stets die Voraussetzungen wissen, und dieses im zweifachen Sinne: die historischen und die systematischen. Die Unruhe, sich selbst zu transzendieren, das stete Streben, sich hinter seinen eigenen Rücken zu stellen, das die neuzeitliche Erkenntnistheorie und Historie zugleich erschaffen hatte, trachtet hier sich zu einer Einheit zu verbinden.

So wird denn auch der Historismus, dessen Darstellung das Buch sein will, von zwei Seiten erfasst, von der Seite seiner systematischen Probleme und von der Seite der Geschichte dieser Probleme. Das Buch ist auf diese Weise ein Beitrag zur Geschichte des Werdens der Geisteswissenschaften. Der Historismus hat ein Interesse daran, sich in seinem Hervortreten und Entstehen zu sehen: dieser Werdegang wird aber nicht in voller epischer Breite erzählt, sondern nur in bezug auf die auch systematisch von Wichtigkeit erscheinenden Probleme, und zwar werden zwei von diesen als repräsentativ dargestellt: a) die Geschichte des Ringens um einen Maßstab bei der Beurteilung historischer Dinge, b) die Geschichte des Entwicklungsbegriffes.

Bei der Behandlung der ersten Fragestellung sehen wir das Werden des erkenntnistheoretischen Problems, das mit der historischen Arbeit mitgegeben ist, die zweite stellt uns eine wichtige logische Kategorie in ihrem historischen Werden dar. In der ersten Untersuchung wird es sichtbar, wie das Wert- und Erkenntnisproblem gerade durch die Zugrundelegung der geschichtlichen Erkenntnis ein ganz neues Gesicht bekommt, und in Gegensatz zu den Ergebnissen einer, dem Wesen nach, naturwissenschaftlich orientierten Erkenntnistheorie tritt. In der zweiten Untersuchung wird es historisch sichtbar, wie kategoriale Begriffe in verschiedenen Kulturkörpern und verschiedenen Kulturkontinuitäten innerhalb derselben Disziplin sich anders gestalten können. Es wird hier der fundamentale Gegensatz zwischen westlicher Geschichtsphilosophie und der deutschen an der Hand einer grundlegenden Kategorie, der Entwicklungskonzeption, aufgezeigt. Hatte sich in der westlichen Wissenschaft das „atomisierende“ und kausal verbindende Verfahren allmählich auch in der Bearbeitung der Geschichte und Soziologie durchgesetzt, so ist die Kategorie der „individuellen Totalität“ und die Entwicklung, als Dialektik gefasst, eine Grundform der Betrachtung in der deutschen Geschichtsphilosophie. Man sieht hier also Grundformen des Denkens und Erkennens (also auch die logische Sphäre bis zu einem gewissen Grade) hinein, bezogen in den jeweiligen Geschichtskörper. Die geschichtsphilosophische Vision konkretisiert sich ungemein durch solche Analysen. Eine nicht nur programmatische Behauptung, sondern eine am wissenschaftlichen Stoff bewahrheitete Untersuchung über die Geschichte eines kategorialen Begriffes, des Entwicklungsbegriffes, führt uns vor Augen, wie und wie weit auch die Geisteswissenschaften und auch ihre logischen Formen kulturkörperhaft und standortsmäßig gebunden sind. Keine von der die Vernunft ins Überzeitliche verabsolutierenden Philosophien, die ihr Augenmerk starr auf die Selbstgleichheit dieser Vernunft und auf die utopische Region der überhistorischen Wahrheiten und Werte an sich richten, kann ein wesentliches Interesse für das Werden dieser Wahrheiten, für das Hervortreten dieser Wahrheiten und ihrer kategorialen Begriffe aus dem Geschichtsprozess haben. Alles steht ja für sie in der schroffen Alternative von wahr und falsch da, wobei alles, woran Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit haftet, eo ipso falsch ist. Nur der Historismus, der die Wahrheit in der Geschichte selbst aufsucht, der auch der Verbindung zwischen Sein und Wert nachspäht, kann ein echtes Interesse für die Probleme der Denkgeschichte und Denksoziologie haben.

Für den unhistorischen, die Wahrheit in eine Überzeitlichkeit verabsolutierenden Denker rücken alle gewesenen Systeme auf dieselbe Ebene und werden von einem System (nämlich vom eigenen, das stets in solchen Fällen zur absoluten Wahrheit hypostasiert wird) aus rezipiert oder verworfen. Bei diesem Verfahren merkt man dann gar nicht, dass in jenem Sinne, wie man hierbei mit vergangenen Systemen umgeht, gar keine Konfrontierbarkeit eigentlich vorhanden ist. Hat ein früherer Philosoph, Plato, Augustinus oder Cusanus, etwas den heutigen Thesen scheinbar verwandtes behauptet, so hat er – wenn man näher zusieht – stets etwas anderes gemeint, weil ein jeder Satz, eine jede Denkform in ihrem System – noch weiter: – in ihrer Lebenstotalität notwendigerweise eine andere Funktion und aus dieser heraus einen anderen Sinn haben musste.

Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, gerade den historischen Teil des Werkes ausführlich darzustellen, vielmehr interessiert uns in unserem Zusammenhange, zu welchen konkreten Positionen der systematische Teil der Arbeit gelangt, um daraus zumindest die Umrisse einer Philosophie und Erkenntnistheorie kennenzulernen, die zu ihrer Unterlage nicht die exakten Naturwissenschaften, sondern die Historie hat. Auch bei dieser Darstellung wollen wir nicht ins einzelne gehen, sondern die letzten Stellungnahmen herausarbeiten.

Wir wollen bei der Lehre Troeltschs über das Geschichte erkennende Subjekt einsetzen. Hier erweist sich bereits der erste Gegensatz zur Philosophie Kants und seiner gegenwärtigen Nachfolger, die Kontemplation und Praxis voneinander und das erkennende Subjekt vom Gesamt-Ich schroff trennen, Troeltsch lehrt die nicht reine Kontemplativität des Subjektes, das die Historie erkennt. Es handelt sich aber hierbei nicht um die Vermengung des psychologischen und des erkenntnistheoretischen Subjektes. Im Kantianismus ist das erkennende Subjekt, das sog. erkenntnistheoretische Subjekt vollständig herausgelöst aus allen konkreten Wollungen und der Gesamtkonstellation des historisch bedingten Seelenlebens. Als solches ist es selbstverständlich Produkt einer weitgehenden Abstraktion, eine bewusste Konstruktion. Es ist u.E., seiner Struktur nach, ein zu den rein theoretisch gefassten, allen örtlichen und zeitlichen Bestimmungen gegenüber erhabenen Denkergebnissen hinzukonstruiertes, subjektives Korrelat. Da die exakten Naturwissenschaften in der Tat solche Sätze aufstellen können, in deren Gehalt die geschichtlich-örtliche Bedingtheit des erkennenden Subjektes und dessen besondere Willensrichtung nicht hineinragt, ist hier die Konstruktion eines entsprechend abstrakten (von allen historischen Bedingtheiten freien) Subjektes wohl erlaubt. Nimmt man aber zur Unterlage der Subkonstruktion die Struktur der Urteile und Aussagen des Historikers, so muss man in allen wesentlichen Fragen zu anderen Ergebnissen gelangen. Es ist kein Satz über die Historie aufstellbar, in dessen Gehalt nicht die geschichtsphilosophische Determiniertheit des betrachtenden Subjektes hineinragte. Nicht etwa im Sinne der bloßen Stellungnahme des Bejahens oder des Bekämpfens dessen, wovon er berichtet, sondern in die Kategorien der Gegenstandserfassung, in das Auswahlprinzip und dessen Richtung ragt der geschichtsphilosophische Standort des Betrachters hinein. Um dies ganz verständlich zu machen, ein einfaches Beispiel: Aus dem Gehalte eines mathematischen Satzes ist es nicht ablesbar, wann und wo er gedacht wurde, demgegenüber wird ein jeder Kenner der Historiographie von irgendwelcher ihm vorgelegten Geschichtsbetrachtung feststellen können, in welcher Epoche, von welchem Standort aus, aus welchen konkreten Kulturwollungen heraus die betreffende, rein sachliche Darstellung geschrieben ist. Und dies wieder nicht in dem bloß trivialen Sinne der Stellungnahme, wo diese nichts mehr bedeuten soll als Bejahen und Verneinen, sondern im Sinne der konstitutiven Kategorien der Gegenstandserfassung. Ein Positivist, ein Anhänger der historischen Schule, ein Hegelianer, ein Marxist werden jeweils ein anderes Auswahlprinzip und eine andere Verknüpfungsform (Kategorie) für die Darstellung besitzen, die mit dem jeweils besonderen geschichtsphilosophischen Standorte verbunden sind. Also nicht nur die Wertbeziehung auf formale Werte überhaupt (wie Kunst, Wissenschaft, Religion usw.) bedingt die Auswahl und Darstellung, sondern ganz konkrete, historisch determinierte inhaltliche Erfüllungen derselben ragen in die Struktur der historischen Aussagen hinein. Man kann aber eine konkrete Methodologie der Geschichte gar nicht leisten, wenn man so weit formalisiert, dass man von den Momenten, die den wesentlichen Unterschied dieser Erkenntnisart bedingen, völlig abstrahiert. Diese interpretativen und die Troeltschschen Ausführungen bereits in vielem ergänzenden Bemerkungen mussten wir vorausschicken, wenn wir seine zentrale Behauptung, dass Geschichtserkenntnis erst möglich wird von einem fixierbaren, geistigen Standorte (S. 116, 169), von einem die Zukunft wollenden, auf sie aktiv hinstrebenden Subjekte aus, uns klarmachen wollen. Nur aus den Interessen, die das gegenwärtig handelnde Subjekt an der Zukunftsgestaltung nimmt, ist die Betrachtung der Vergangenheit erst möglich, nur aus der Richtung der gegenwärtigen Aktivität ist die Richtung der historischen Auswahl, die Form der Objektivierung und Darstellung erst verstehbar. Das ist der letzte Sinn und das sind die Konsequenzen dessen, was Troeltsch unter dem Begriff der „gegenwärtigen Kultursynthese“ versteht (S. 164 bis 179).

Aber dieses historische Subjekt, das die Gegenwartssynthese (d.h, die produktive Verknüpfung jener Tendenzen der Gegenwart, die dem aktiven Menschen wünschenswert und zugleich neuschöpferisch erscheinen) will, darf u. E. keineswegs mit dem zufälligen subjektiv-empirisch bedingten Ich des Geschichtsforschers identifiziert werden, sondern es steht eben zwischen diesem und dem rein über zeitlichen Subjekt der Kantischen Erkenntnistheorie. Das geschichtsphilosophisch relevante Subjekt ist allein jener Kern im Menschen, dessen Gehalte und Wollungen mit den die Geschichte tragen den Tendenzen verwachsen sind. Dies sei nur als Ergänzung, aber offenbar im Sinne Troeltschs, zu seinen diesbezüglichen Darlegungen hinzugefügt. Durch eine solche, auf ähnlichen Prämissen beruhende Verbindung des Auswahlprinzips und der Objektivität mit den aktuellen konkreten Wollungen des Gegenwartsmenschen wird die Utopie eines überzeitlichen Systems der Maßstäbe und Werte selbstverständlich geleugnet und die wesenhafte Verbindung von Maßstab und gegenwärtiger Kultursynthese geradezu zur Achse der Geschichtstheorie gemacht. Es wird dadurch die Objektivitätsproblematik dieser Wissenschaft auf eine Ebene tiefer, der konkreten Forschung näher gestellt, aus der luftleeren Dünnschicht der formalen Wertbeziehung überhaupt, wo die wesentlichen Differenzen zwischen Historie und Naturwissenschaft noch gar nicht in ihrer Fülle zur Geltung kommen können, in die Sphäre der materialerfüllten Wertungen gebracht. Es wird dadurch die Objektivitätsproblematik schwieriger und komplizierter, man gewinnt aber die Möglichkeit, eine Fülle der wesentlich bezeichnenden Momente der Geschichtserkenntnis in die Charakteristik hineinzubeziehen.

Durch dieses Näherrücken der methodologisch-erkenntnistheoretischen Problematik an die konkrete Gestalt der historischen Forschung werden mit einem Schlage Probleme sichtbar gemacht, die jenem in der abstrakten Höhe absoluter Formalisierung gelagerten Gesichtspunkt entschwinden mussten. Es wird zunächst a/ die Bedeutung der praktischen außertheoretischen Wollungen für die Erkenntnis in die Fragestellung hineinbezogen. Es wird dadurch der Punkt aufgewiesen, wo in der Geschichtserkenntnis die rationale Durchleuchtbarkeit des Gewesenen mit den vorwärtstastenden, zunächst ahnunghaften, irrationalen geistig-seelischen Potenzen des Gesamtmenschen und dessen Tat zusammenhängt. Dieser Zusammenhang wird nicht als Fehlerquelle zur Seite geschoben, sondern als Konstituens, als Bedingung der Möglichkeit in die Charakteristik mitaufgenommen. Es wird dadurch ferner b/ die geschichtsphilosophische (soziologische) Standortsgebundenheit jeder historischen Erkenntnis (deren Konsequenz ist, dass das Geschichtsbild der Vergangenheit sich mit einer jeden Epoche verändert) aufweisbar und einschätzbar. Es wird klar, dass und welch ein inniger Zirkel zwischen Wollen und Erkennen besteht, wie sie gleichsam Teile derselben Totalität sind: denn, indem der Gegenwartsmensch nur erkennen will, um seine überrationalen Wollungen zu klären, gestaltet er durch seine scheinbar reine Kontemplativität bereits die Gegenwart, wodurch die Kontemplativität zugleich Aktivität ist; andererseits ist dieses konkrete Zukunftwollen Quell, aber auch Grenze zugleich dafür, was aus der Vergangenheit und in welcher Form für eine Epoche überhaupt sichtbar wird.

Durch alle diese Erkenntnisse ist eigentlich nichts anderes getan als die faktische Struktur, an der eine Philosophie vom Gesichtswinkel der naturwissenschaftlichen Orientierung ein Desinteressement bekunden und einen auszumerzenden Rest geben musste, freigelegt und ihrem Wesen nach beschrieben. Das Faktum, dass die Geschichte – sofern sie über Quellenkritik hinausgeht – immer neugeschrieben werden muss – nicht im Sinne einer Korrektur, sondern im Sinne einer neuen Gesamtorientierung – und dass Geschichte ihre Prinzipien, Gesichtspunkte und Maßstäbe aus der jeweiligen Gegenwartssynthese schöpft, wird hier einfach zum wissenschaftstheoretischen Prinzip der Geschichtswissenschaft erhoben. Wir wollen aber gerade hier betonen, was wir bereits einleitend gesagt haben, dass die Erkenntnistheorie – sofern man sie auf ihren inneren Bau hin betrachtet – stets eben nur dies zu leisten vermag. Wie einst Kant die kritische Frage auch nur in der Form zu stellen vermochte: die exakten Wissenschaften sind uns gegeben, wie sind sie möglich? – und alles, was er in dieser Beziehung außerdem geleistet hat, von diesem Zentrum aus als Herausschälung aller jener Voraussetzungen, die mit einer solchen Art von Erkenntnis unausgesprochen mitgegeben sind, verstehbar wird, und seine Kritik in dieser Beleuchtung nicht so sehr Kritik als nachträgliche Rechtfertigung der vorausgesetzten Geltung ist, so ist auch die bei Troeltsch unausgesprochene, aber dem Wesen nach dennoch konforme Position des Erkenntnistheoretikers, der die Geschichtswissenschaft zur Unterlage seiner Reflexionen wählt dieselbe: auch er sagt, die Geschichtserkenntnis ist uns ihrer innersten Struktur nach so und so (wie eben beschrieben) gegeben, wir müssen sie als geltende, d.h. als erkenntnisbietende hinnehmen; wie, auf Grund welcher Voraussetzungen ist sie möglich? Dass die adäquaten Voraussetzungen hier anders ausfallen, haben wir gesehen.

Man könnte nun meinen, dass aus den an den Pragmatismus gemahnenden Prinzipien dieser Erkenntnistheorie eine Lehre von der Relativität aller historischen Erkenntnis folgen müsste. Es erfolgt aber gerade an diesem Punkte jene Wendung, die den Historismus aus dem Relativismus herausführt. Aus dem bloßen Faktum der Standortsgebundenheit einer jeden historischen Erkenntnis und aus der innigen Verbundenheit des jeweiligen Geschichtsbildes mit den aktuellen Wollungen und konkreten Werten folgt keineswegs die Relativität der gewonnenen Erkenntnis. Sind doch zunächst die als Maßstab dienen den konkreten Werte in ihrer inhaltlichen Fülle organisch aus demselben Geschichtsprozess erwachsen, den sie zu erfassen helfen müssen. Es besteht also eine geheime Verbindung (S. 183) zwischen dem Denken und dem Realen – die wesenhafte Identität des Subjektes und Objektes. Daraus folgt zwar eine Beschränkung der Anwendbarkeit der Gesichtspunkte und Maßstäbe auf den eigenen Kulturkreis, auf jenen Teil der Vergangenheit, auf den Geschichtskörper, aus dem die Gegenwartswerte erwachsen sind – und diese Konsequenz zieht Troeltsch in der Tat (S. 75, 171). Es bleibt aber noch immer die Frage, was man zur Tatsache der verschiedenen Geschichtsbilder der einzelnen Epochen in bezug auf den gleichen historischen Abschnitt sagen soll. Zunächst führt Troeltsch hier einen Gedanken ein, den wir bisher noch nicht erwähnt haben, nämlich den, dass außer der Maßstabsbildung vom historischen Standorte des Betrachters aus, auch eine Messung und Darstellung der vergangenen Epochen auf Grund ihrer eigenen Maßstäbe und Werte möglich ist (S. 117, 177). Diese Charakteristik der historischen Erkenntnis ist auch zutreffend. In der Tat gibt es in der Geschichtsschreibung ein Erfassen der Epochen aus ihren eigenen Zentren heraus, das, was man immanente Kritik und Darstellung der Vergangenheit nennt. Die Möglichkeit dazu bietet das Verstehen als eine intuitive Fähigkeit des Historikers, die ihm ein Eindringen in seinen Gegenstand, in die konkreten Wertungen der zu behandelnden Epoche in einem Grade ermöglicht, wie uns dies gegenüber der Natur versagt ist. Dieses Kapitel des historischen Erkennens bildet also in diesem Zusammenhange keine besondere Schwierigkeit; es bleibt aber die Zuerst erwähnte Maßstabsbildung problematisch, die noch immer eine Reihe der verschiedensten Geschichtsdarstellungen über denselben Gegenstand zulässt. Dieser Teil des Problems wird bei Troeltsch keineswegs mit genügender Schärfe erfasst, aber gelegentliche Andeutungen lassen die Richtung der Lösung erraten. Er sagt an einer Stelle: „Der historische Gegenstand in seiner konkreten Anschaulichkeit und kritischen Begründetheit bleibt immer derselbe, und man kann nur glauben, tiefer oder von anderen Seiten her in ihn einzudringen“ (S. 43). So weist dieser Satz, wenn auch nicht genügend klar, auf die Möglichkeit der Bewältigung der hier entwickelten Problematik hin. Der historische Gegenstand der geschichtliche Gehalt etwa einer Epoche) ist in seinem Ansichsein identisch, es gehört aber zum Wesen seiner Erfahrbarkeit, dass er nur von verschiedenen historisch-geistigen Standorten, gleichsam in Aspekten, erfassbar ist. Der Feststellung von Husserl[8] – dass es zum Wesen des Raumdinges gehört, nur in „Abschattungen“, d. h. von gewissen örtlichen Standorten aus, sichtbar und daher jeweils nur von gewissen Seiten und in gewissen Perspektiven erfassbar zu sein – analog, könnte man u. E, die These aufstellen, dass es zum Wesen eines historisch-geistigen und auch seelischen Gehaltes gehört, nur in „geistigen und seelischen Abschattungen“, d. h. jeweils nur in gewissen Durchschnitten und Tiefendimensionen durchdringbar zu sein, die in ihrer Eigenart vom geistig seelischen Standorte des betrachten den, interpretierenden Subjektes abhängen.

Die verschiedenen Geschichtsbilder widersprechen sich nicht in ihren Deutungen, sondern umkreisen nur denselben, anschaulich identisch gegebenen historischen Gehalt von verschiedenen Standorten und Tiefpunkten aus. Diese Theorie, zu Ende gedacht, müsste dazu führen, dass man nachweist, wie in den verschiedenen Geschichtsbildern ein „Fortschritt“ (der nicht unbedingt geradlinig sein muss) zu verzeichnen ist. Ausführliche Darlegungen in diesem Sinne vermisst man bei Troeltsch. Sie würden eine ausgebaute Dialektik erheischen;[9] die fehlt aber. Wir erhalten an ihrer Stelle den Versuch einer Periodisierung des Geschichtsprozesses (vgl. Kapitel 4), der, so anregend er auch sein mag, den Sinn und Wert der Standorte keineswegs hierarchisch bestimmen kann. Es bleibt aber ein Erfordernis, wenn man in die Geschichtsphilosophie den Primat verlegt, dass sie nicht nur eine genetische, sondern auch eine sinngenetische Stufenfolge der Werdegestaltungen entdeckt, dass sie in irgendeiner Weise das statische Maßstabssystem in ein dynamisches Maßstabssystem verwandelt.

Sieht man sich nach den Möglichkeiten um, die in der bisherigen Gestaltung des historischen Gedankens, aus den Tendenzen des Historischen selbst, sich bieten könnten, so merkt man sofort zwei grundlegend verschiedene, auf dasselbe Ziel gerichtete Bestrebungen. In klarer Gegensätzlichkeit tauchten sie zuerst in der Verschiedenheit der Hegelschen Dialektik und der Methode der „historischen Schule“ auf und leben – in manchen Problemen auch heute – in der Differenz der Formdenker (wie Troeltsch sie nennt) und der Lebensphilosophen weiter. Auf eine Formel gebracht, drückt sich der Unterschied zwischen den beiden Richtungen darin aus, dass die einen das metaphysische Substrat des Weltgeschehens „Leben“, die anderen „Geist“ nennen. Geist und Leben deuten auf zwei grundverschiedene Arten der Welterfahrung hin, auf zwei grundlegend verschiedene Einstellungen zum letzten Geheimnis, dass durch ein jedes Ereignis hindurchschimmert. Rationalismus und Irrationalismus, Konstruktion und Intuition, Begriff und Anschauung werden schlagwortmäßig gegeneinander ausgespielt. Man kann es verfolgen, sie der gegenwärtige Zentralbegriff der Lebensphilosophie in der Arbeit der historischen Schule sich herauskristallisiert[10] und wie andererseits in den Geschichtskonstruktionen des Marxismus die Hegelsche dialektische Geistkonzeption weiterlebt und gestärkt zum Durchbruch gelangt.[11]

Der grundlegende Gegensatz zwischen „Hegelianern“ und der „Historischen Schule“, zwischen den gegenwärtig eher rationalistisch eingestellte Geschichtsphilosophen einerseits, und den Lebensphilosophen andererseits ist aber am handgreiflichsten in ihrem Verhältnis zum Begriff aufweisbar.[12] Während für den Hegelianer, den Logisten das Wesen des Weltprozesses selbst Begriff ist und deshalb in der dialektischen Bewegung der Begriffe die Grundbewegung des Geistes nachzeichenbar ist, ist für den Irrationalisten und intuitiven Denker die Grundbewegung des Lebens aus seinen Äußerungen nur erschaubar und etwa in „beschreibenden Begriffen“ erfassbar bzw. in ihrer Gestalt[13] auch darstellbar. Es ist bereits daraus ersichtlich, dass die zuletzt erwähnte Position zu der Herausarbeitung neuer Begriffstypen führt und dass durch sie zu den bereits bekannten Typen des „Gesetzbegriffes“, des „Gattungsbegriffes“ usw. die „deskriptiven Begriffe“ in ihrer Bedeutung bei Husserl[14] hinzutreten, sowie (in geschichtsphilosophischer Anwendung) die anschaulichen Begriffe der „individuellen Totalität“ im Troeltschschen Sinne (S. 36 ff.), die er dahin neu charakterisiert, dass in ihnen nach ihm stets ein Rest von Anschauung unaufgelöst bewahrt bleibt. Durch solche Begriffe gelingt es, alle Äußerungen eines Lebenszusammenhanges als Dokumentation derselben historisch individualisierten Totalität darzustellen. Die Leistungsfähigkeit, aber auch die Grenzen der Leistungsfähigkeit beider Methoden sieht bereits Troeltsch in seiner historischen Darstellung. Die Hegelsche Dialektik logisiert zu sehr die Geschichte, verwandelt alle irrationalen Gehalte künstlich in logische und in ihrem spezifischen Dreitakt von Thesis, Antithesis und Synthesis schematisiert sie das gesamte Wachstum, was nur durch Vergewaltigung desselben möglich ist (S. 273 ff.). Die Irrationalisten dagegen, z. B. die Anhänger der historischen Schule – so sehr sie den geheimen organischen Zusammenhang zwischen den einzelnen Lebenssphären in einer Epoche anschaulich darzustellen imstande sind –, sind nur in der Lage, abgetrennte Bilder von Epochen („Volksgeistern“) zu entwerfen, empfinden aber nicht einmal das Bedürfnis, diese isolierten Bilder zur Werdeeinheit einer Entwicklung zusammenzufassen (s. 277 ff.). Wir sahen aber, wie sehr es für den Historismus eine Lebensfrage ist, trotz der anschaulichen Verschiedenheit der einzelnen Epochen als individueller Totalitäten, sie zu einer sinnvoll abgestuften Entwicklungstotalität zu verbinden. Andererseits scheint es ein für allemal als Resultat der irrationalistischen Strömungen, zu denen neben den Leistungen der historischen Schule auch die Philosophen, wie Schopenhauer, Nietzsche, Bergson, Dilthey, Simmel und die modernen Phänomenologen usw. hinzu kommen, festzustehen, dass es unmöglich geworden ist, einen begrifflichen Schematismus, wie etwa die Hegelsche Triade, als geschichtsphilosophisches Gerüst der Geschichte auf zu zwingen, wie denn auch das Wiedererwachen der Geschichtsphilosophie aus ihrem Versenktsein in die Geschichtswissenschaft nur im allerengsten Kontakt mit der historischen Empirie erfolgen kann. Geschichtsphilosophie kann nicht bedeuten eine Deduktion aus einem Prinzip, Vergewaltigung der Tatsachen, sondern nur die bewusste Herausarbeitung der Einheit der tiefsten Zusammenhänge in der Geschichte. In diesem Sinne bleibt aber die Forderung einer Dialektik als eines hierarchisch abgestuften dynamischen Maßstabssystems für die rationalisierbaren Gebiete bestehen.

Dass Troeltsch die Verbindung der beiden Wege suchte, ist aus seinen Bemerkungen, durch die er die verschiedenen Versuche zur Findung des Entwicklungsbegriffes begleitet und kommentiert, oft anzunehmen. Wie er aber um eine konkret aus gebaute „Dialektik“ herumkommen kann, wie plötzlich im vorhandenen Teil seines Werkes an Stelle des „Entwicklungsgedankens“ der Gedanke des „Aufbaues der Geschichte“, und noch enger gefasst, ein bloßer „Plan der Periodisierung“ einzuspringen vermag, ist zumindest für uns nicht ganz durchsichtig. Das Werk ist allenfalls ein Torso geblieben, ein erster Band, dem die Fortsetzung fehlt; man kann also nichts Sicheres behaupten, aber auch der zweite Band hätte diesbezüglich kaum etwas wesentlich Neues gebracht.[15]

Troeltsch war derjenige, der u. E. die richtigen Ansatzpunkte zu einer Theorie des Historismus gefunden hat. Es ist überraschend, wie die wesentlichen Gedanken seines umfangreichen Werkes bereits in einem ungefähr vor 20 Jahren veröffentlichten Aufsatze über „Moderne Geschichtsphilosophie“[16] aufzufinden sind; um so auffallender ist es aber, wie verhältnismässig wenig die Verarbeitung der ungeheuren Stoffmassen die prinzipiell letzte Lösung durchsichtiger zu gestalten imstande war. Es scheint diesmal bereits zum dritten Male zu geschehen, dass der Versuch, eine eigene Geschichtsphilosophie auszubauen, jeweils in „Dogmengeschichten“ der geschichtsphilosophischen und soziologischen Lehrmeinungen einmündet bzw. in ihnen steckenbleibt.[17]

 

3. Die Bewegungsformen des Geschichtlichen

Es kann hier, wo wir uns lediglich die Aufgabe gestellt haben, die wesentlichsten Probleme des Historismus aus seiner bisherigen Entwicklung auf die knappsten Formulierungen zu bringen und seine Verflochtenheit mit der Gegenwartslage auf zuweisen, nur darauf ankommen, herauszustellen, worin unseres Erachtens die letzten Gegensätze zu der ihm gegenüberstellbaren Überzeitlichkeitsphilosophie und zu der ihr entsprechen den „statischen“ Lebenshaltung bestehen, um dadurch zumindest klarzulegen, wo die Fragen liegen, die eine immanente Schwierigkeit für die Lehre selbst bedeuten und an die die weiter treibende Gedankenarbeit, die die Gegenwartsproblematik nicht umgehen will, anzuknüpfen hat. Eine konkret ausgebaute Geschichtsphilosophie wird nur das Ergebnis einer auf diese Aufgabe aus ihrem Lebensdrang getriebenen Forschergeneration sein können, die methodischen Klärungen werden – wie auch bisher – nur Hand in Hand mit ihr fortschreiten können. Wir wollen in dem Weiteren also keineswegs die ganze Problematik des Historismus zu bewältigen versuchen, sondern einige Gedanken und weitere Probleme an jenem Punkte anknüpfen, an dem wir unsere Darstellung Troeltschs abbrechen mussten.

Vergegenwärtigt man sich noch einmal die schroffe Alternative zwischen einem logisch-dialektischen Aufbau der Geschichtsphilosophie etwa im Hegelschen Sinne und einer anschaulich-organischen Darstellung der Gestalten der verschiedenen Lebens- und Kultureinheiten, wie diese etwa in der Richtung der historischen Schule läge – so merkt man – sieht man näher zu –, dass die beiden Methoden der Erfassung jeweils nur bestimmten Gebieten des Lebens und der Kultur adäquat sind. Es wird auffallen müssen, dass für die Darstellung der Entwicklung etwa der Philosophie eine rein begrifflich-systematische Methode weitgehend besser angepasst ist als etwa für die Kunst. Bei der Gegenüberstellung zweier philosophischer Systeme (bzw. zweier historischer Typen von Philosophien) wird es immer möglich sein, das systematisierende Zentrum des einen Typus so herauszuarbeiten, dass seine Konfrontierung mit dem anderen möglich wird, und noch mehr: man wird auch aufweisen können, woran der frühere Systemtypus zerschellte und in welcher Art und inwieweit der spätere die alten Elemente in das eigene System umgearbeitet und in den Hegelschen Bedeutungen des Wortes aufgehoben hatte.[18] Bezüglich jener Gebiete also, in denen der Begriff in der Tat in seinem Elemente ist, ist auch eine rein begriffliche Darstellung und eine Herausarbeitung der historischen Dialektik (die keineswegs immer einem formalen Dreitakt folgen und das Spätere als das Höhere bewerten muss) möglich. Eine solche rationalisierende geschichtsphilosophische Konstruktion ihres historischen Werdens werden alle jene Gebiete weitgehend zulassen, die in ihrem Aufbau bereits rational-systematisierend sind. Zunächst also alle theoretischen Gebiete von den Einzelwissenschaften bis zur Philosophie, die alle einen Sachverhalt im weitesten Sinne des Wortes begrifflich erfassen und in dieser Weise systematisieren. Aber einer rationalen Darstellung werden auch jene Gebiete zugänglich sein, die an und für sich zwar nicht im reflexiven Elemente des Begriffes existieren, wohl aber Lebensordnungen sind, die trotz ihres spontanen (unreflexiven) Ursprunges dennoch von einer systematisierbaren Struktur durchdrungen sind. Die Wirtschaft, die Rechtsordnung, die Sitte einer Epoche in ihrer besonderen Ganzheit entstehen nicht auf Grund eines reflexiv durchdachten Planes eines Individuums und haben trotzdem, vermöge der rationalen, sinnmäßigen Orientierung des menschlichen Handelns überhaupt, eine jeweils sinnmäßig systematisch erfassbare Struktur, die in ihrem Werden auch begrifflich als eine Stufenfolge aufeinanderfolgender sozialer Lebensordnungen darstellbar ist. Der Historiker und Geschichtsphilosoph ist stets in der Lage, das Wirtschaftssystem des Mittelalters, des Frühkapitalismus, des Hochkapitalismus z. B. als eine Aufeinanderfolge auseinander sich entwickelnder systematischer Ordnungen darzustellen. Diese Arten von Gebilden (die reflexive Theorie einerseits und jene Lebensordnungen, die rational durchdrungen sind, andererseits) sind es, die sich mehr oder minder zwanglos in eine rationale Konstruktion einfügen lassen.[19] Auf diese Gebiete richteten offenbar in erster Linie ihre Aufmerksamkeit jene, denen eine rationale Bewältigung des Geschichtsprozesses vorschwebte.

Auf ganz andere Sphären des Lebens und der Kultur haben aber dagegen ihr Augenmerk jene fixiert, in ganz anderen Gebieten haben ihre Paradigmata jene gesucht, die die geschichtsphilosophische Aufgabe ausschließlich darin sahen, eine möglichst anschauliche Darstellung des Ineinanders der verschiedenen Lebensäußerungen einer Epoche herauszuarbeiten. Religion und Kunst, Ethos und Erotik, also alle jene Gebiete, die eminent seelenhaft sind, sind nur einer solchen Synopsis zugänglich; eine zu weitgehende Logisierung vergewaltigt sie, und sie sind jeweils weniger als Systeme, sondern vielmehr als „Teile“ einer einheitlichen seelischen Gestalt der einzelnen Epochen erfassbar. Aber auch hier ist ein Gestaltwandel und das Fortschreiten dieses Gestaltwandels darstellbar, wenn auch nicht in derselben Form wie in jenen Gebieten, wo es sich auch an und für sich um das Nacheinander von Systemen handelt. Dadurch aber, dass die Rationalisten die rationalistische Fortschrittsidee, „die Lebensphilosophen“ die anschauliche Synopsis mit der Expansionslust, die einer jeden Methode innewohnt, zu weit anwendeten, verfälschten sie jeweils beide die Darstellung des Wachstums bzw. Fortschrittes bald dieser, bald jener Gebiete. Die Rationalisten vergewaltigten die Eigenart der irrationalen, die Irrationalisten die der rationalen Gebiete. Es handelt sich also u. E. darum, zunächst diese beiden geschichtsphilosophischen Methoden so anzuwenden, dass man das Wachstum in den seelisch-kulturellen Gebieten als Gestaltwandel, die Entwicklung in den geistigen Gebieten als eine rational darstellbare Aufeinanderfolge und Zusammenhang aufeinanderfolgender Etappen darstellt. Daraus ergibt sich aber die Frage, ob da nicht zwei Methoden unverbunden parallel laufen werden. Gibt es eine Möglichkeit, den Gestaltwandel im Seelischen mit der rational darstellenden Methode der geistigen „Entwicklung“ zu verbinden?

Wir sind der Ansicht, dass dies vermöge der wesenhaften Einheit des Irrationalen und Rationalen in menschlichen Bewusstsein – wobei das Rationale der durch verschiedene Zwischenstufen mit ihm verbundene Gegenpol des Irrationalen ist – möglich ist. Zunächst wollen wir nur darauf hinweisen, dass es Sphären gibt, die sozusagen an der Grenze zwischen seelischem „Ausdruck“, „Dokument“ und geistig-rational durchorganisiertem System liegen. Hierher gehört z. B. die Sitte. Sitte ist eine Erscheinung, die ohne Schwierigkeit adäquat, als Ausstrahlung, Dokument einer „Volksseele“ gestalthaft erfassbar ist, zugleich aber ist sie als ein systematischer (weil in seiner Einheit jeweils stets mehr oder minder immanent geschlossener, widerspruchsloser Strukturzusammenhang) darstellbar. Das jeweilige Rechtssystem bedeutet in dieser Hinsicht der Sitte gegenüber eine weitere Verschiebung in das Systematische; es enthält aber immer noch genügend seelenhafte Gebundenheit, so dass es auch zugleich als „Dokument“ erfasst werden kann, hatte doch die historische Schule gerade dieses Gebiet mit Vorliebe als Ausdruck des Volksgeistes (= Seele) behandelt.

Das exemplarische Gebiet aber, wo Rationales und Überrationales sich durchwirken, ist die Philosophie. Logik, Erkenntnistheorie, Metaphysik einer Epoche zeigen das Ineinander des streng Rationalen und des Irrationalen. Die Logik ist das rationalste Gebiet unter ihnen und sie hat deshalb eine weitgehend immanente Entwicklungsstruktur. In der Erkenntnistheorie treffen sich aber beide Pole. Erkenntnistheorie gibt sich als ein streng immanentes rationales System; bei einer strukturanalytischen Durchleuchtung lässt es sich aber zeigen, dass sie in ihrem systematischen Ausgangspunkte auf hauptsächlich metaphysisch-ontischen Voraussetzungen beruht.[20] Sie, die Metaphysik begründen oder entgründen will, nimmt aus bestimmten metaphysischen Positionen ihren Anfang. So ist es z. B. grundlegend, ob man vom ontischen Objekt als vom Aproblematischen ausgeht, wie die Antike, oder ob man Bewusstseinsphilosophie treibt wie die Neuzeit, ob innerhalb der letzteren man das Zentrum des Bewusstseins in der Ratio sieht und dabei das Irrationale als einen Grenzwert fasst, oder ob umgekehrt das mystisch-irrationale Erleben im Zentrum steht und das Rationale nur die Peripherie bedeutet, ob man statisch oder dynamisch eingestellt ist, ob man die kulturellen Sphären als autark, voneinander konturhaft getrennt oder in ihrer Einheit erlebt, ob man Sein und Sinn (Wert) sprunghaft gegeneinanderstellt, ob man diese in Form der Deduktion (vom Wert her das Sein) oder umgekehrt in den mannigfaltigen Formen der Genesis (vom Sein her den Wert) zu erfassen versucht, ob man Theorie und Praxis als Seiten einer Einheit oder als streng voneinander trennbare Einstellungen erfasst. Alles dies sind Voraussetzungen, die noch vor der Erkenntnistheorie erledigt sind, auf die man sich innerhalb ihrer wie auf Selbstverständlichkeiten beruft. Sie fließen aber alle aus bestimmten metaphysischen Hintergründen, die Ausdruck eines veränderten Erlebens einer sich stets verschiebenden existentiellen Unterlage sind. Eine solche Metaphysik hat aber jeder, auch der Positivist, der sie prinzipiell leugnet; dies ist heute bereits klar sichtbar.

Die metaphysischen Voraussetzungen, die solchergestalt in das strenge logische Gerüst der Erkenntnistheorie hineinragen, sind aber selbst – wie erwähnt –  keineswegs rein rational in sich geschlossen; sie sind keineswegs ausgeklügelt, sondern begrifflicher Ausdruck verschiedener Urerfahrungen des erlebenden und zugleich philosophierenden Subjektes. Das philosophierende Individuum philosophiert aber hierbei nie aus sich selbst, sondern aus einer umfassenden seelischen und geistigen Lage heraus, und was es in phänomenologischer Unmittelbarkeit als ewige Bestimmungen zu erfassen vermeint und als aproblematische Letzthinnigkeiten setzt, sind nur Korrelata einer bestimmten Zusammenballung der Lebenselemente, einer bestimmten Gestalt des Lebens und der Kultur, die im zeitlichen Flusse stets anders werden. Nur die relative Starrheit der Wortbezeichnungen kann es verdecken, dass hinter ihnen ein ewiger Wandel des jeweils Gemeinten sich voll zieht. Ein näheres Zusehen zeigt uns immer von neuem, dass die historische Erfüllung eines jeden Wortes stets eine andere ist. Nur deshalb zerschellen immer wieder die philosophischen Systeme, nur deshalb lösen sich die gedanklich erarbeiteten grundlegenden Korrelationen immer wieder auf, weil das letzte Substrat (mag man es „Leben“ oder „Bewusstseinsstrom“ nennen) vor dem forschenden Blick stets in verschiedenen Konfigurationen vorfindlich wird, weil die „objektive Kultur“, als Ausstrahlung dieses letzthinnig sich Wandelnden, immer wieder andere inhaltliche Elemente und Strukturen aufweist, weil auch die Selbstreflexion immer wieder etwas anderes bedeutet und dementsprechend auch etwas anderes „in sich“ vorfindet. In der Philosophie also treffen die beiden Sphären des Urtümlichen am handgreiflichsten zusammen: Logos und Seele; sie ist eben Wissen und Gestaltung zugleich.

Man wird also in der Geschichtsphilosophie im gesonderten Verfahren einerseits das Wachstum der seelisch-kulturellen Gebiete mit jener Methode darstellen, die letzten Endes auf die „historische Schule“ zurückgeht und darin besteht, dass man die Einheit der verschiedenen „Ausdrucksgebiete“ in der in ihnen und durch sie sich bekundenden „Weltanschauungstotalität“ anschaulich aufweist, andererseits aber jene Gebiete, die in rationalisierbarer bzw. rational-systematischer Struktur sich weiterbilden, gerade durch die Herausarbeitung dieser rationalen Strukturen skizzieren. Unverbunden werden diese beiden Methoden schon deshalb nicht dastehen, weil es, wie wir dies bei der Philosophie gezeigt haben, auch in den rational durchorganisierten Gebieten (mehr oder weniger) Punkte, zumeist Ansatzpunkte gibt, in denen die jeweilige Seelengebundenheit des Geistigen aufweisbar ist, und umgekehrt die seelisch-kulturellen Gebiete, wie Religion, Kunst, Sitte usw., in verschiedenen Graden und Abstufungen rationalisierbar sind und dadurch stets einen Entsprechungspunkt aufweisen, an dem eine innere Verwandtschaft z.B. zwischen dem eine Epoche beherrschenden wirtschaftlichen rationalen Prinzip und einer bestimmten Gestalt des seelischen Ausdruckes demonstriert wird.

Wir sehen die Bedeutung des Vorschlages von Alfred Weber,[21] die Kulturbewegung und den Zivilisationsprozess von einander zu trennen und die erstere gestalthaft, den letzteren im Sinne eines rationalen und unendlichen Fortschrittes zu erfassen, dessen Ergebnisse jeweils aus einem historischen Körper in die anderen übertragt sind, darin, dass er die Fortschrittsidee des Rationalismus und den Organismusgedanken der historischen Schule glücklich verbindet, indem er einer jeden dieser Methoden jene Sphäre zuweist, deren Struktur diese Methoden adäquat anpassbar sind. Das „Kulturell-Seelenhafte“ ist nur durch jene veranschaulichende, die einheitliche Gestalt darstellende Methode, die auch mit einem besonderen Begriffstypus arbeitet, adäquat erfassbar, das Zivilisatorische mit der rein rationalisierenden Methode der Aufklärungsphilosophie im Sinne eines steten Fortschrittes darstellbar.

Wir glauben nun, dass es noch ein drittes Gebiet gibt, das in der Mitte zwischen diesen beiden steht (die Philosophie und die ihr in dieser Beziehung verwandten Gebiete) und in seiner Entwicklungsstruktur einen ausgeprägt dialektischen Charakter hat. Den Unterschied zwischen rational fortschrittlich und dialektisch wollen wir für diesen Zweck folgendermaßen festlegen. Dialektisch ist jene Entwicklung, in der sich die aufeinanderfolgenden rationalen Gebilde in der Weise ablösen, dass das jeweilige nächste Gebilde in Form eines neuen Systems mit einem neuen systematisierenden Zentrum das frühere aufhebt. Die einen unendlichen Fortschritt aufweisende Struktur ist dadurch charakterisiert, dass die Grundlage der ganzen Entwicklung in dieser Sphäre ein einziges System ist, das sich fortschreitend immer mehr vervollständigt, sozusagen nur neue Gebiete, neue Stücke zu seinem noch unvollständigen, aber einheitlichen System erobert. Ist die Philosophie, insbesondere Ethik, Metaphysik, Erkenntnistheorie, in ihrem Werden dialektisch gestaltet, so sind Technik und exakte Naturwissenschaften fortschrittlich bedingt. Das Quantifizieren, Reduzieren auf ein statisches Zahlensystem garantiert uns, dass der „Fortschritt“ der Ergebnisse in den exakten Naturwissenschaften innerhalb eines „statischen Systems“ sich abspielt. Die an diese in mathematischen Relationen ausgedrückten Ergebnisse sich anschließenden „Hypothesen“ mögen vielleicht einen anderen Strukturcharakter haben. Aber nicht alle Wissenschaften haben diese statische, ein einziges System ausbauende Struktur. Die bisherigen Ausführungen mussten wohl davon überzeugen, dass die Geschichtsphilosophie und auch die Geschichtswissenschaft, soweit in sie die geschichtsphilosophische Schicht hineinreicht,[22] in ihrem Werden kulturseelenhaft standortsmäßig bedingt sind.

Nur durch eine solche, die innere Struktur zur Grundlage nehmende Unterscheidung kann man jenem schon über öfter mehr oder minder bewusstgewordenen Gefühl, dass Philosophie und Geschichtswissenschaft in einem anderen Sinne Wissenschaften sind als etwa Mathematik, Physik, gerecht werden, ohne dass man dabei durch eine falschgestellte Alternative sie zugleich als Kunst (zumeist im depravierenden Sinne) ansprechen müsste. Philosophie und Geschichtswissenschaft sind eben ein Erkennen, das standortsgebunden, kultur-seelenhaft verankert ist, und dennoch – hat man die Idee eines perspektivischen dialektisch-dynamischen Erkennens einmal erfasst – büßen sie an ihrer Dignität als Erkenntnisse durch diese Feststellung nichts ein.

Aus den bisherigen Ausführungen geht bereits hervor, dass alle diese sphärenhaften Scheidungen (wie Kulturell-Seelenhaftes, Zivilisatorisches im Sinne eines fortschreitenden Rationalisierungsprozesses und Dialektisch-Rationales) nicht so genommen werden dürfen, als würden sie jeweils mit den üblichen „Kultursphären“ in Deckung gebracht werden können. Es gibt z.B. in der „Kunst“, die zunächst als ausschließlich seelisch bedingt erscheinen muss, Schichten, die zivilisatorisch-fortschrittlich sind. Was man in der Kunst Technik nennt, zunächst im Sinne der stets neu entdeckbaren „Verfahren“, aber auch im Sinne des „technischen Könnens“ eines Künstlers (Perspektive usw.), kann eine fortschrittliche Entwicklungsstruktur haben, und das Seelenhafte beginnt erst dort, wo es sich frägt, was eine künstlerische Epoche mit diesen „Errungenschaften“ angefangen, welche ausdruckhafte Sinngebungen und welch ein Gestaltungswollen sie mit ihnen verbunden hat. Umgekehrt aber sind die rein fortschrittlich bedingten Entwicklungsstrukturen, besonders was ihr endogames Entstehen betrifft, aber auch die „Reife“, die ein Gesellschaftskörper erreicht haben muss, damit er fertige zivilisatorische Errungenschaften zu übernehmen instand sei, seelenhaft-kulturell gebunden. Einmal entstanden, mögen die zivilisatorischen Gebiete, von ihrer eigenen Entwicklungsdynamik getrieben, sich vom Seelenhaften weitgehend unabhängig entwickeln, aber ihr Einsetzen und das Hinausgelangen über gewisse kritische Punkte bleibt seelenhaft determiniert. Ist doch Max Weber gerade dem Problem in erster Reihe nachgegangen, welche kulturellen Hintergründe das Zustandekommen und die volle Entfaltung solcher Mächte, wie Kapitalismus, exakte Wissenschaft usw., begünstigt haben.

Unterscheiden wir also in diesem Sinne – nach der Heranziehung und Weiterdifferenzierung der Alfred Weberschen Zivilisationssphäre[23] – drei Typen der Entwicklungsformen überhaupt: die seelengebundene, wesenhaft nur in ihrer anschaulichen Einheit darstellbare, die dialektische, in der sich jene rationalen Gebiete stets von neuen Systematisierungszentren aus neu konstituieren, und die fortschrittliche Entwicklung, in der sich letzten Endes ein System allmählich ausbaut, so differenziert sich auch das Problem der Maßstabsbildung – von dem wir eigentlich ausgegangen sind – diesen drei Sphären entsprechend. Will man die Geschichte einer Sphäre darstellen, die im Sinne einer fortschrittlichen Entwicklung nur ein System ausbaut (etwa die Geschichte der Technik oder der sog. exakten Naturwissenschaften), so ist sowohl die Begriffsbildung, die dabei angewendet werden muss, wie auch die Maßstabsbildung die einfachste. Man muss weder den eigenen Standort, noch die einmalige Konstellation der darzustellenden Epoche in Betracht ziehen. Unsere Vorgänger haben in diesen Sphären das meiste von jenen Errungenschaften, die wir heute besitzen, noch nicht gekannt, noch nicht entdeckt; was sie aber von dem immer mehr wachsenden zivilisatorischen Gemeingut bereits besaßen, ist prinzipiell ein Stadium im Ausbau desselben Systems, das auch wir heute weiterbilden. Diese Sphäre kennt das eigentümliche Phänomen des „Bedeutungswandels“ nicht. Der pythagoräische Lehrsatz bedeutete für die Griechen genau dasselbe wie für uns; eine technische Erfindung, als technische Erfindung,[24] z. B. eine Axt, erleidet durch die Verschiebung in der Zeit keinen Bedeutungswandel. Demgegenüber bedeutet eine seelisch kulturell gebundene Erscheinung, etwa ein bestimmter Kult der Griechen, für diese etwas dermaßen anderes als etwa für Indien oder für uns, dass sogar die Anwendung eines generalisierenden Begriffes (des „Kultes“) etwas völlig Problematisches ist, sofern es sich um ein adäquates Eindringenwollen in diese Phänomene handelt; da aber diese Phänomene nichts anderes sind, als was man unter ihnen in ihrer Zeit sich vorgestellt hatte, kommt alles darauf an, sie nicht wie sich gleichbleibende starre Einheiten zu betrachten, sondern ihrem Bedeutungswandel Rechnung zu tragen. Im Gebiete des Zivilisatorischen gibt es in der Tat einen Fortschritt, die früheren falschen Ergebnisse werden durch neue ersetzt, die Irrtümer erledigt, und man bewegt sich trotz aller Bereicherung prinzipiell in demselben System. Begriffe, Ergebnisse der Gegenwart sind Maßstab für die Vergangenheit, ablösbar vom Standort, von dem aus man betrachtet. In jenen Sphären aber, die dialektisch sich fortwälzen, ist die Sachlage bereits anders. Der eine philosophische Systemtypus vernichtet, aber ergänzt auch nicht den vorangehenden, sondern reorganisiert sich von immer neuen Zentren aus. Diese neuen Zentren sind aber überphilosophisch bzw. übertheoretisch fundiert und hängen von der neuen Lebenslage ab, zu der in wissenschaftlichen Zeitaltern auch die Gestalt der Wissenschaft hinzugehört. Sie sprechen in diesem Sinne die Wahrheit des betreffenden Zeitalters aus. Diese Systeme sind, falls man sie konfrontiert, keineswegs gleichwertig; sie sind zwar nicht fortschrittlich in dem Sinne, als bauten sie durch neue Ergebnisse ein einziges System stückweise auf – in diesem Falle gäbe es nur eine Vernichtung der früheren als „falsch“ enthüllten Ergebnisse –, sondern dialektisch, weil sie jeweils von einem höheren Standorte, von einem umfassenderen Zentrum aus das Weltbild organisieren, wobei die früheren Einsichten in das neuere System „aufgehoben“ werden. Dies ist der Grund, weshalb die wesentlichen Probleme nie absterben, sie kommen immer wieder, erhalten aber neue inhaltliche Erfüllung und neuen funktionellen Sinn von den neuen Zentren aus. Achtet man nur auf das erstere (darauf, dass sie wiederkommen), so kann man eine generalisierende Typik der Metaphysiken und auch der Erkenntnistheorien aufstellen, wie es etwa Scheler[25] im Anschluss an Dilthey für die Metaphysik behauptet, die nach ihm angeblich nur ein paar Typen aufweist, die periodisch wiederkehren. Achtet man aber darauf, dass bei dieser Wiederkehr die „Stufe“, auf der sie erfolgt, die höhere Lagerung des Systemzentrums den wiederkehrenden Elementen neuen Sinn verleiht, dann muss an Stelle der generalisierenden Typik eine jeweils einmalige geschichtsphilosophische Stufenfolge gesetzt werden.[26] Eine jede Philosophie hat also in diesem Sinne ein doppeltes Kriterium. Zunächst das der inneren Wahrheit, ob sie die in der eigenen Zeit aufgetauchten wissenschaftlichen und lebendigen Elemente widerspruchslos bewältigt und ein dialektisches, ob sie prinzipiell umfassender ist, d. h, nicht nur den aus der Vergangenheit in die Gegenwart eingebenden Sinngehalt aufbewahrt, sondern von der neuen höheren Stufe aus ihn mit den dazu kommenden neuen Gehalten systematisch bewältigt. Hierbei muss es aber gar nicht so sein, dass dies immer von dem zeitlich späteren System geleistet werde (die Philosophie des Materialismus um die Mitte des 19. Jahrhunderts war nicht höher, umfassender als die von Kant, und dies kann man objektiv aus der Analyse und der Gegenüberstellung ihrer Ausgangspunkte beweisen), und es ist auch nicht nötig, dass der Abschluss der geschichtsphilosophischen Reihe in der Gegenwart oder etwa im eigenen System des Geschichtsphilosophen wie etwa bei Hegel angesetzt wird.

Die Utopie (das logische Postulat), die zu dieser historischen Konzeption der philosophischen Wahrheit gehört, ist die, dass der philosophische Gesamtprozess seine Wahrheit hat, diese Wahrheit ist aber nicht als eine von einem über dem Strom stehenden Standorte aus erfassbare zu denken, sondern so, dass sie, von den aus dieser Bewegung heraus wachsenden Zentren aus, jeweils in in-sich geschlossenen Kreisen (Systemen) ergreifbar ist, und das Leben für die Philosophie den Sinn hat, immer neue Elemente in einer neuen Totalität auszustrahlen und neue Standorte für die Sammlung und Durchorganisierung des bisher Erfassten und neu Hinzukommenden zu konstituieren. Dieser dynamischen Konzeption der Wahrheit entspricht also genau so eine Utopie, wie die „Wahrheit an sich“ oder die „Gesamtheit der geltenden Sätze“ eine Utopie der statischen Vernunft war. Die dynamische Utopie hat aber den Vorteil, dass sie sich an der Struktur der Weiterbewegung der faktischen philosophischen Erkenntnis selbst orientiert und ihr nicht eine Utopie auf zwingt, die ohne Kontakt mit ihrer eigenartigen Historizität, mit ihrer historischen Bewegungsform dasteht. Diese Utopien, Postulate der Logik sind eben auch nicht willkürlich ausgeklügelte Gedankenmöglichkeiten, sie sind auch keine, wie in einer Offenbarung, sprunghaft sich darbietende Visionen, sondern sie drücken jeweils eine konkrete Struktureinsicht zu Ende gedacht aus, zu der man die Ansätze aus der konkreten Gestalt der Weiterbewegung der Geschichte schöpft.

Im Sinne dieser dialektisch-dynamischen Utopie kann man also prinzipiell eine geschichtsphilosophische Hierarchie der sich ablösenden philosophischen Standorte herausarbeiten, bei der auch eine rationale Exaktheit möglich ist. Da das hier dialektisch darzustellende Gebiet schon an sich im Elemente des Begriffes und der Systematik existiert, liegt keine Vergewaltigung des Gegenstandes vor. Die jeweilige Veränderung in den aufeinanderfolgenden Systemtypen ist aus der Verschiebung der sich ablösenden Konstruktionszentren dieser Systeme erklärbar, und es ist jeweils möglich aufzuweisen, welches von den sich gegenüberstehenden Systemen umfassender ist. Dass eine solche Darstellung zugeben muss, dass eine jede Systematisierung (auch die vorhanden höchste) standortsgebunden und in diesem Sinne geistig-perspektivisch ist, bedeutet aber keineswegs einen Relativismus, sondern viel eher eine Erweiterung des Wahrheitsbegriffes, die uns davor bewahrt, vor Gebieten, in denen nur perspektivische Wahrheiten, aus der Eigenart des erkennenden Subjekts und seines Gegenstandes, möglich sind, haltzumachen. Genau so, wie es ein Ungedanke wäre, auf dem Standpunkte des Relativismus und Agnostizismus bezüglich der visuellen Erfassbarkeit der Gestalt eines Raumdinges zu beharren, nur weil wir es stets ausschließlich perspektivisch, standortsgebunden in „Verkürzungen“ sehen können, so muss man auch das wesensmäßig Standortsgebundene, Perspektivische in der philosophischen, aber auch in der historischen Erkenntnis nicht so sehr vertuschen, als geradezu in das Zentrum des Strukturbildes rücken. Der Ausdruck „standortsgebunden“, „perspektivisch“ ist selbstverständlich nur analogienhaft von der visuellen Gestalterfassung des Raumdinges auf die historische und philosophische Erkenntnis übertragen und insofern berechtigt, als eine wesentliche Gemeinsamkeit und zwar darin besteht, dass der Gegenstand bei beiden prinzipiell nicht in einem Erkenntnisbilde erfasst werden kann. Einer der wesentlichsten Unterschiede aber zwischen der „perspektivischen Beschaffenheit“ der Geschichtserkenntnis gegenüber der Standortsgebunheit der Wahrnehmung des Raumdinges besteht darin, dass im ersteren Falle die „Standorte“ selbstverständlich nicht räumlich zu nehmen sind und der Gegenstand nicht starr und unbeweglich den Subjekte gegenübersteht. Bei der Geschichtsbetrachtung bedeutet die Standortsgebundenheit das „Stehen“ an einer „Stelle“ des geistigen Stromes, der sowohl in jenem Teile, auf den wir uns richten, als auch da, von wo aus wir ihn selbst betrachten, ein gewordener und werdender, ein stets beweglicher ist.

Was nun die Weiterbewegung und historiographische Erfassung[27] jener Sphäre betrifft, die weder fortschrittlich-rational, noch dialektisch-systematisch (wie etwa die Philosophie), sondern an sich völlig irrational sind (wie Kunst, Religion usw.), so können sie in der geschichtsphilosophischen Darstellung – adäquat und in Fülle – nur gestalthaft erfasst werden. Man kann die Zusammengehörigkeit und innere Einheit dieser Gebiete in einer Epoche nicht als Teile eines rationalisierten Systems erfassen (ohne sie zu vergewaltigen), man kann sie aber gestalthaft als Teile einer individuellen Totalität, als „Dokumente“ derselben „Kulturseele“ aufweisen.[28] Dadurch rückt aber die wissenschaftliche Erfassbarkeit dieser Gebiete nicht ins Unkontrollierbare. Die wissenschaftliche Gegenstandbildung vollzieht sich auch hier auf Grund objektiver Kategorien, nur ist es diesmal nicht etwa die Kategorie der Kausalität, sondern die des Ganzen und des Teiles in einer spezifischen Besonderung. Damit soll nicht behauptet werden, dass die Kausalitätsforschung aus der Geschichte ausgeschaltet werde – wir sprechen in diesem Aufsatz ausdrücklich von der Geschichtsphilosophie und von dem geschichtsphilosophischen Teil der Geschichtsschreibung, wir wollen nur darauf hinweisen, dass man hier, sobald es sich um die Darstellung irrationaler Gebiete handelt, nicht ohne Gestaltbegriffe auskommen kann. Sobald man z.B. von „Tendenzen“ spricht, vereinigt man eine ungeheure Mannigfaltigkeit der Erscheinungen in eine anschauliche Gestalteinheit des Geschehens, und welcher Geschichtsschreiber könnte ohne solche Begriffe, wie „Tendenz“, „Stil“ usw. auskommen? Was bedingt nun eine erkenntnismäßig vollzogene Zusammenfassung des Geschehens zu einer solchen Gestalteinheit und was verleiht ihr Objektivität? Was gibt einen Maßstab dafür ab, welche Ereignisse und Objektivationen wir aus der unendlichen Mannigfaltigkeit auswählen sollen, um sie zu einer Tendenz zusammenzufassen? Hierüber gilt u. E. all das, was Troeltsch von der Standortsgebundenheit und dem Zusammenhang der Maßstabsbildung mit der gegenwärtigen Kultursynthese gesagt hat. Man kann in der Tat solche Tendenzen, durch die sich die Geschehnisse und Objektivationen entwicklungsmäßig ordnen lassen, einerseits von solchen inhaltlich erfüllten konkreten Werten, die die betreffenden Epochen mehr oder minder bewusst geleitet hatten, andererseits von solchen aus, die uns leiten, gewinnen.

Das Seelisch-Kulturelle ist also in der Tat jener Teil in der Geschichte, dessen Erkenntnis keineswegs fortschrittlich bedingt ist; ihn muss eine jede Epoche aus ihrem eigenen Seelenzentrum heraus neu interpretieren. Diese Gebundenheit des Maßstabes und Konzentrationsprinzips an die eigene seelisch-kulturelle Lage bedeutet aber hier keinen Relativismus. Es sind nämlich niemals die Deutungen der Vergangenheit aus verschiedenen Gegenwartszentren gleichberechtigt, wenn auch es hier kein rational-formales Kriterium (wie etwa jenes, dass das jeweils Spätere das Richtige sei) und kein dialektisch-rationales Kriterium (wonach die verschiedenen Systematisierungszentren vergleichbar wären) gibt. Und es bleibt dennoch ein materiales Kriterium, das nicht zu unterschätzen ist. Vergleicht man nämlich die verschiedenen Deutungsversuche verschiedener Epochen über dieselbe Kulturperiode, so wird man zunächst feststellen können, dass hier keineswegs eine Anarchie besteht. Es gibt zwar eine große Anzahl divergierender Deutungsversuche; da sie sich aber an einem kritisch gesichteten, anschaulichen Material bewahrheiten und in engem Kontakt mit diesem jeweils ein immanent in sich geschlossenes, widerspruchsloses Ganzes erarbeiten müssen, gehen die Möglichkeiten der Deutungen nicht so weit auseinander, dass eine Konfrontierbarkeit unmöglich wäre. Eine solche Konfrontierung zeigt aber, dass die Divergenzen nicht überaus groß sind und eine jede Deutungsverschiebung als mit der Standortsgebundenheit des betrachtenden Subjektes konsequent zusammenhängend erfassbar und aufweisbar ist. Die seelischen Standorte selbst erscheinen nach einer eingehenden Vertiefung in sie keineswegs als gleichberechtigt. Man wird, auf das Materiale achtend, stets mit Sicherheit feststellen können, welcher seelische Standort das zu Deutende in einer größeren Tiefendimension erfasst. Es ergibt sich aus diesem Problem der Verbindung der Tiefe einer Deutung mit dem seelischen Standorte, von dem aus sie erreichbar ist, eine aufweisbare Hierarchie zwischen den bisher zustande gekommenen Standorten. Das Problem der Tiefe einer Deutung ist aber gerade jenes Neue, das im Gebiete der auch geisteswissenschaftlich orientierten Methodologie und Erkenntnistheorie im Gegensatze zu der nur exakt-naturwissenschaftlich orientierten mit herangezogen werden muss.

Eine kulturhistorische Erkenntnis muss nämlich nicht nur richtig (d.h. am kritisch gesichteten historischen Material sich bewahrheitend und immanent konsequent) sein, sondern ihren Gegenstand möglichst seiner eigenen Tiefe entsprechend, adäquat erfassen. Eine Hierarchie der interpretierenden Zeitalter auf Grund ihrer Tiefenpunkte ist allein durch Heranziehung „qualitativer“, „inhaltlicher“ Evidenzen aufstellbar, In dieser Art der Problemlösung werden nur jene keine Überwindung des Relativismus sehen, die ausschließlich rational-formalistisch eingestellt sind und womöglich dem Problem der materialen Evidenzen aus dem Wege gehen und im Appellieren auf diese Evidenzen die Überschreitung der wissenschaftlichen Grenze befürchten. Es besteht dementsprechend in der Tat ein noch zu erwähnender wesentlicher Unterschied zwischen Kantianismus und Historismus (der in dieser Beziehung mit der phänomenologischen Schule[29] parallel läuft) auch darin (vgl. Troeltsch S. 202), dass die erstere Richtung die Kriterien der Objektivität möglichst in die formalen Gebiete verlegen will, die letztere dagegen dabei auch auf die materialen Evidenzen rekurriert, woraus dann zugleich allein die Möglichkeit einer materialen Geschichtsphilosophie erwächst.

Wir sehen also, dass sowohl die Bewegungsformen des Geschichtlichen als auch das Maßstabproblem der historischen Erkenntnis je nach den Gebieten, die zum Gegenstande einer geschichtsphilosophischen Darstellung gemacht werden, verschieden sind. Die sich gegenüberstehenden Theorien der fortschrittlichen Entwicklung, der naturwissenschaftlich orientierten Aufklärung, der auf Hegel zurückgehende, bei uns modifizierte Gedanke der dialektischen Entwicklung und endlich jene, auf die historische Schule zurückgehende „anschaulich dokumentarische“ Erfassung der Totalität der „Volksgeister“ haben alle ihre Wahrheit, aber nur auf gewisse Gebiete des Gesamtprozesses beschränkt. Hier hatte die Geschichtsforschung verschiedener Einstellungen und Standorte gewissermaßen nacheinander und nebeneinander Methoden erarbeitet, die sich gegenseitig ergänzen und alle, auf ihr eigenes Gebiet angewendet, ihre Richtigkeit haben. Und noch mehr: auch eine gewisse Universalisierung einer jeden dieser Methoden hat ihre relative Berechtigung. Da, wie wir gesehen haben, Zivilisatorisches, Seelisch-Kulturelles und Dialektisch-Rationales nicht ganz schroff voneinander zu scheiden sind, da ein jedes konkrete Gebilde, mehr oder minder, gleichsam eine Schicht zivilisatorischer, seelischer und dialektischer Elemente in sich fasst, ist die Reichweite einer jeden jener Methoden mehr oder minder auf alle Gebilde ausdehnbar. Wir sahen, wie es sogar in Kunstwerken (die doch zunächst als rein seelenhaft aufzufassen wären) eine zivilisatorische Schicht gibt, wie es in der Geschichtsschreibung, die als Wissenschaft zivilisatorisch sein müsste, eine dialektische, geschichtsphilosophisch bedingte Schicht gibt usw. Aus diesem Tatbestand ist es verständlich, dass rein dialektisch-rational aufgebaute „Entwicklungskonstruktionen“ auch dann nicht ganz scheitern müssen, wenn sie die Gesamtbewegung erfassen wollen, weil sie bis zum dialektisch-rationalisierbaren Elemente der kulturellen Sphäre vorzudringen imstande sind, und umgekehrt wird die gestalthaft-anschauliche Methode jene Punkte in den rationalen Sphären zu erfassen vermögen, die auch in diesen trotz der vorherrschenden Rationalität seelisch gebunden sind. Nur wird eine jede dieser Methoden zur Übertreibung, wenn sie sich als ausschließliche gibt, wenn der rationale Dialektiker nicht sieht, dass es dennoch einen durch seine Methoden nicht durchdringbaren Rest in den Kulturgebilden gibt, und der Irrationalist nicht merkt, dass durch die seelische Ausdrucks- und  Dokumenterfassung die „Theorie“ nicht nur von innen heraus – sondern auch in ihrer eigenartigen Bewegungsform – nicht erfassbar ist. Und weiter: gerade aus der Einsicht, dass wir es mit einer steten Dynamik zu tun haben, ist es nötig, auch darauf hinzuweisen, dass die einzelnen Gebilde nicht stets, für alle Zeiten, in dieselbe Sphäre gehören. Der „Staat“ z.B. war in gewissen Epochen ein weitgehend seelisch-kulturelles Gebilde und dies schließt nicht aus, dass er in anderen Epochen immer mehr in die rein zivilisatorische Sphäre zu rücken vermag.[30] Gerade durch diese Beweglichkeit ist die wirkliche Struktur der Zeitalter charakterisierbar und eine Komplizierung der Fälle bedeutet nur einen Reichtum und Fülle für einen geschichtsphilosophisch-dynamischen Aufbau des Weltgeschehens.

 

4. Historismus und Soziologie

All dies sei aber nur als Andeutung einer möglichen Lösungsrichtung der durch den Historismus aufgeworfenen Probleme gesagt. Soweit man in die soziologische Gebundenheit der methodologischen Formen hineinschauen kann, ist es äußerst wahrscheinlich, dass in der Gegenwart die aktivistisch-progressiven Tendenzen die rationale Dialektik ausbauen und verabsolutieren.[31] Die grösstmögliche Berechenbarkeit, die diese in den Weltprozess hineinträgt, gibt einen Orientierungsmaßstab für das politische Handeln ab. Die organologisch-anschauliche Methode, die in ihrem Entstehen bereits die Frucht einer nachrevolutionären kontemplativen Periode war, wird auf das irrationale Element rekurrieren und eben von den die Gesellschaft stabilisierenden konservativen Tendenzen getragen werden. Es gehört eben zur Soziologie der Geschichte, dass die verschiedenen Strömungen, sozusagen in einer Rollenverteilung, ihre besondere Funktion sowohl für die Entwicklung der geistigen Gebiete als auch für die reflexive historische Erkenntnis derselben haben.

Von hier aus ergibt sich ein Ausblick auf eine weitere Standortsgebundenheit des Erkennens wie auch der gesamten Kulturschöpfung und Lebensgestaltung: eine Gebundenheit an und eine Verbundenheit mit bestimmten sozialen Schichten und deren Bewegungstendenzen. Die Geschichtsphilosophie, die meistens nur in Geschichtsperioden denkt und deren innere Differenziertheit zu übersehen geneigt ist, muss ergänzt werden durch ein sozial differenziertes Sehen der Gesamtbewegung, wobei man die soziale Rollenverteilung und deren Bedeutung für die Gesamtdynamis in Betracht ziehen muss. Nicht eine soziale Schicht, nicht eine Klasse trägt die Gesamtbewegung und keineswegs darf man diese Gesamtbewegung an den Leistungen einer einzigen Schicht orientieren. Es kann zwar sein, dass eine Klasse sozusagen das Leitmotiv der Entwicklung trägt, aber nur eine vollständige Kontrapunktik der übrigen Tendenzen ergibt den Zusammenklang des Ganzen.

Die Bereicherung des geschichtsphilosophischen Gesamtbildes durch das Problem der sozialen Differenziertheit dieser Totalität und der sozialen Gebundenheit der Tendenzen ist ein weiterer Gesichtspunkt, der hier aber nur angedeutet werden kann. Für die Soziologie bedeutet das Auftauchen des Problems der Dynamis, das der Historismus in voller Breite in sämtliche historische Kulturwissenschaften hineinträgt, einen wichtigen Gestaltwandel. Die Soziologie, die im Zeichen der generalisierenden Naturwissenschaften entstanden ist, nur mit einer generalisierenden Methode arbeitete und das wirklich historische Element aus ihrem Gegenstand sozusagen ausmerzte, indem sie die verschiedensten sozialen und geistig-seelischen Beziehungen aller Zeiten und aller Völker gleichsam auf eine Ebene in einer generalisierenden flächenhaften Typik nebeneinandergereiht hatte, musste übersehen, dass sie dadurch nur die Oberflächenerscheinungen der soziologischen Bedingtheiten erfassen konnte. Nicht als ob solche generellen Beziehungen etwa zwischen Wirtschaft und Religion nicht auch lehrreich sein könnten, sie bedeuten aber nicht die einzige Möglichkeit der Problemstellung. (Es ist bezeichnend, dass Troeltsch in seiner Theorie auch nur eine generalisierende Soziologie kennt.) Es ist aber zu erwarten, dass das in der marxistischen Soziologie, aber auch in anderen Bestrebungen weiterarbeitende Hegelsche Element die generalisierende Typik der sozialen und wirtschaftlichen Formen in eine jeweils einmalige Stufenfolge dieser Formen umwandeln wird und das geschichtsphilosophische Element auf diesem Wege auch in der Soziologie sich durchsetzen wird. Dies darf uns aber nicht wundernehmen, erleiden doch sämtliche Kulturwissenschaften im Laufe des Geschichtsprozesses einen Gestaltwandel. Sowohl Literaturgeschichte als Kunstgeschichte hatten die Einwirkungen der Romantik, des Positivismus, des Marxismus usw., mehr oder minder, sowohl in ihren Problemstellungen als auch in ihren Methoden erfahren. Die geistigen Strömungen und die immer wieder sich erneuernden seelisch-geistigen Umschichtungen der erlebnismäßigen Unterlagen sind eben für diese Wissenschaften konstitutiv. Nicht als ihr Manko muss man diesen steten Gestaltwandel der Geisteswissenschaften betrachten, sondern als zu ihrem Wesen gehörig zu verstehen versuchen. Die positivistische und die kantische Wissenschaftslehre, die das normative Urbild einer Wissenschaft in den exakten Naturwissenschaften sah und ihre Struktur auch den Kulturwissenschaften mehr oder minder aufzwingen wollte, trachtete auch die Soziologie möglichst in diesem Sinne zu konstituieren. Dies gelang ihr aber – trotz mannigfacher fruchtbarer Ergebnisse, die von diesem Standort aus erreichbar waren – dennoch nicht: die Soziologie machte auch die übrigen Formen der geistigen Bewegungen mit. Daraus entstand eine Mannigfaltigkeit der Soziologien, die am Ende nicht in ein Schema zu pressen waren. Aus der ererbten Voraussetzung aber, dass eine Wissenschaft nur eine richtige Gestalt haben kann, wollte man die Soziologie zur Strafe dafür, dass sie keine einheitliche Methode aufzuweisen imstande war, aus der Reine der Wissenschaften streichen. Unseres Erachtens muss man aber bei dem andern Ende anfangen und sich viel eher fragen: ist es nicht angebrachter, bevor man eine faktisch vorhandene, durch lebendigen Geisteskräfte getragene (also nicht ausgeklügelte) Wissenschaft, nur weil sie unserer Konzeption von Wissenschaft nicht entspricht, verwirft, erst zu prüfen, ob denn nicht vielleicht unsere Wissenschaftskonzeption falsch oder zumindest (weil ausschließlich an den Naturwissenschaften orientiert) einseitig ist. Tut man das, indem man nun die positive Gestalt der historischen Geisteswissenschaften in ihrer Struktur und in ihrem Werden belauscht (genau so, wie einst die naturwissenschaftliche Methodologie zu diesen Wissenschaften selbst in die Schule ging und ihnen nicht aus sich heraus Vorschriften machte), so wird man dazu kommen, nicht nur zu sehen, dass – sondern auch den tieferen Grund dafür zu finden, warum – Soziologie und alle übrigen Geisteswissenschaften notwendigerweise immer wieder neugeschrieben werden müssen.

 

5. Dynamischer Maßstab in System und Leben

Der Historismus als Weltanschauungskonzeption ragt, wie aus den bisherigen Darlegungen wohl klar werden musste, bis in die verstecktesten Winkel und Einzelprobleme der Philosophie und Methodologie hinein; er ist in der Tat ein Prinzip, das ein jedes Element unserer Weltbetrachtung durchdringt. Biegen wir aber unsere Fragestellung zu ihren Anfängen zurück und prüfen wir nicht nur, was der Historismus für unsere Gedankenwelt und Erkenntniskonzeption bedeutet, sondern inwiefern er unser existentielles Leben zu durchformen vermag, worin also die Bedeutung seiner Problematik für das Leben besteht, so stoßen wir von einer anderen Seite auf dasselbe Problem des „Relativismus“. Vielen scheint der Relativismus mit dem Historismus dermaßen verwachsen zu sein, dass sie in dem letzteren geradezu eine aus dem Allwerden der Geschichte gefolgerte Lehre von der Relativität und Maßstabslosigkeit alles Handelns und Entscheidens erblicken. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass dies nur die Philosophie eines ungeläuterten, nicht zu Ende gedachten Historismus sein kann.

Der wahre Historismus ist auch nicht in Parallele zu setzen mit dem Naturalismus, der eine Philosophie aus dem Zuendedenken naturwissenschaftlicher, also einzelwissenschaftlicher Hypothesen bedeutet. Der Historismus ist keine Kombination einzelwissenschaftlicher Ergebnisse (der Geschichte), sondern, zumindest seiner Absicht nach, eine prinzipiell noch hinter die erkenntnistheoretischen Anfänge zurückgreifende und diese erst fundierende Philosophie und steht, was seinen systematischen Ort betrifft, an der Stelle der früheren Metaphysik. Nur wenn der Historismus nichts anderes wäre, als eine aus dem Vergleich der Religionen, Sitten, Denkweisen verschiedener Völker induktiv gefolgerte Lehre von der Unbeständigkeit aller menschlichen Dinge und Einrichtungen, wäre er eine Parallelerscheinung zu einer naturalistischen Philosophie, Er vollzieht aber seinen wesentlich philosophischen Schritt dadurch, dass er die historischen Einzelergebnisse insofern transzendiert, als er mit Hilfe der Kategorie der Totalität die tiefere Einheit des Wandels zu erfassen versucht. Dadurch wird aber die Reihe der Kausalketten (die innerhalb der einzelwissenschaftlichen Einstellung entweder zu einem unendlichen Regress führte oder aber den Forscher zwang, sich auf die sog. „unmittelbarsten Ursachen“ zu beschränken und dadurch willkürlich an einem Punkte die Verfolgung des Zusammenhanges abzubrechen) durch einen Rekurs auf das sich entfaltende letzte Substrat, dessen „Tendenz“ der Geschichtsphilosoph erfasst, überschritten. Nur wird dieser Versuch, dieses letzte dynamische Substrat zu erfassen, nun nicht mehr irgendwie a priori aus einem Prinzip deduktiv, sondern im unmittelbaren Kontakt mit dem geschichtlichen Material selbst vollzogen. Auch für die historische Kausalforschung ist dieser geschichtsphilosophische Untergrund, der die Gesamttendenz festlegt, Voraussetzung. Nur er ermöglicht es zu zeigen, wie aus der endlosen Gewirr der Einzelursachen gerade jene im Gesamtprozess zur Geltung kommen, die für seine Entfaltung hemmend oder fördernd waren.

Aber nicht von der methodologischen Bedeutung des Problems des Historismus sei nunmehr die Rede, sondern von seiner Relevanz für das Gesamtsystem der Philosophie und letzten Endes für das Leben selbst. Um dem drohenden Relativismus zu entgehen, um zumindest einen sichern Punkt zu finden, flüchteten manche, die zwar das Prinzip des Allwerdens in sich aufgenommen hatten, in die Lehre von der Absolutheit der formalen Werte. Hierbei gibt man zu, dass eine jede konkrete, materialerfüllte Stellungnahme zeitlich bedingt und in diesem Sinne relativ sein kann; man besteht aber doch auf dem Postulat, dass nur eine Wahrheit und eine ihr entsprechende prinzipielle Absolutheit auch der übrigen Werte voraussetzbar und durch die Struktur der Vernunft garantiert sei. Dies ist, wie auf den ersten Blick durchsichtig, keine Überwindung des Historismus, sondern nur ein nachträgliches Einverleiben des neu hinzutretenden Grunderlebnisses der Dynamis in einen, dem Wesen nach, auch weiter statisch verbleibenden Rahmen einer formalen Vernunftphilosophie. Hier ist die aus den neuen Tatsachen auftauchende neue Problematik nicht, von einem umfassenderen Standpunkte aus, überwunden, sondern in das alte System nachträglich hineingearbeitet. Dadurch müssen aber die Spannungen innerhalb dieses Systems nur noch mächtiger werden, uns muss sich, weil an einem unadäquaten Maßstabe gemessen, die Lehre von der Relativität noch quälender gestalten. Es gibt keine relativistischere Lösung, als die einer statischen Vernunftphilosophie, die zwar eine Transzendenz der Werte an sich anerkennt, und diesen Anspruch in der Form einer jeden konkreten Aussage garantiert sieht, das Material aber um so schroffer relativisiert und in der Geschichte, die die konkreten Wertefüllungen bietet, kein Prinzip der Wertannäherung entdecken kann und will. Der Relativismus ist wirklich erst entstanden – dies sieht auch Troeltsch sehr richtig – als Korrelat der Forderung eines absolut überzeitlichen Maßstabes, der nunmehr an das Historische herangebracht werden sollte. Man empfindet eine jede konkrete, materialerfüllte Aussage und Entscheidung erst dann wirklich als relativ, wenn man sie auf eine Absolutheit bezieht und diese Absolutheit so setzt, dass sie wesensmäßig ohne Kontakt mit dem Werden des geschichtlichen flutenden Materials ist.

Die den Relativismus überwindende Wahrheitsgarantie kann nur aus materialen Evidenzen fließen, und das Bewusstsein, dass unser hic et nunc verwirklichendes Erkennen etwas erfasst, dass unser Handeln gut ist, kann sich nur dann einstellen, wenn wir irgendwie die Gewissheit haben, dass der Maßstab, an dem wir es messen können, so beschaffen ist, dass er darüber etwas Konkretes auszusagen vermag, Und in der Fragestellung des Lebens: nur ein Denken, nur eine Philosophie, die auf die Frage „was sollen wir tun?“ eine konkrete Antwort zu geben vermag, kann den Anspruch erheben, den Relativismus überwunden zu haben. Bleibt man aber in diesem Sinne – sei es auch aus dem Wahrhaftigkeitsstreben heraus, nicht etwas vortäuschen zu wollen, was man selbst oder in seiner Wissenschaft nicht zu bieten vermag – wertungsfrei, so kann man ein Lob für diese Wahrhaftigkeit, aber unter keinen Umständen die Bedeutung beanspruchen, eine Lehre des überwundenen Relativismus verkündet zu haben. Konkretheit aber – dieser einzige Weg zur Überwindung des Relativismus – kann nur aus dem Material fließen, und also muss die materiale Evidenz garantiert sein.

Eben deshalb war die statische Vernunftphilosophie nur im Stadium der Naturrechtskonzeption (die in gewissen ihrer Richtungen noch heute weiter mitklingt) „bei sich“, d.h. sie enthielt solange keine unlösbaren Spannungen in sich, als man vermeinte, mit der Lehre und der Forderung einer über zeitlichen Wahrheit und eines überzeitlichen ethischen Maßstabs zugleich die materielle Erfüllung derselben erfasst zu haben. Als man noch daran glauben konnte, es gäbe nur eine der Vernunft würdige Wahrheit und ethische Richtigkeit, diese sei nur durch die Geschichte verhüllt gewesen, und als man diese Wahrheit auch inhaltlich aus der Vernunft deduzieren zu können vermeinte, hatte man zumindest subjektiv etwas Absolutes, das man der Geschichte entgegenzuhalten vermochte. Von innen heraus hätte dieses System nie gesprengt werden können. Als aber dieses System – vom Leben her – durch das immer mächtiger werdende historische Bewusstsein inhaltlich allmählich ausgehöhlt wurde, blieb als Residuum und Resignation nur mehr die Beschränkung dieser überzeitlichen Absolutheit auf die Form allein zurück. Die Antithesis zu einer statischen Konzeption der Vernunft ist im Dynamisch-Werden des Materials, beziehungsweise in der Erkenntnis der Bewegtheit dieses Materials entstanden und die Versuche, die noch heute diese Einsicht in die Bewegtheit vom statischen Standorte aus verarbeiten möchten, unternehmen eine Lösung, die dem gleichkommt, als wollte man die Antithesis dadurch über winden, dass man sie in die Thesis zurücknimmt. Dies ist aber offenbar unmöglich, dies muss Spannungen hervorrufen, dass das System dadurch aus den Fugen geht. Man muss unumgänglich durch die Antithese hindurch, man muss die vollständige Dynamisierung durchgemacht haben – in diesem Sinne ist auch der relativistisch gewordene Historismus der Lösung näher, als die statische Philosophie mit ihren formalen Absolutheiten –, um die Auflösung der Problematik in der Synthese finden zu können. Die Lösung, die Synthesis kann aber nur darin bestehen, dass man den Maßstab, die Form selbst dynamisiert und die Korrelation absolut-relativ der neuen dynamischen Einsicht gemäß gestaltet. Und man kann gegen diese Lösung nicht einmal das unendlich oft, bis zum Überdruss wiederholte Argument (die einzige Garantie einer Lehre von der formalen Absolutheit der Wahrheit) einwenden, dass nämlich all diese unsere Behauptungen ja selbst mit dem Anspruch auf Absolutheit auftreten, folglich formal eine Lehre voraussetzen, die sie inhaltlich bekämpfen. Dieses Argument des Platonischen Sokrates gegen die Sophisten beweist aber nur die Unhaltbarkeit, den inneren Widerspruch eines vorbehaltlosen Relativismus, besagt aber gar nichts über das Statische oder Dynamische der Wahrheitskonzeption. Wenn man behauptet, dass das Absolute selbst werdend ist und nur standortsgebunden, von bestimmten Standorten aus, die aus ihm selbst erwachsen, prinzipiell nur perspektivisch und in Kategorien, die mit dem Werden der Inhalte mit affiziert werden, erfassbar ist, so hat man keinen Relativismus verkündet. Nur ein über dem Strom stehendes, sich stets gleichbleibendes, mit dem Werdenden nur durch ein Wunder verbindbares Subjekt wird negiert. Dieses letzte, werdende Substrat hat in seinem Progress seine Wahrheit, und die Perspektivität, da sie sich im Elemente der Wahrheit konstituiert, ist nicht willkürlich, sondern umkreist von bewegten Standorten aus ein bewegtes Objekt. Und auch der Einwand, dass all dies, was wir jetzt behaupten, doch nicht perspektivisch gemeint sei, ist ruhig damit beantwortbar, dass diese Sätze auch nicht als die letzten über dieses Thema gedacht sind. Sie sind faktisch in dem Sinne als perspektivisch aufzufassen, dass das, was hier intendiert wird, auf einer anderen Stufe der Problemstellung, von einem anderen Standorte aus, ganz anders sich darstellen lassen würde, und diese perspektivischen Erfassungen haben ihre Wahrheit darin, dass sie jeweils, von einer Konstellation aus, nur ein richtiges Ergebnis zeitigen können.[32]

Für die Lebensproblematik bedeuten aber diese prinzipiellen Auseinandersetzungen so viel, dass es keine für alle Zeiten, ein für allemal gültige Forderung gibt, sondern das Absolute sich in jedem Zeitalter anders konkretisiert, dass man aber, indem man die „Forderungen des Tages“, den „nächsten Schritt“, erfüllt, zugleich das „bloß Zeitliche“ insofern transzendiert, als die ganze Bewegung selbst ihre Wahrheit hat. Diese Wahrheit ist aber in ihrem bis zu unserem Standorte führenden Emporwachsen, für uns, von unseren Wollungen aus, perspektivisch sichtbar (durch die Geschichte und die ihr Rückgrat bildende Geschichtsphilosophie). Aus unsere Ahnungen, instinktmäßigen Wollungen heraus wird für uns die Geschichte in einer Querschichtung erfassbar, und umgekehrt erhalten wir in den aus der Geschichte heraus gearbeiteten konkreten Werten, die wir bis zu unserem Standort sich entwickeln sehen, auch inhaltlich explizierbare Erfüllungen für unser zunächst ungeklärt dumpfes Wollen. So gewinnt man aus der Geschichte die konkret inhaltlich erfüllten Forderungsmaßstäbe, und man gewinnt sie nur insofern, als man sie instinktmäßig (weil getragen vom Gesamtgeist) bereits hat. Dies ist wohl der letzte Sinn der Forderung Troeltschs, die Geschichte durch die Geschichte zu überwinden (S. 772) und die zur Überwindung notwendigen Werte aus der Geschichte selbst zu gewinnen. Dieser eine Satz bedeutet aber zugleich die Umkehrung sozusagen der ganzen „Axiomatik“ der statischen Vernunftphilosophie, und jene Konfrontierungen der letzten Ausgangspunkte der beiden Typen von Philosophien und Weltanschauungen, die wir am Eingange dieser Untersuchung herausgearbeitet haben, werden nunmehr wieder relevant. Wir sehen, wie dieser eine Satz implizite ein anderes Verhältnis zwischen Theorie und Praxis, zwischen Geschichtsphilosophie und Erkenntnistheorie voraussetzt und die Alternative zwischen Absolut und Relativ neu zu stellen uns zwingt. Alle die Probleme aber, die in der statischen Vernunftphilosophie gestellt waren, werden von hier aus nicht einfach verworfen, sondern unter ein umfassenderes Zentrum gestellt. Bleibt es auch – wie erwähnt – zunächst noch ungelöst und eine weitere Aufgabe, vom dynamischen Zentrum aus das Phänomen des statischen Denkens, wie es in den exakten Naturwissenschaften und in der zivilisatorischen Sphäre überhaupt aufweisbar ist, zu deuten und auch konkret festzustellen, wie weit die Logik hierher gehört, so ist die Lösbarkeit dieser Aufgabe doch nicht aussichtslos. Genau so wird das auch von der statischen Philosophie gestellte Problem der Absolutheit und Relativität überhaupt auch in diese Philosophie des Dynamischen aufgenommen, aber, wie wir gesehen haben, einer weitsichtigeren Konzeption (die auch mit dem zeitlichen Moment und dessen konstitutiver Bedeutung rechnet) zugänglich gemacht. Dadurch wird aber das, was im früheren System sichtbar geworden ist, auch weiterhin, wohl aber in einem umfassenderen Zusammenhang, aufbewahrt. Diese eigentümliche Umwertung, dieses Aufgehobensein des Absolutheitsproblems auf einer höheren Ebene der Problemstellung sei auch als nachträgliches Beispiel dafür angeführt, was wir unter dem dialektischen Fortschreiten des philosophischen Systematisierens gemeint haben. Zugleich haben wir gesehen, wie die historistische Philosophie aus einer neuen Lebenshaltung, die an und für sich bereits überrational ist, erwacht ist, erwacht, wie ihre ganze Problematik aus einer einzigen neuen Einstellung (aus dem dynamischen Erfahren) explizierbar ist, die sich bis in die letzten systematischen Prämissen hinein verfolgen lässt.

Der Historismus ist also u.E. die einzige Lösung des Gesamtbestrebens, für eine dynamisch gewordene Weltansicht materiale, inhaltlich erfüllte Maßstäbe, Normen zu finden. Dieses Festhalten an materialen Evidenzen hat er unter anderem mit der phänomenologischen Schule gemein; während aber die phänomenologische Schule, zumeist durch einen Rekurs auf christlich-katholische Wertungen, eine Wertpositivität im statischen Sinne sucht und findet, also wiederum mit einer überzeitlichen Einstellung an diese Probleme herangeht und daher bestrebt ist, eine überzeitliche Hierarchie der materialerfüllten Forderungen aufzustellen, meint der Historismus, material-erfüllte Forderungen nur für geschichtsphilosophische Abschnitte und Einheiten aufweisen zu dürfen. Das Wertvolle am phänomenologischen Bestreben besteht darin, dass es zur Einsicht gelangt, wie nur durch materiale, inhaltlich bestimmte Forderungen der Relativismus überwunden werden kann, seine Grenze aber darin, dass es gleichfalls nicht imstande ist, das dynamische Moment der Theorie organisch einzuverleiben. Die moderne Phänomenologie muss die Relativität, die, an einem über zeitlichen als absolut gesetzten Mastaba gemessen, eine jede historische Wertung gewinnt, dadurch zu überwinden suchen, dass sie das mit dem Richtigen nicht in Deckung zu Bringende entweder als Irrtum oder als „Variation“ oder als „Individualisierung“ des als absolut hypostasierten Wertes darstellt. Darüber gilt aber das, was Troeltsch an einer Stelle sagt: „Objektiver ist in Wahrheit nie ein Beurteilungsmaßtab (es ist der dynamische gemeint) gewesen, am wenigsten ein solcher, der zwar in der Theorie als ewig, zeitlos und absolut konstruiert wurde, bei der Anwendung aber gar nicht angewendet werden kann, weil er hier erst individualisiert, oder weil er erst im unendlichen Progress, also gar nicht verwirklicht werden kann. In der »Individualisation« oder »Anpassung« steckt ja doch die gleiche Subjektivität des Maßstabes, wie die hier grundsätzlich vertretene. Ihr fehlt nur das Eingeständnis ihrer selbst” (182).

Und gerade in diesem Eingeständnis sehen wir die Kraft das Historismus; er bedeutet eine Philosophie und Weltanschauung, die jenes neue uns bewegende Element (das Dynamische) nicht als einen zu relativierenden Rest, aus dem alten Zentrum zu vergewaltigen versucht, sondern geradezu in die Mitte stellt und zum archimedischen Punkte macht, von dem aus unsere ganze Weltanschauung aus den Angeln gehoben wird. Und nirgends wird es so klar, wie hier, sichtbar, dass zu einer prinzipiell neuen Grunderfahrung eine neue Welt gehört, und unsere Philosophie, unsere Weltanschauung, all unsere Selbstqual im Denken nichts anderes ist als ein Ausbau eines intellektuellen Kosmos um übertheoretische Gegebenheiten herum, die das überrationale Werden, in dessen Element wir existieren, stets erneut in unseres Erlebens Mitte stellt.

 

[1] Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 52 (1924), H. I, 1–60.; aus technischen Gründen aus der folgenden Ausgabe: Karl Mannheim: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, hrsg. v. Kurt H. Wolff (Soziologische Texte 28), Luchterhand, Neuwied und Berlin 1964, 246–304. – der Hrsg.

[2] Struktur und Gestalterfassung sind sich keineswegs gleich. Dass gegenüber der Historie zwei grundverschiedene Einstellungen vorliegen, darauf hat neuerdings Alfred Weber in einem Aufsatze (Kultursoziologie. Der Neue Merkur, 7. Jahrg., Heft 3, 1923, S. 169 ff.), in dem er eine Logoseinstellung vom Gestalterlebnis unterschied, hingewiesen. Auf der Stufe der Charakteristik des Historismus, auf der wir uns jetzt in der Einleitung noch befinden, ist es nicht nötig, auf den Unterschied dieser beiden Wege des Näheren einzugehen. Später werden wir genauer unterscheiden müssen.

[3] Dieses Ineinander von Geschichte und Geschichtsphilosophie hat für unsere Zeit am eindringlichsten Croce aufgewiesen, Vgl. „Zur Theorie und Geschichte der Historiographie“, übersetzt von Enrico Pizzo. Tübingen 1905. Vgl. ins besondere Kap. IV: „Entstehung und begriffliche Auflösung der Geschichtsphilosophie“. S. 52 ff., auch S. 104.

[4] Damit sei nicht behauptet, dass auch historisch dieses „als zeitlos konzipierte Vernunftbild“ erst mit der naturwissenschaftlichen Epoche auftritt; es war schon früher da. In der im Text befindlichen Behauptung handelt es sich in erster Reihe um die Feststellung der Funktion dieses Postulats im Denksystem der an den exakten Naturwissenschaften orientierten Philosophien.

[5] Zur strukturellen Abhängigkeit der Erkenntnistheorie von der übrigen Gebieten vgl. meine Untersuchung: Die Strukturanalyse der Erkenntnistheorie. Ergänzungshefte der Kantstudien, Nr. 57, Berlin 1922.

[6] Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. Bd. I. Tübingen, J.C.B. Mohr, 1922 (Neudruck Aalen 1960).

[7] Vgl. seine neu herausgegebenen „Spektator-Briefe“. Tübingen, J.C.B. Mohr, 1924.

[8] Vgl. Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 41. Halle 1913. Husserl führt die These für alle Bestimmtheiten des Raumdinges aus, wir beschränken uns bei der Exemplifizierung auf die „Gestalt“.

[9] Eine uns wichtige Stelle möchten wir hier wörtlich anführen: „Eine Epoche verstehen heißt, sie an ihrem eigenen, wenn auch noch so komplizierten Wesen und Ideal messen. Ist dies nun aber den fremden Totalitäten gegenüber das in erster Linie geforderte Verhalten, so bleibt es natürlich in zweiter Linie die Aufgabe, diesen fremden Geist mit dem des eigenen Zusammenhanges zu vergleichen und so auch an ihm zu messen. Dann aber beurteilen wir in Wahrheit die fremde Welt nicht nur an ihrem eigenen, sondern auch an unserem Maßstabe, und aus diesen beiden verschiedenen Bewegungsrichtungen ergibt sich zuletzt eine neue und eigene Bewegung (S. 172).

[10] Vgl. Rothacker: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Tübingen, J.C.B. Mohr, 1920, S. 62 ff.

[11] Vgl. das später zu zitierende Buch von G. Lukács und das von Karl Korsch: Marxismus und Philosophie, Leipzig 1923. Auch auf H. Cunow: Die Marxistische Geschichts-, Gesellschafts- und Staatstheorie, Berlin 1920, sei in diesem Zusammenhange hingewiesen.

[12] Vgl. Rothacker a. a. O., S. 89.

[13] Vgl. die am Anfang dieses Aufsatzes zitierte Schrift A. Webers (Anm. [2]).

[14] Über „deskriptive Begriffe“ vgl. Husserl a. a. O., § 73–74.

[15] In dieser Hinsicht vermögen wir auch in seinen fünf unter dem Titel „Der Historismus und seine Überwindung“, Berlin 1924, herausgegebenen Vorträgen keine wesentliche Lösung der oben angedeuteten Schwierigkeiten zu sehen.

[16] Damals in der Theologischen Rundschau VI, 1904 erschienen, jetzt im Band II seiner „Gesammelten Schriften“ abgedruckt (S. 673 ff.).

[17] Vgl. die ebenfalls sehr umfangreichen Werke: R. Flint: History of the Philosophy of History, Edinburgh und London 1893. – P. Barth: Die Philosophie der Geschichte als Soziologie Bd. I. Grundlegung und kritische Übersicht, 3./4. Aufl. 1922 (I. Aufl. 1897!); der zweite Band ist nie geschrieben worden.

[18] Eine auf soziologisch-geschichtsphilosophische Gegenüberstellung zugespitzte Herausarbeitung der letzten Positionen verschiedener philosophischer Systeme wird nicht Systeme einzelner Denker, sondern solche Gruppen von Philosophien („Richtungen“) gegenüberstellen, die weitgehend gemeinsame Ausgangspunkte (soz. eine gemeinsame Axiomatik) besitzen, wobei die einzelnen Ausgestaltungen dieser systematischen Ansatzpunkte in den Systemen der einzelnen Denker nur Versuche sind, in sich geschlossene Abrundungen dieser letzten Endes vom Gesamtprozess heraustretenden „letzten Voraussetzungen“ systematisch zu meistern. Bei solchen soziologisch-geschichtsphilosophischen Konfrontierungen fällt dann die chronologische Zeit nicht unbedingt mit der geschichtsphilosophischen zusammen. Anfänge einer späteren Philosophie können schon in Ansätzen vor ihrem Auftreten vorhanden sein (Vorläufer) und neben einer „neuen Philosophie“ können die auf früheren Ausgangspunkten fußenden Philosophien als Richtungen (Nachläufer) weiter bestehen, und noch mehr: einzelne Systeme können und werden auch meistens Elemente aus den früheren Systemen mit neuen mehr oder minder unverbunden aufweisen. Auch hier wirkt sich die Struktur des geistigen Werdens aus, wonach das Neue zunächst im Rahmen des Alten entsteht und sich erst später allmählich abhebt. Aber auch hier, wie wo anders, besteht die Möglichkeit, idealtypische Totalitäten oder Tendenzen gegeneinander abzustellen. Nur in diesem Sinne konnten wir es versuchen, eine statische, überzeitliche Vernunftsphilosophie dem Historismus gegenüberzustellen. Ihre Kontrollierbarkeit besitzen aber solche Feststellungen darin, dass die herausgearbeiteten „Axiomatiken“ in der Tat zwei Richtungen, zwei grundverschiedene Arten des Philosophierens in ihrer Wurzel erfassen. Geschichtsphilosophisch-soziologisch wird aber eine solche Gegenüberstellung nur in dem Masse sein, als diese zunächst nur immanent verschiedenen theoretischen Ausgangspunkte mit zwei andersartigen Lebenshaltungen, die historisch aufweisbar sind, sich ablösen und mit einem veränderten sozialen Gesamthintergrunde in Verbindung gesetzt werden.

[19] Auf dieser Stufe der Betrachtung wollen wir noch nicht darauf eingehen, dass innerhalb der rationalisierbaren Entwicklung auch zwei Typen zu unterscheiden sind, die rational-fortschrittliche und die rational-dialektische; auf diese Differenz kommen wir sofort zu sprechen.

[20] Ausführliches hierüber in meiner früher zitierten „Strukturanalyse der Erkenntnistheorie“, S. 212, Anm. 15.

[21] Vgl. Prinzipielles zur Kultursoziologie. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 48, 1920. A. Weber unterscheidet außer dem „Zivilisationsprozess“ und der „Kulturbewegung“ noch einen „Gesellschaftsprozess“, der für uns in diesem Zusammenhange ausscheidet. Eine spezifisch auf die Soziologie gerichtete Untersuchung müsste selbstverständlich gerade dieses Problemgebiet bevorzugen.

[22] In der Geschichtsschreibung gibt es eine Schicht, die „fortschrittliche Struktur“ hat: die Quellenforschung und Quellenkritik wird in ihren Methoden immer „exakter“, nicht nur insofern, als inhaltlich immer größere Stoffmassen bewältigt werden, sondern auch in dem Sinne, dass sie an kritischer Schärfe gewinnen. Die Standortsgebundenheit ragt nur in die Sphäre der „Auffassung“, „Darstellung“ hinein, die, wenn noch so positivistisch, dennoch materialgeschichtsphilosophisch gebunden ist.

[23] Alfred Weber hatte bereits innerhalb des Zivilisationsprozesses drei Teile unterschieden bzw. angedeutet: a/ die Herausbildung eines intellektuell geformten Welt- und Ichbildes, b/ einen praktisch-intellektuellen Wissenskosmos, c/ einen „intellektuell geformten Mittelapparat der Daseinsbeherrschung“ (a. a. O., S. 12 f.). Dem letzteren entspricht bei uns das Beispiel der Technik, dem zweiten die Mathematik und die quantifizierenden Naturwissenschaften und dem ersten die Philosophie, Geschichtsphilosophie und der geschichtsphilosophisch standortsgebunde Teil der Geschichtswissenschaften. Auch Alfred Weber sieht das seelisch-kulturell gebundene Moment in der Philosophie und erwähnt sie deshalb nicht nur gelegentlich des Zivilisationsprozesses, sondern auch bei der Behandlung der „Kulturbewegung“. Uns kam es aber doch außer den hier erwähnten Distinktionen darauf an, zu zeigen, dass die historische Struktur- und Bewegungsform des „philosophisch-intellektuellen Kosmos“ in einem anderen Sinne rational ist, als die der Technik und der Naturwissenschaften. Erst der Einblick in den dialektischen, von immer neuen systematischen Zentren aus sich neu konstituierenden Aufbau der Philosophien ermöglicht uns, diese mit den entsprechenden seelisch-kulturellen Zentren, die sich auch stets neu bilden, innerlich-strukturell zu verbinden, Dieses „Sich-aus-einem-neuen-Zentrum-Bilden“ ist ihnen wenn auch in verschiedenem Sinne, gemeinsam und gibt den „Entsprechungspunkt“ ab, durch den das logische Gerüst der Philosophie mit der „Bewegungsform“ des Seelischen in Beziehung zu bringen ist.

Zu unserer Unterscheidung des Fortschrittlich-Rationalen und Dialektisch-Rationalen wollen wir hier noch darauf hinweisen, dass uns dabei hauptsächlich das Bestreben geleitet hat, die Verschiedenheit der historischen Bewegungsformen auf die jeweils andersartige Struktur der betreffenden Sphären zurückzuführen. Erst die Einsicht in die Tatsache, dass „Fortschritt“ nur dort möglich ist, wo von Anfang an ein System ausgebaut wird, also die Grundlage selbst statisch ist, dialektische Bewegung dagegen nur dort auftreten kann, wo das Systemzentrum und das Maßstabsystem sich stets verschiebt, also die Grundlage selbst dynamisch ist, kann u. E. allein eine letzthinnige Klärung in die hierbei sich ergebenden Probleme bringen. Nur wenn man diese Zusammenhänge erfasst hat, wird der zunächst als paradox erscheinende Sprachgebrauch verständlich, dass gerade jene Sphären als statisch bezeichnet werden, in denen ein Fortschritt möglich ist; nicht auf die „Ergebnisse“, Errungenschaften, sondern auf die „Stabilität“ bzw. „Bewegtheit“ der Grundlagen, Voraussetzungen und Maßstäbe, die die Gebilde erst möglich machen, zielt unsere Unterscheidung.

[24] Auch die Technik kann z. B. magisch verhüllt sein. Dann ist selbstverständlich jene Schicht, die eine magische Sinngebung einer technisch-zivilisatorischen Erfindung hinzufügt, kulturell-seelisch an den betreffenden Kulturkörper gebunden, aber das Technische selbst kann in der späteren Entwicklung freigelegt werden oder auch von anderen sozialen Gruppen übernommen und im Sinne eines Fortschrittes weitergebildet werden.

[25] Vgl. den für diese Probleme wichtigen Aufsatz von M. Scheler: Über die positivistische Geschichtsphilosophie des Wissens (Dreistadiengesetz). Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre Bd. I, Leipzig 1923, S. 26 ff.; ferner den im selben Bande erschienenen Aufsatz: „Weltanschauungslehre, Soziologie und Weltanschauungsgesetzgebung“, S. I ff. Zum Problem des Aufbaues der Geschichte und Weltanschauungslehre vgl. auch die Arbeiten von Dilthey, insbes. : Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen, ersch. im Sammelwerk „Weltanschauung“, hrsg. von Max Frischeisen-Köhler, Berlin 1911; Das Wesen der Philosophie, ersch. in: „Kultur der Gegenwart“, T. I, Abt. VI, S. 1-67, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Abhandlungen der Berliner Akademie der Wissenschaften 1910, S. 3-123.

[26] An dieser Stelle ist die ganze Tiefe der Problematik der Dialektik erfassbar. Solange man die verschiedenen Gestaltungen des geistigen Lebens als verschiedene nebeneinanderreihbare Typen zu bewältigen versucht – was an und für sich nicht unmöglich ist und seine Berechtigung hat –,  ist man in das eigenste Wesen, in die unwiederholbare Individualität des Geistigen und Seelischen noch nicht eingedrungen. Man steht noch immer auf dem Boden der generalisierenden Abstraktion, wonach das Individuum nichts anderes sein kann, als eine eigentümliche Kombination, Komplexion generell vorfindlicher Merkmale. Hat man aber einmal das Grunderlebnis davon gehabt – ein Erlebnis, das uns das romantische Denken zuerst vermittelt hatte –, dass in einem jeden geistig-seelisch-historischen Gebilde etwas Unwiederholbares enthalten ist, ein schöpferisches Zentrum zur Geltung kommt, wodurch das historische Individuum mehr ist als eine eigentümliche Kombination genereller Bestimmungen, so wird man die Paradoxie wagen, auch dieses Einmalige an ihm zu erfassen. Dies. wird durch eine generalisierende Typologie schwerlich gelingen können (weil diese gerade prinzipiell nur auf das generelle ausgeht) – es wird also bloß die Möglichkeit übrigbleiben, die Einmaligkeit des Gebildes aus seinem einzigartigen Ort in einer einmaligen Entwicklung zu bestimmen. Mit solchen einmaligen Entwicklungszusammenhängen hat es aber die Geschichtsphilosophie zu tun. (Die Möglichkeit der Erfassung solcher dynamischer Totalitäten von innen heraus, ihre Erfassung als einer historischen Bewegung aller ihrer Glieder, auf einem, aus dem betreffenden Geschichtskörper heraus strahlenden, von ihm selbstgesetzten konkreten Wert, auf ein Sinnziel hin, ist eben eine irreduzible, aber um so mehr hervorzuhebende Fähigkeit des die Geschichte betrachtenden Subjektes.) Indem man also den einmaligen Sinn eines Gebildes durch die Fixierung seines Ortes in einem solchen einmaligen historischen Zusammenhang (dessen Gesamttendenz, Gesamtbewegung bereits erfasst ist) festlegt, bekommt in diesem Nacheinander der Ort des Gebildes eine sinncharakterisierende Macht. Ist für eine jede generalisierende „Ewigkeitsbetrachtung“ die Zeitlichkeit des zu charakterisierenden Individuums ein indifferenter Faktor, da ja die „flächenhafte“ Typisierung die einzelnen Typen aus ihrem Entstehungszusammenhang herausreißt und zeitindifferent nebeneinanderstellt, so trachtet die dynamische Anordnung, der spezifischen Sinndifferenz dadurch Herr zu werden, dass sie gerade jenes Moment herausarbeitet, wodurch das Einmalige seinen spezifischen Sinn erhält: den durch die „geschichtsphilosophische Zeit“ charakterisierten sinnerfüllten Ort in einem einmaligen Werdezusammenhang.

Die Generalisierung ist trotz ihrer Inadäquatheit dennoch möglich, weil generell wiederkehrende Momente in der Geschichte auch „wirksam“ sind. So gibt es durch Generalisierung erfassbare „Typen“ von Metaphysiken und Erkenntnistheorien, aber diese Typologien können nicht die letzthinnige Charakteristik der Gebilde, auf die sie gerichtet sind, geben. In meiner erwähnten Untersuchung über die Struktur der Erkenntnistheorie habe ich noch eine „flächenhafte“ Typologie (also eine Typologie, die ohne Bestimmung des geschichtsphilosophischen Zeitmomentes auszukommen versucht) angebahnt. Diese ist – wie die von Dilthey und Scheler vertretene Typologie der Metaphysiken – bis zu einem gewissen Grade möglich: je konkreter man aber werden will, um so mehr muss man ins Dynamische übergehen. Ich habe dort sogar zu zeigen versucht, inwiefern ein überzeitliches logisches Gerüst hinter allen Typendifferenzen der möglichen Erkenntnistheorien steht, aus dem heraus diese, der Struktur nach, überhaupt möglich werden. Auch jetzt soll nicht bezweifelt werden, dass es eine formale Dünnschicht des Logischen gibt, die (im Sinne des hier vertretenen Zivilisatorischen) überzeitlich ist. Je mehr man sich aber in die historischen Probleme vertieft, um so enger wird der Kreis dieses als überzeitlich herausdestillierbaren Restes, und der gedankliche Prozess der Formalisierung und ihr Leistungswert wird immer mehr durch neue Bedenken belastet (vgl. S. 255 dieses Aufsatzes).

[27] Die Bewegungsform einer Sphäre (etwa die der Philosophie) und die Bewegungsform ihrer historischen Erfassbarkeit (das Nacheinander und das Verhältnis der verschiedenen Geschichtsbilder über die zurückgelegte „Entwicklung“ der Philosophie) sind zwei verschiedene auseinander zuhaltende Sachverhalte. Genau so: „das Maßstabsproblem bei der Beurteilung historischer Dinge“ (die hierarchische Einreihung der verschiedenen Philosophien nach ihrem dialektischen Wahrheitsgehalt) und das Problem des Maßstabs, der uns bei der Bewertung der verschiedenen historiographischen Leistungen über ein Gebiet (im exemplifizierten Falle über die Philosophie) leitet, sind der ersteren Alternative entsprechende, verschiedene Problemstellungen. In einer endgültigen Behandlung dieser Probleme müssten sie zunächst auseinandergehalten werden. In der obigen Darstellung wurden sie – der Kürze halber – zusammen behandelt. Daraus entsteht gerade in unserem Falle, wo Geschichtsphilosophie und Geschichtsschreibung, ihrer wirklichen Verbundenheit entsprechend, als eine Einheit aufgefasst werden, keine Fehlerquelle. Bei der Problematik, die in dieser Anmerkung angedeutet ist, auch noch in einigen weiteren Fragen hat mich die Diskussion mit Herrn Dr. V. Schelting in vielem gefördert, und es ist mir ein Bedürfnis, ihm dafür hier herzlichst zu danken.

[28] Über die ganze Problematik, die mit einer dokumentarischen Erfassung zusammenhängt, vgl. Ausführlicheres in meiner Arbeit: Beiträge zur Theorie der Weltanschauungsinterpretation. Jahrbuch für Kunstgeschichte. Wien 1923.

[29] Der Unterschied zwischen dem Historismus und den Vertretern der Phänomenologie besteht darin, dass während die letzteren die materialen Evidenzen im Gebiete der Werte im statischen Sinne zu erfassen vermeinen, indem sie überall auf zeitlose Wesenheiten ausgehen „und die empirischen Individualisierungen erst hinterher anflicken“ (vgl. Troeltech S. 208), der Historismus der Meinung ist, dass die Geschichte nicht nur allgemeine Wesensgesetze individualisiert, „sondern überhaupt auf immer neue, unberechenbare Wertbildungen uns gefasst macht“ (daselbst).

[30] Im ähnlichen Sinne Alfred Weber a. a. O., S. 36.

[31] Der tiefste und bedeutendste aller dieser Versuche ist wohl der von Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewusstsein, Studien über Marxistische Dialektik, Berlin 1923. (Vgl. insbes, die Aufsätze: Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats, Klassenbewusstsein, Rosa Luxemburg als Marxist.) Wie der Historismus unser Gegenwartsdenken beherrscht und Probleme, wie wir sie an Hand von Troeltsch herausgearbeitet haben, erzeugt, könnte auch ein Vergleich mit diesem Buche bestätigen. Wir hätten die Grundprobleme des Historismus, die wir insbesondere in den ersten beiden Kapiteln herausgestellt haben, genau so gut durch die Zugrundelegung des Lukácsschen Buches aufweisen können. Es wäre ein lohnender Versuch und ein Beitrag zur „Soziologie des Denkens“, durch eine Vergleichung dieser beiden Bücher (des Troeltschschen und des Lukácsschen) der soziologischen Differenzierung derselben Probleme bei sozial und politisch verschieden orientierten Autoren nachzugeben. Die verschiedene Stellungnahme zum Irrationalen, die mehr oder weniger große Positivität und Entschiedenheit in der Geschichtsdialektik usw. würden sich als vom sozialen und politischen Standort determiniert erweisen, wobei die bedeutsame Verwandtschaft in den letzten Ausgangspunkten nicht übersehen werden dürfte.

[32] Wie sehr unsere Darstellungen selbst standortsgebunden und wie sehr wir uns dessen bewusst sind, wollen wir durch eine Bemerkung, die für den Aufsatz von prinzipieller Bedeutung ist, klarlegen. Wir gingen bei unserer Darstellung noch aus von einem schroffen Dualismus der Methoden der exakten Naturwissenschaften und der „historischen Kulturwissenschaften“ (um uns diesmal dieser abkürzenden und die herausgestellten sonstigen Distinktionen vernachlässigenden Gegenüberstellung zu bedienen). Dieser Dualismus kann in diesen Fragen nicht die endgültige (auch nicht die für unser Stadium letzte erreichbare) Form der Problemstellung sein. Letzten Endes muss eine Lösung gefunden werden, die zur Achse der Problemstellung nicht den prinzipiellen Dualismus innerhalb der „Vernunft“ macht, sondern den „Einheitspunkt“ findet, von dem aus dieser vorläufige Dualismus überwindbar wird. Wir befinden uns aber in einem Stadium der Denkgeschichte, das dermaßen einzelwissenschaftlich orientiert, also an „Teilsystemen“ haftend, ist, dass der Konstruktionspunkt der Philosophie unwillkürlich in eines dieser „Teilsysteme“, also in die Methodologie – auch wenn anders beabsichtigt –, rückgleitet. Wir „sehen“ eben noch das Denken entweder von den Naturwissenschaften oder aber neuerdings immer mehr von den Geschichtswissenschaften aus. Will man über dieses Stadium durchbrechen, so ist es nötig, den Gegensatz zwischen statischem und dynamischen Denken in jenem Teil des einzelwissenschaftlichen Denkens zunächst aufzuweisen und gegen das naturwissenschaftliche Denken ausspielen, wo das Dynamische für unsere noch in „Teilsystemen“ befangene Einstellung am handgreiflichsten sichtbar wird: in den historischen Kulturwissenschaften. Indem man zeigt, dass es bei näherem Zusehen Denkgebiete gibt, die vom früheren Standort aus nicht bewältigbar sind, macht man zunächst das Dynamische überhaupt erst sichtbar. Dass dieses Sichtbarmachen und die Art, wie man es tut, perspektivisch ist, weil man ja immer noch von einem Teilsystem (Einzelwissenschaft) aus das andere sieht, muss man, auch indem man selbst noch diesen einzelwissenschaftlich-methodologischen Standort einnimmt, sehen. Wir denken noch dermaßen in Teilsystemen, dass für uns nur in Form dieser dualistischen Gegenüberstellung und in den dadurch bedingten Problemstellungen das Dynamische sichtbar wird. Aus diesem provisorischen Standpunkt ist es auch erklärlich, dass bei uns der Pluralismus von fortschrittlich-rationalen, dialektisch-rationalen und kulturell seelenhaften (monadisch-unverbundenen) Strukturen bestehen bleibt. Nur wenn man diesen einzelwissenschaftlich, pluralistisch-methodologisch orientierten Standort überwindet, und das aus der historischen Einzelwissenschaft herausgearbeitete Dynamische zur Grundlage der philosophischen Konstruktion selbst macht, wenn also eine dynamische Ganzheit zum Ausgangspunkt wird, kann man sich fragen, was denn innerhalb ihrer die statischen „Teilsysteme“ bedeuten. Auch in diesem Falle werden die Ergebnisse, die wir gewonnen haben, nicht negiert, nicht vernichtet werden; es wird sich nur darum handeln, von einem umfassenderen Zentrum aus (das von einer dynamischen Gesamtkonzeption ausgeht), die Möglichkeit solcher statischen Ausschnitte zu rechtfertigen und ihren Sinn zu deuten. Dass der Historismus diese Aufgabe noch nicht gelöst hat, gilt es nicht zu verdecken, sondern geradezu hervorzuheben.

Es liegt vollständig im Sinne unserer dynamischen Konzeption von der Erkennbarkeit des Geistigen, wenn wir auch diese unsere Darstellung als perspektivisch auffassen und zugleich darauf hinweisen, dass dies mit der Gesamtlage unserer gegenwärtigen Denkweise, die durch und durch einzelwissenschaftlich und methodologisch ist, zusammenhängt. Wir knüpfen damit nur an eine Gesamtlage an, in der uns zunächst die hier erörterten Probleme sichtbar werden, die aber schon in sich die Richtung des nächsten Schrittes enthält.