Karl Thieme

Sokrates und der historische Materialismus[1]

Ein Hinweis.

 

Sokrates ist deswegen so wichtig, weil sich das Verhältnis der griechischen Philosophie zum griechischen Leben, und daher ihre innere Schranke in sich selbst, in ihm darstellt. Karl Marx (Gesamtausgabe 1,1 S. 104).

Wer als Vertreter des historischen Materialismus die Vorgeschichte seiner Methodik zu längst dahingeschiedenen Denken zurückverfolgt, ist gefeit gegen die Illusion, im Einst nur das Jetzt, eine „im Grunde ewig gleichbleibende Menschennatur“ und ihr entsprechende Weltanschauung zu suchen, seine Absicht kann nur sein, die heutige Situation des Menschen gegenüber der Welt und sich selbst durch Aufweisung ihres gesetzmäßigen Zusammenhangs mit einer früheren, unter anderen Schaffensverhältnissen eingenommenen zu klären und so zu mobilisieren: Haben wir uns bewegt, so müssen wir uns auch weiterbewegen!

Die ideologiegeschichtlichen Voraussetzurigen, unter welchen Sokrates wirkte, zeigen eine entschiedene Parallele zu denen des historischen Materialismus. In abstrakter Kürze lassen sie sich folgendermaßen kennzeichnen:

Das antike wie das mittelalterliche Denken erscheint zunächst in der Form der Theologie, d. h. als Widerspruchslosigkeit anstrebende Systematisierung der religiösen Mythen, an welche das Volk glaubt; in Griechenland sind die Dokumente dieser ersten Denkperiode größtenteils untergegangen, weil es sich – wie in geringerem Grade doch auch bei der lateinischen Scholastik des Mittelalters – im wesentlichen um priesterliche Geheimlehre gehandelt hat.

Es folgt eine Periode individueller metaphysischer Schöpfung: plötzlich versuchen einzelne Denker nicht mehr zu gliedern und zu ergänzen, was im gesamten Volksbewusstsein als unreflektiert chaotische Weltanschauung lebendig ist, sondern gehen daran, selbständig einen Neubau des Weltbildes zu errichten, der aus gleicher Tiefe, ja wohl gar aus größerer als jener der Theologen, erwachsen soll. Der Götterlehre gegenüber stellt sich solch neues System am liebsten als Naturwissenschaft dar, so in den uns überlieferten Fragmenten der Thales, Anaximander, Anaximenes, Heraklit, Zenon, Parmenides, Xenophanes, Leukipp, Demokrit, Empedokles, Anaxagoras und der anderen griechischen Weisen, von denen nur einer, Pythagoras, uns auch nicht mit einem einzigen eigenen Worte erhalten ist. Naturgemäß stehen die neuen Systeme den „kirchlichen“ in schärfster Feindschaft gegenüber; hätte Galilei reden gedurft, seine Äußerungen über die theologischen Lehrgebäude seiner Zeit wären nicht minder scharf ausgefallen, als die des Xenophanes über den hellenischen Götterglauben.

Der Periode der großen Systeme folgt aber bald eine dritte, in welcher deren kritische Gehalte in kleine Münze umgeprägt und sie selbst gegen einander ausgespielt werden, so dass nicht mehr der Neubau aus gleicher Tiefe, sondern der Abbau von der Oberfläche her, nicht die Individualsystematik, sondern die Subjektivaphoristik, und schließlich, was das Wichtigste ist, nicht die Naturlehre, sondern die Gesellschaftskritik als das eigentliche Charakteristikum der Sophistik oder Aufklärung erscheint. Des Protagoras: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ ist in diesem Sinne als der skeptisch-resignierte Verzicht auf Wirklichkeitserkenntnis und die praktisch resolute Machtergreifung durch das absolut unverwurzelte Subjekt zu verstehen. Die Philosophie der englischen und französischen Empiristen und Sensualisten des 18. Jahrhunderts nicht anders.

Und es ist nun das ungemein Charakteristische, dass der liberalen, der „befreienden“ Aufklärung der Sophisten nicht aus dem konservativ-reaktionären Lager der Altgläubigen und nicht aus dem Anhängerkreise der großen Weisen heraus der siegreiche Gegner erwächst, sondern dass die Kritik der Kritik vor einem aller Theologie und Metaphysik so vollständig abgeneigten Manne durchgeführt wird, wie es Sokrates war.

Der alte strenge Forschungsgeist der deutschen Universität, welcher hinter der spätwilhelminischen Fassade auch heute noch nicht gestorben ist, hat uns in Gestalt einer Abhandlung der umfassenden Real-Encyclopädie der klassischen Altertumswissenschaft von Pauly-Wissowa[2] aus der Feder des Kieler Altphilologen Julius Stenzel ein neues Bild des Sokrates geschenkt, welches geeignet erscheint, die landlehrüblichen Vorstellungen über den unpolitischen Begriffespalter, aber auch die unzähligen verschiedenen Sokratesbilder der bisherigen Forschung zugleich verständlich und überflüssig zu machen.

Das Entscheidende ist wohl, dass Stenzels zunächst so unscheinbar anmutendes Prinzip, „Sokrates aus den Traditionen der Zeit vor ihm zu beurteilen“ (814.) sogleich mit der Vorstellung seines als des (womöglich ersten) einseitigen Individualisten aufräumt und ihr uns als den geradezu absolut gesellschaftsverbundenen Menschen offenbart:

„Für den Griechen steht zwischen ihm selbst und Gott die göttlich begründete Gemeinschaft, in der das einzelne Ich nicht ausgelöscht zu werden braucht, nicht in mystischer Versenkung in irgendetwas Unfassbares vernichtet wird, sondern im Gegenteil durch den Logos der Verständigung über Wirkliches erst erzeugt wird und zu seinem eigenen Selbst gelangt, das zugleich das »Selbst« der Gemeinschaft, ihre Norm und ihr Paradigma (Musterbeispiel) ist.“ (831.)

Also ist auch für den Griechen Sokrates „alles, was in irgendeiner Beziehung zur staatlichen Gemeinschaft steht, unmittelbar mit dem Göttlichen verknüpft“ (826) und darum von höherer als aller menschlichen Weisheit erfüllt, was der Sokratesjünger Xenophon „ebenso naiv wie schlagend ausdrückt: die Städte und Völker sind die weisesten, dauerndsten und frömmsten menschlichen Dinge“ (827.); „die Wirklichkeit der Polis, ihr Bestand garantiert zugleich auch die Wahrheit alles dessen, was von den Bürgern im Sinn dieser Gemeinschaft ausgesagt werden könnte” – ihr Missstand aber kritisiert genau im gleichen Sinne alle Doxai, alle Ideologien der Gesellschaftsglieder; und Sokrates, dem jede substantialisierende Staatsmystik, jedes Regierungstabu weltenfern liegt (828), Sokrates macht sich zum Sprachrohr oder vielmehr zum lebendigen Munde jener Kritik der bürgerlichen Meinungen durch die gesellschaftlichen Erscheinungen, nicht zuletzt durch die Gemeinsprache als solche selbst; so ist das Reden des Sokrates „Tätigkeit, denn das Leben der Gemeinschaft vollzieht sich in der Auseinandersetzung über die Grundbegriffe des Gemeinschaftslebens – in der Wirkung und Gegenwirkung der in Worten und Taten zum Ausdruck gelangenden Differenzen“ (827.), der Gesellschaftsgegensätze also, der Klassendifferenzen!

Dass aber diese noch nicht als Klassengegensätze bewusst, ja in ihrer Manifestation und Austragung noch gar keine solchen waren, dass der Kampf zwischen den großen Parasiten der Aristokratie und den kleinen Schmarotzern des „Demos“ gerade kein Klassenkampf war, eben dieser Umstand schuf die infolge seiner auch „reale“ Problematik, mit welcher Sokrates sich abmühte: das „alle“ mitreden wollten über die öffentlichen Angelegenheiten und keiner mehr etwas davon verstand, dass die liebe laute Unproduktivität Hans Dampf in allen Gassen spielte – Stenzel schreibt euphemistisch: „Die sozialen und ökonomischen Verhältnisse der antiken Polis ermöglichten eine weitgehende äußere Beschränkung der eigentlichen für Erwerb des Lebensunterhaltes oder für Verwaltung des Vermögens bestimmten Arbeitszeit“ (828.) – dass die frivolste jeunesse dorée, welche je existiert hat, alles, was dem Volke heilig war, verhöhnen und entweihen konnte (wir denken etwa an die Zerstörung der athenischen Hermen durch leider den „Sokratiker“ Alcibiades und seine Horde, auf welche freilich die Öffentlichkeit des leichtfertigen Athen ungleich energischer reagierte als das Volk der Dichter und Denker heutzutage auf die ähnlich zu bewertende aber von der öffentlichen Meinung fast unbeachtete antisemitische Schändung jüdischer Friedhöfe, deren immer neue Fälle berichtet werden); und was das Schlimmste war, dass nun diese Jugend sich auf die großen Weisen, gewissermaßen auf die Keyserlinge und Spengler jener Tage berief, welche die Relativität aller Werte und die Anfechtbarkeit aller Symbole des früheren Gemeinschaftslebens so überzeugend dargetan hatten. Aber freilich schob nicht ihnen die öffentliche Meinung am Ende jene Korruption aller Sitten und Meinungen in die Schuhe, welche sich von Tag zu Tag deutlicher offenbarte, sondern so wie heute nur die bösen Marxisten es sind, die immer alles niedergerissen haben, was dem Volke beilag war, so war es damals der einzige Sokrates, auf den der ganze unermessliche Hass nicht nur einer aus ihrem Sumpfe aufgestörten Bürgerlichkeit, sondern auch der klügsten, weitblickendsten, ja fast möchte man sagen edelsten Geister des konservativen Lagers gesammelt war. Und der geniale Sprecher dieser Kreise, der große Satiriker Aristophanes, gab dem Helden seiner blendenden Literaten-, d. h. Sophistenkomödie mit dem schönen Titel „Die Wolken“ den Namen Sokrates, weil er in diesem Manne die charakteristischste Verkörperung des nebulosen Schwätzers und Jugendverderbers zu sehen glaubte. Und die Geschworenen des Athener Gerichtshofes verurteilten diesen Mann zum Tode, weil er die Jugend verführt und die Götter gelästert bzw. also „neue Götter“ eingeführt habe, deren Dienst den der alten beeinträchtige. Und dieser Sokrates, der wie wir sahen, nichts anderes gewollt hatte. als „den in Kern der bestehenden Nomoi (Gesetze) gefundenen ewigen ungeschriebenen Gehalt verstehbar und damit wieder wirksam und anwendbar machen“ (855.), dieser Sokrates befand es für richtig, sich eben jenen Gesetzen auch noch unterzuordnen, als sie gegen die eigene Person ihres Verteidigers, gegen das Recht und also auch gegen die religiöse Würde der Gesellschaft angewendet wurden; er entwich nicht durch das Hintertürchen, das ihm die skandalscheuende Bureaukratie so gerne offen hielt, er trank den Schierlingsbecher und überließ Athen seinen Verdrehern, jenen Jüngern, die – gewiss im besten Glauben – alles aus seinen dunkelhellen Worten herausgelesen haben, nur das eine nicht, dass durch das eine Urteil diese Gesellschaft endgültig und für immer gerichtet und unhaltbar geworden war; denn das hätte auch für sie den Selbstmord bedeutet.

Wir erinnern uns des Leitworts dieser Abhandlung, also der Feststellung des jungen Marx, dass in Sokrates die innere Schranke der griechischen Philosophie in sich selbst zur Darstellung gelangt, und wir verstehen in diesem Augenblick, welches diese Schranke ist: es ist das Fehlen eines Proletariats, das Fehlen einer Klasse, welche imstande gewesen wäre, die vermorschte Oberschicht abzulösen; wir erblicken in Sokrates den gewaltigen Gegenpol Karl Marx‘ selbst, den pathetisch kassandrischen gegenüber dem revolutionär prophetischen Philosophen, den ersten, der die Welt nicht bloß zu interpretieren, sondern zu verändern bemüht war, der es aber nicht konnte, nicht einmal bewusst wollte, weil die große Revolutionierung der Massen – von seiten des Anspruchs durch das Christentum, von seiten seiner Erfüllbarkeit durch die Industrie – noch vor ihm und nicht schon hinter ihm lag.

Er war der erste Philosoph, denn nur „sophoi“ (Weise) und Sophisten, nur – vermeintlich – Wissende hatte es vor ihm gegeben, gerade darum aber keine wahrhaften Philosophen, keine leidenschaftlichsten Liebhaber der Wahrheit, welche sie nie zu besitzen glauben, weil sie ihr immer in strahlende Ferne sehnlich Gefolgschaft leisten. Der Marxismus aber stellt die Hauptströmung dar im Rahmen jener Wiederentdeckung der Philosophie, welche uns die Wende zum 19. Jahrhundert gebracht hat. Sie begann mit Kants Kritik, genau wie die sokratische: „Kritik der Kritik“, nämlich der flachen aufklärerischen Wald- und Wiesenweisheit über Gott und Welt, Natur und Mensch. Sie setzte sich fort in der Verdrehung der kantischen Transzendentalphilosophie durch jene Nachfolger, welche wie die des Sokrates nicht imstande waren zu begreifen, dass jede festgelegte Behauptung des Meisters nur ein vorläufiger Hinweis hätte sein sollen, keine Feststellung für die Ewigkeit, und welche nun aus Konsequenzen solcher vermeintlichen Feststellungen die herrlichsten Luftschlösser errichteten, die wohl je ein menschliches Hirn benebelt haben. Aber glücklicherweise war diesmal die sokratische Potenz nicht in der Person eines einzigen Mannes erschöpft, sondern Kierkegaard kam als zweiter und lief durch die Straßen Kopenhagens wie Sokrates durch jene Athens, und betrachtete die Menschen in ihrem Tun und Lassen und verwickelte sie in dialektische Gespräche und trieb ihnen die Meinung aus, dass von der alten gemeinsamen Religion noch irgend etwas Echtes in ihnen lebendig sei, und griff in erschütternden Monaten die ganze dänische Staatskirche an, dass sie in ihren Grundfesten wankte, und starb – und drehte sich heute wohl jeden Tag im Grabe herum, wenn er vernehmen könnte, wie gewandte Professoren eine vorgeblich dialektische, eine „negative“ Theologie aus seiner Kritik gemacht haben, welche es ihnen erlaubt, sich jede Einmischung in die dialektischen Positionen und Negationen des ökonomisch politischen Tageskampfes zu ersparen.[3]

Aber inzwischen war, auf den Tag fünf Jahre nach Sören Kierkegaard, Karl Marx geboren worden, und seine Kritik der Kritik wurde unumstößlich, weil er sie nicht bloß dem vieldeutigen Buchstaben und nicht daneben nur dem flüchtigen Gesprächswort anvertraute, sondern sie vor allem einer Kassenbewegung lebendiger Menschen einimpfte, in welcher sie lebt und leben wird und jede Erstarrung ihrer jeweils zeitbedingten äußeren Gestalt mit vitaler politischer Notwendigkeit immer von neuem durchbricht.[4] Als was sie Sokrates begründet hatte, das ist die Philosophie erst bei Marx endgültig geworden: Ideologiekritik, weil sie erst bei ihm absolut praktisch und vollziehbar geworden ist. Sie hat damit nicht aufgehört, Grundwissenschaft zu sein und als solche fortentwickelt zu werden, aber sie hat begonnen, weit mehr als Wissenschaft – mit technischer Benutzbarkeit – nämlich Lehre – mit teleologischer Bestimmungskraft – nicht mehr nur zu scheinen oder gar zu posieren, sondern wirklich zu sein,

Sie weiß nun von sich selbst, was ihr von ihrem „identischen Subjekt-Objekt“ (Lukacs), der proletarisierten Menschheit bewusst ist, und was Sokrates in der griechisch begrenzten Gestalt sah:

„Gemeinschaft, Staat, Polis ist nie, sie entsteht dauernd und erzeugt sich aus einer Gesamtgnome (Überzeugung), deren Gehalt, Sinn und Gegenstand durch die Wirklichkeit der Polis garantiert ist, und deren Kraft den Einzelnen ebenso bildet und formt wie sie erst in Handlungen, in Akten der Gnome des Einzelnen sich verwirklicht.“ (830.)

Eben dar um kehrt diese Lehre Karl Marx‘ aus allem romantischen Irrationalismus zurück zu jenem „sokratischen »Intellektualismus«, gemäß dem jedes Wissen unwiderstehlich zur Verwirklichung treibt, niemand also wissend fehlt“ (831); aus allem idealistischen Rigorismus zu dem sokratischen „Eudämonismus“, der da weiß: „Es ist das Schönste was über eine Gemeinschaft gesagt werden kann, dass es dem, der recht handelt, gerade dadurch gut gehen muss“ (843.), anlässlich der Behandlung des griechischen Synonyms „Eu prattein“, welches ebenso „Wohlverhalten“ wie „Wohlstand“ bedeutet); welcher darum ganz ungeniert eine Gesellschaftsordnung bekämpft, in der „zwischen Sinnenglück und Seelenfrieden“ dem Menschen nur die „bange Wahl“ bleibt (Schiller)[5] und welcher sich kühn auch „das letzte Motiv aller Sokratik“ zu eigen. macht: „Jenes alte Ideal des Zusammenfalles von Ideal und Wirklichkeit neu zu verstehen und zu bewahren“ (854). Mit der Anerkennung solchen „alten Ideals“ aber ist nun eben nicht nur über das Ideal und seinen „unutopischen Charakters“ (855.), sondern auch über die Wirklichkeit etwas gesagt: Dass sie nämlich nicht als das Antiideal wirklich ist, als welches sie der Unmittelbarkeit unseres Blicks wirklich erscheint; dass es also, wie Marx gegen Feuerbach ausführte, verkehrt ist, wenn „der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekte oder der Anschauung gefasst wird“, also eben wie sie uns erscheint: „nicht aber als menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis“,[6] wie wir sie übten und üben, nämlich als Korruption aus dem wirklich seienden „idealen“ in den unmittelbar erscheinenden antiidealen Zustand und als Revolution gegen diesen. Beides aber ist in dialektisch entzweiter Einheit die erfahrbare uns umgebende Alltagswirklichkeit, wie sie uns Sokrates und Marx begreifen lehren; und nirgends gibt es neben oder über ihr eine Sonntagswirklichkeit, die anders wäre, sondern ungegeben wirkt und ist in ihr die Wirklichkeit, nämlich eben sie, nicht als uns begreifbar zwiespältig erscheinende, sondern als unbegreiflich an und für sich einige. Diese Selbstverständlichkeit (die sich etwa in dem ganz naiven „Monismus“ der Massen Ausdruck verschafft) müsste man nicht besonders hervorheben, wenn sie nicht von großen und kleinen Geistern im marxistischen Lager immer einmal wieder verkannt und manche praktische Unzuträglichkeit dadurch herbeigeführt würde. Georg Lukacs zum Beispiel formuliert einerseits das folgende vollkommen schlüssige hypothetische Urteil:

„Die Wahrheit, die in der Periode der »Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft«, des Kampfes der Klassen, keine andere Funktion haben kann als die verschiedenen hier möglichen Stellungen zu einer – im Wesen – unbegriffenen Welt den Anforderungen der Bewältigung der Umwelt und des Kampfes gemäß zu fixieren, die hier also nur eine »Objektivität« in bezug auf den Standpunkt und der ihr“ (wohl Druckfehler für „die ihm”, den Standpunkt nämlich) „zugeordneten Gegenständlichkeitsformen der einzelnen Klassen haben kann, erringt, sobald die Menschheit ihren eigenen Lebensgrund klar durchschaut und ihn dementsprechend umgestaltet, einen ganz neuen Aspekt. Wenn die Vereinigung von Theorie und Praxis, die Möglichkeit des Veränderns der Wirklichkeit erlangt ist, haben das Absolute und sein »relativistischer« Gegenpol gleichzeitig ihre geschichtliche Rolle ausgespielt. Denn infolge des praktischen Durchschauens und des realen Umwälzens von diesem Lebensgrunde verschwindet mit ihnen zugleich jene Wirklichkeit, deren gedanklicher Ausdruck das Absolute und das Relative in gleicher Weise gewesen sind.“ (Geschichte und Klassenbewusstsein S. 206. f. Sperrungen von mir.)

Aus der vorsichtig gemeinten Verklausulierung gelöst, besagt dieser Satz: „Wenn die falsche Wirklichkeit verschwunden sein wird, wird die Wahrheit da sein“, soll nun damit weder ihr Herabgeholtwerden aus einem platonischen Ideenhimmel noch ihr okkasionalistisches Entspringen aus dem Nichts behauptet sein, wie wir bei Lukacs mit Sicherheit annehmen dürfen, so ist die Wahrheit schon jetzt, nur noch nicht da, nur doch nicht gegeben; und nicht nur „gegen die Sophisten“ (Lukacs S. 205.), sondern ganz allgemein wird Sokrates (aber deshalb noch keineswegs der mit seinem Standpunkte unverwechselbare „Logismus und die Wertlehre“!) „recht behalten müssen“.

Wie aber kann dann anderseits der gleiche Lukacs so ganz vergessen, dass das sokratische „Oida ouk eidos“ mit „Ich weiß mich als Nichtwissenden, ich weiß, dass ich kein wahrhaft Wissender bin“, und nicht mit dem üblichen „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ übersetzt werden muss, d. h., dass auch das marxistische Nichtwissen (sondern nur schöpferische Kritik üben) ein Kennen und relatives Erkennen von ungezählten Gegenständlichkeiten, ein Eingehen und relatives Aufgehen in den verschiedenartigsten Personen keineswegs ausschließt? Wie kann er also ohne jede Einschränkung schreiben: „Natur ist eine gesellschaftliche Kategorie” (S. 240.), während jeder unserer „Naturfreunde“ weiß, dass sie vor allem eine außergesellschaftliche Wirklichkeit ist, welche auch heute schon, und auch ehe die Emanzipation des Proletariats vollendet ist, jedem, der sie aufsucht, Kraft und Freude spendet? Und wie kann er der Lebensgestaltungsfreiheit des sozialdemokratischen Arbeiters die sektiererische Disziplingebundenheit des kommunistischen Berufsrevolutionärs als Ideal gegenüberstellen (s. 298. ff.), das „Eins ist not“ in ein „Nur eins ist erlaubt“ verdrehend? Er kann es, weil ihm der großen Führer sokratische Mäßigung abgeht, weil sein „historischer Materialismus“ zum letzten Ende doch wieder eine „verkappte Religion“ ist, er kann es, mit einem Wort, weil er Leninist ist. Und darum übertreibt er auch seine im Ansatz so vorzügliche Kritik des Lassalleschen Staatsidealismus bis zu jener völligen Verkennung des temporären Universalitätscharakters des Staates, die dann in der russischen Praxis als seine Instrumentalisierung zu Fraktionszwecken herauskommt, wovon hier nicht weiter gesprochen werden kann.[7]

Denn an dieser Stelle muss das nur noch eingeführte sokratische Kein-Wissender-sein als die typisch menschliche Situation etwas näher betrachtet und in ihrer vollständigen Entgegensetzung zu all jenem unmenschlichen Sektierertum, aber auch zu allem vormenschlichen Heroismus gekennzeichnet werden.

Marx bemerkt bei der Erörterung des Begriffes des Weisen, nachdem er von der ursprünglichen Verschmolzenheit von Idealität und Substanz, also auf gesellschaftlichem Gebiet von Sittlichkeit und Sitte gesprochen hat: „Dass die Idealität der Substanz in den subjektiven Geist getreten, von ihr selbst abgefallen ist, ist ein Sprung, ein in dem substantiellen Leben selbst bedingter Abfall von demselben. Damit ist diese seine Bestimmung dem Subjekt selbst ein Geschehen, eine fremde Macht, als deren Träger es sich vorfindet, das Daimonion des Sokrates. Das Daimonion ist die unmittelbare Erscheinung davon, dass dem griechischen Leben die Philosophie eben sowohl ein nur Innerliches als nur Äußerliches ist. Durch die Bestimmung des Daimonions ist das Subjekt als empirisch einzelnes bestimmt, weil es das naturhafte Abbrechen von dem substantiellen, als naturbedingtes Leben in diesem Leben ist, denn das Daimonion erscheint als Naturbestimmung. Die Sophisten sind selbst diese Dämonen, die sich nicht von ihrem Tun unterscheiden. Sokrates hat das Bewusstsein, das Daimonion in sich zu tragen. Sokrates ist die substantielle Weise, in der die Substanz sich selbst im Subjekt verliert.“ (I, 1, S. 103. f.)

Setzt man überall für Substanz Tradition und für substantiell traditionsgebunden, so versteht man mit Leichtigkeit, dass Marx hier die Schranke des Sokrates, die von außen im Fehlen eines Proletariats lag, von innen als seine Selbstzerspaltung in die schöpferische Kraft des Ich unter dem Namen „Daimonion“ und dieses Ich selbst aufgewiesen hat, welches eben darum traditionsbefangen blieb (das Daimonion warnte nur, wies aber nicht was zu tun sei, weil nur Zerstörung der Tradition möglich gewesen wäre, welche das Ich als Bewusstseinsschwelle seines Dämons sich nicht von ihm gebieten lassen mochte). Die Philosophie war eben nur innerlich, sofern sie nicht nach außen wirken, nur äußerlich, sofern sie nicht aus freier individueller Schöpfung stammen durfte. Auch ein Sokrates entschied sich nicht als er selbst, sondern als ein bloßer Repräsentant seines Daimonions, wie andere Heroen als Repräsentanten Apolls oder Dionysos‘ oder niederer „Gottheiten“; Personen im heutigen Vollsinn des Wortes hat es in der Antike überhaupt noch nicht gegeben, sondern nur „Personae“, Masken, durch welche ein „höheres Wesen“ sprach.

Demgegenüber wird nun unsere Zeit von Kierkegaard folgendermaßen charakterisiert: „Das wird der absolute Unterschied zwischen der alten und der neuen Zeit sein“, dass das Totale nicht die Konkretion ist, die unterstützt, die den Einzelnen ausbildet, ohne ihn doch absolut zu entwickeln, sondern eine Abstraktion ist, die in ihrer abstrakten Gleichheit abstoßend ihm dazu hilft, absolut gebildet zu werden – wenn er nicht umkommt. „Das Trostlose im Altertum war, dass der Ausgezeichnete war, was die anderen nicht sein konnten, das Begeisternde wird sein, dass der, der religiös sich selbst gewann, nur ist, was alle sein können.“ (Kritik der Gegenwart, Seite 42.)

Wir haben also nicht mehr „Gemeinschaft“,[8] die besondert, aber auch begrenzt, sondern durchaus Gesellschaft, die vereinzelt, aber dafür entschränkt; und in der entschlossenen Bejahung solcher Gesellschaft gegen alle romantische Reaktion begegnet sich noch einmal der historische Materialist mit jenem Sokrates, der als erster und letzter antiker Heros schon seinen eigenen Dämon repräsentierte, während er noch den guten Genius seiner Vaterstadt zu verkörpern schien, welchem als erstem „heilige Nüchternheit“ zuzusprechen war, welchem die Mania, der erleichternde Wahnsinn gänzlich abging (870.), und den eben deshalb jenes Orakel als den weisesten aller Menschen bezeichnet hat,

Selbst die Nüchternheit aber wird nun für den historischen Materialisten wieder „begeisternd“, wie Kierkegaard sagt, weil er im Gegensatz zu Sokrates zwar das Bewusstsein hat, „in einer heillosen Zeit zu leben“ (835.), aber, wo jenem nur stumpfe Fakten gegenüberstanden, welche die Dialektik auf bloße Rede, und die „Mäeutik“ auf rein theoretische „Geburtshilfe“ beschränkten, wir zur umfassendsten und befreienden Tat aufgefordert sind, und unsere Philosophie eben darin besteht, dass wir uns und andere vor jeder „Philosophie“, jeder „Flucht in die Deutung“ (Mennicke) behüten müssen, bei Strafe sofortigen Macht-, und Wirkungsmöglichkeitenverlustes. Ist doch der historische Materialismus nicht abermals eine Ideologie, ein Lehrsystem, dass wir ihn auch noch überwinden müssten, um frei zu sein, sondern eine kritische Methode, ein Prüfstein, welcher die zwangsläufigen Gedanken der Menschen aus ihrer Schaffensweise verstehen, ihre Träume durch ihren Alltag zerstören, ihren Alltag durch hoffnungsvolle Arbeit für einen besseren sich verklären, ihre Schaffensweise durch das verantwortliche Hineinwirken des Gedankens revolutionieren, und schließlich also diese Menschen sich selbst gewinnen lässt.

 

[1] Die Gesellschaft. Internationale Revue für Sozialismus und Politik, J. H. W. Dietz Nachf., Berlin, August 1928 (Jg. 5 Nr. 8), 150–162. – der Hrsg.

[2] Bd. IIIa; I. B. Metzler, Stuttgart 1927; Zitate im folgenden nur mit Spaltenziffer. – Das sogleich folgende Urteil über die Sokratesbilder der bisherigen Forschung bleibt aufrechterhalten auch nach der inzwischen erfolgten Kenntnisnahme von Albert Mirgelers „Sokrates“ (Jakob Tegner, Hellerau), einem Buche, das die Bedeutung der ametaphysischen Nurmenschlichkeit Sokrates‘ richtig hervortreten, seine restlose Sozialität aber nahezu verschwinden lässt.

[3] Man vergleiche die hervorragende Studie von Hermann Diem „Methode der Kierkegaardforschung“ in der Zweimonatsschrift „Zwischen den Zeiten“ 1928, Heft 2, durch die sich freilich auch kein „Ruhe und Ordnung” liebender Geistesbürger aus seiner Bequemlichkeit rütteln lassen wird, so wenig wie durch Kierkegaard selbst.

[4] Es wäre völlig sinnlos, diese Seiten übermäßig auszudehnen um eine unmäßig zusammengedrängte Skizze der philosophiewissenschaftlichen Leistung der drei genannten Denker hineinzuzwängen. Wer sie noch nicht kennt, muss schon zu den Quellen und den besten einführenden Schriften darüber greifen, darum seien hier einige genannt – wenigstens für das Studium von Kant und Kierkegaard, da es für Marx an dieser Stelle wohl nicht nötig ist. So wenig nun, wie man von diesem zuerst das „Kapital“, so wenig darf man von Kant zuerst die „Kritik der reinen Vernunft“ lesen, wenn man sich nicht selbst den Weg zu ihm durch unnötige Erschwerung verbauen will. Sondern man nehme etwa erst einmal getrost ein so „dilettantisches“ Buch zur Hand wie des sonst ja wirklich nicht lesenswerten Houston Stewart Chamberlain vorzüglichen „Immanuel Kant“ (Bruckmann, München), welcher auch in seiner Entwicklung des Dinges an sich dem schwachen Punkt der meisten Kantausleger, nicht Kants selbst, wie sie der Welt weismachen möchten – eine vorzügliche Einführung in die lebendige Atmosphäre der kantischen Transzendentalphilosophie zu bieten hat. Dann lese man von Kant selbst einiges aus den kleineren Schriften kulturphilosophischer Natur; darauf greife man zu Max Adlers vorzüglichem und nur wiederum in der Verdiesseitigung des Dinges an sich (wie Chamberlain in seiner Verjenseitigung) zu weit gehendem Standardwerke „Das Soziologische in Kants Erkenntniskritik“ und wenn man da hindurchgedrungen ist, dann schreite man getrost zu jedem beliebigen Werke von Kant selbst; dann bietet es einem keine unüberwindlichen Schwierigkeiten mehr.

Weit weniger wohlgeebnet ist der Weg, der zu Sören Kierkegaard führt; das meiste, was heute von seinen vorgeblichen Schülern über ihn geschrieben wird, ist eben eher geeignet von seinen Zielen weg als zu ihnen hin zu führen – etwa so, wie vieles, was Platon über Sokrates schrieb. Aber auch der redliche Christoph Schrempf, der in Frommanns philosophischen Taschenbüchern eine Auswahl aus Kierkegaards Tagebuchnotizen veröffentlichte, hat den Langumworbenen nicht verstanden, indem er seine Selbstkritik letztlich als Verzweiflung deutete. So greift man wohl stets am besten zu den Kierkegaardübersetzungen und -Nachworten von Theodor Haecker, zunächst etwa zu dem billigen aber schwerwiegenden Bändchen „Kritik der Gegenwart“ (Brenner-Verlag, Innsbruck) und dann auch zu den einzelnen Bänden der Diederichsausgabe, nachdem man vielleicht zu allererst die unerhört tiefe Kunst des größten dänischen Schriftstellers aus seinem, dem großen Präludium „Entweder-Oder“ entnommenen „Tagebuch eines Verführers“ (Georg Müller, München) kennengelernt hat

[5] Nichts wird von den bürgerlichen deutschen Philosophiebeflissenen der Sozialdemokratie schwerer verdacht als dass sie den Massen „das Glück“ verspricht. Nicht nur ein Nietzsche höhnt darüber und behauptet stolz von sich „Trachte ich denn nach dem Glück? Ich trachte nach meinem Werke!“; auch jenes gar nicht „sozial“ genug sein könnende Neukantianertum der Jahrhundertwende und sein mannigfach schillernder Nachwuchs ist von der Ewigkeit jenes Zwiespalts zwischen sinnlicher und sittlicher Lebenserfüllung überzeugt, hält, wieder mit Schiller, die Rede, dass das Gute siegt, für ein „Wort des Wahns“, unfähig einzusehen, dass erst der gesellschaftliche Sündenfall solchen Zustand – als zu überwindenden – herbeigeführt, das unaustilgbare Glücksverlangen, sinnliche Glücksverlangen des Volkes ihn immerdar verurteilt und jede prophetische Glückverheißung dieses Urteil bestätigt hat.

[6] Marx will also sagen, dass die Tag für Tag auf uns lastende Wirklichkeit zum Teil vergegenständlichte Wirksamkeit von Menschen und als solche eben durchaus korrigierbar, revolutionierbar, ja heute schon revolutionäre Gegenwirksamkeit mitenthaltend ist, also die Wirklichkeit viel tiefer und reicher, als das, was unser vom eigenen gesellschaftlichen Sein getrübtes Bewusstsein augenblicklich davon erkennt.

[7] Es erscheint notwendig, zu betonen, dass sich unsere Kritik an Lukacs „Geschichte und Klassenbewusstsein“ (Berlin, 1922) bis ins Letzte von der „neukantianischen“ Siegfried Marcks im „Logos“ (Band XV, S. 41. ff.) unterscheidet, wo zunächst schon die eigentliche Position der praktischen Theorie völlig missverstanden und infolge dessen dem Denken und dem Handeln verschiedene Dimensionalität zugesprochen wird, während sonst heute sogar bürgerliche Denker, wie Paul Häberlin und Theodor Litt, das Denken als Phase innerhalb der Handlung zu verstehen begonnen haben. Weiter redet Marck allen Ernstes von einer „Abflachung“ statt von einer Vertiefung des „in seinem Gehalt zeitlosen Problems der Beziehung von Denken und Sein, wenn es ganz und gar zu einer historisch-soziologischen Angelegenheit gemacht wird“ (S. 46.) und zeigt damit, dass er die Verewigung der bürgerlichen Problematik bedingungslos mitmacht (was man freilich auch aus seiner Art von „Marxistischer Staatsbejahung“ erkennen konnte, welche Staatsverabsolutierung bedeutet und nicht dialektische Ausnutzung des Universalitätsanspruches des bürgerlichen Staates, wie Rudolf Hilferding und Karl Renner sie uns gelehrt haben, wie Max Adler sie als Staatsvergottung missverstand, weil er, wiederum ein Neukantianer – nur in „ewigen“ Bejahungen und Verneinungen, nicht aber dialektisch zu denken vermag).

Wenn schließlich Marck fragt: „Sind – wir – als Subjekt der zeitlichen Geschichte der – Geist, der die Natur und“ – in verräterischer Nebenordnung – die „Welten der Werte“ erzeugt?, so ist darauf zu antworten, dass auch dieser vermeintliche Blattschuss an der wahrhaft verwundbaren Stelle Lukacs‘ vorbeitrifft, weil er – hinsichtlich der allein diskutablen „Naturerzeugung“ – mehr widerlegt, als jener behauptet hatte. Ist ihm doch nur vorzuwerfen, dass er um der mangelnden Wahrheit unseres Naturbegriffs willen die Wirksamkeit der Natur ausschaltet, nicht aber dass er ihre außergeschichtliche – aber eben erst geschichtlich bedeutsame – Wirklichkeit leugnet, welche allerdings wir – als Subjekt der Geschichte – mitkorrumpiert haben und mitrevolutionieren!

[8] Im exakten Wortsinne Tönnies‘: Traditions- und Blutsverbundenheit.