Paul Eppstein

Die Fragestellung nach der Wirklichkeit im historischen Materialismus[1]

 

I. Begründung der Problemstellung – II. Literarischer Hinweis auf die empirio-sensualistische, kritizistische und hegelische Fundierung (Salomon, Marck, Vogel) – Der Wirklichkeitsaspekt in der „deutschen Ideologie” – III. Innenbetrachtung des historischen Materialismus – Die Abbildtheorie in der Fassung von Lenin – Das Sinneszeugnis und die natürliche Realitätsthesis – Ding an sich und Erscheinung – Das Gegebene – Problem der Transzendenz. – IV. Objektive Interpretation der naiven Abbildtheorie – Die „Außenwelt” – Sublimierung in transzendental-realistischen Sinn – Abbild und Repräsentation – V. Phänomenologische Kontrolle –  Revision der Außenweltthese – Durchbrechung der unmittelbaren Wirklichkeit – Ansatz einer phänomenologischen Analyse des Ökonomischen – Mögliche Aufhebung der phänomenalen Dualität von Denken und Sein. – VI. Grundintention der sublimierten Abbildtheorie nach einem dynamischen Wirklichkeitsbegriff – Die gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit und Vorbereitung der Identitätsthese – VII. Die Position Lukacs’ – Subjekt-Objekt-Identität und gnoseologische Transzendenz – Rolle der Dialektik – Wirklichkeit als Geschichte – Kontemplation und Aktion – VIII. Naturalistische und historische Elemente im historischen Materialismus – Naturerkenntnis und Geschichtserkenntnis – Einheit von Subjekt und Objekt als erkenntnistheoretischer Monismus. – IX. Hinweis auf die wissenssoziologische Problematik – Position von Karl Mannheim – Abgrenzung vom historischen Materialismus – Die Position Pareto-Ziegler – Naturalistische und historische Soziologie – Problem des Perspektivismus – X. Ontologische Fundierung des historischen Materialismus – Wesensgesetzlichkeit der Geschichte – Methodische und sachliche Zusammenfassung

 

 

I.

Der Marxismus hat einen spezifischen Wirklichkeitsbegriff. Den gilt es, in dieser Untersuchung zu analysieren. Neuere Arbeiten (von Karl Mannheim)[2] haben gezeigt, dass unser Denken keineswegs auf einer einheitlichen Basis beruht. Es wurde klar, dass (unter anderem) auch das Grundlegendste in unserem Denksystem, der Wirklichkeitsbegriff, bereits uneinheitlich ist und je nach den verschiedenen sich bekämpfen den Strömungen differiert. Es wurde auch, was noch wichtiger ist, sichtbar, wie hinter der Differenzierung des Wirklichkeitsbegriffs eine historische, soziale und politische Differenzierung steht – dass also in diesem Sinne unsere Wirklichkeitsbegriffe historisch-sozial differenziert sind.

Der marxistische Wirklichkeitsbegriff erwies sich in dieser historischen und soziologischen Analyse zunächst als ein Gegenbegriff des romantischen „Lebensbegriffs“. Schon bei Hegel vollzog sich durch die Abhebung seines „Geist“-Begriffs ein Vorstoß gegen das bloß irrationale Dahinströmen und gegen das Unerfassbare des verinnerlichten Lebensbegriffs der Romantik. Insofern wurde Hegel ein Vorläufer der marxistischen Intention, die sich aber dann in ganz anderer Weise konkretisierte.

Während Mannheim rein historisch-soziologisch verfährt und die Genesis des marxistischen Wirklichkeitsbegriffs aufweist, soll unsere Fragestellung zunächst eine „systematische“, das soll heißen, eine unhistorische-unsoziologische sein. In phänomenologischer Analyse wollen wir denjenigen Wirklichkeitsbegriff, der vom historischen Materialismus als der Geschichtsauffassung des Marxismus vorausgesetzt wird, uns vergegenwärtigen und in seinen verschiedenen Spielarten betrachten,

Diese Betrachtung wird zeigen, wie innerhalb des Marxismus selber die Wirklichkeitsbegriffe differieren. Zwei Pole stellen sich deutlich heraus, in denen sich das Problem der Wirklichkeit und die Bewältigung des Erkenntnisaktes gestaltet: Der Versuch einer abbildtheoretischen Auslegung und ihm gegenüber der Versuch einer identitätsphilosophischen Lösung. Als Vertreter dieser polaren Auffassungen werden wir Lenin und Lukacs einander konfrontieren.

Sachlich haben wir uns zur Aufgabe gestellt zu zeigen, und zwar auf Grund einer phänomenologischen Analyse, was die Abbildtheorie des historischen Materialismus eigentlich meint und was ihr Wesen ausmacht. Dies geschieht an Hand eines ihrer neueren ausgesprochenen Vertreter: Lenin. Der so herausgestellte Wirklichkeitsbegriff wird dann dem dialektischen, etwa in der Prägung von Lukacs, gegenübergestellt und gefragt, ob und wie sich die Abbildtheorie (Lenin) mit der Subjekt-Objekt-Identität (Lukacs) vereinbaren lässt. Dahinter spielt sich der methodische Streit der Wissenssoziologie ab, deren Auseinandersetzung mit der Problematik des historischen Materialismus es für die Gestaltung seines Wirklichkeitsansatzes fruchtbar zu machen gilt.

Sofort taucht aber ein Bedenken auf und zwar die Frage, ob unsere Methode, mit der wir an die Analyse herangehen, wirklich standpunktfrei sei. Die Phänomenologie gibt vor,

standpunktfrei zu sein. Die Berechtigung, aber auch die Grenzen dieses Anspruchs lassen sich in der Anwendung der Methode am ehesten zeigen. Als Nebenprodukt dieser Untersuchung wird sich aufweisen lassen, wie diese Methode am historischen Gegenstand anfangs fruchtbar zu machen ist, aber am Rande der Problematik fraglich wird, ja, dass die phänomenologische Methode einstweilen am Problem der Geschichte scheitert.[3]

Methodisch versuchen wir also, einen in der Zeit entstandenen geschichtsphilosophischen Aspekt, den historischen Materialismus, phänomenologisch zu analysieren. Gelingt es der phänomenologischen Analyse, das Wesen der Wirklichkeit im Geschichtsmaterialismus standpunktfrei zu offenbaren? Oder wird nicht gerade ihr Ergebnis erst recht zu einer Enthüllung des Standpunkts („der Perspektive“) führen müssen, also trotz der Absicht unhistorisch zu sein, wie es die statische Richtung der Phänomenologie vorgibt, wieder die Genesis einschalten und historisch werden müssen? Gerade wegen dieser Bedenken gegen die Methode wollen wir versuchen, sie am historischen Objekt konsequent zu Ende zu denken. Wir glauben, den Nachweis erbringen zu können, dass einstweilen die spezifisch-statische Denkweise der phänomenologischen Methode den dialektischen Wirklichkeitsbegriff des Marxismus nicht zu erfassen vermag.

Der historische Materialismus soll hingenommen werden mit seinem Geltungsanspruch auf allgemeine Gültigkeit, so wie er sich selbst gibt. Er erscheint vorerst als sich entfaltender geistiger Gehalt, als geschichtsphilosophischer Aspekt, der das historische Werden in seiner Determinierung durch den ökonomischen Prozess einsichtig macht. Dieser sich absolut gebende historische Materialismus hat (wie oben gesagt) selbst mehrere Spielarten und dementsprechend auch mehrere Wirklichkeitsbegriffe. Ihre Verschiedenheit wollen wir mit der phänomenologischen Methode herausarbeiten und zugleich aber auch fragen, ob man diese Differenzen als Nuancen interpretieren könnte und ob hinter ihnen nicht doch ein spezifischer sie umfassender, sie erst ermöglichender Wirklichkeitsbegriff durchscheint. In diesem Sinne wollen wir eine „Objektivierung“ versuchen, das soll heißen, eine Art des Hinnehmens einer Theorie in ihrer Apodiktizität, in der von ihr selbst beanspruchten Geltung. Dieser Versuch bedeutet aber – und das ist das Problematische an ihm – ein Hinausgehen über eine perspektivische Zurechnung. Im Ergebnis wird sich zeigen lassen, dass eben trotz aller Objektivierungsversuche schon der Wirklichkeitsansatz perspektivisch gebrochen ist.

Bisher konnte man zu dieser Fragestellung nicht kommen, weil man einen aus einem jeweils herangebrachten System stammenden Wirklichkeitsbegriff ohne weiteres in den Marxismus hineinprojizierte; so etwa Max Adler einen gebrochenen Kantischen Wirklichkeitsbegriff, andere einen Machistischen oder Hegelischen Wirklichkeitsbegriff. Diese Projektionen, die systematischen Ursprungs sind, müssen als solche enthüllt werden, damit die spezifische Wirklichkeitsstruktur des marxistischen Denkens sich herausstellen kann.

Um zu einem bereinigten und theoretisch diskutierbaren Bild des Marxismus zu gelangen, müssen wir bewusst bestimmte Elemente streichen, so etwa propagandistische und konstruktive Elemente, wie der berüchtigte „Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit“ oder die Entwicklung von der „Unvernunft zur Vernunft“. Jedenfalls sind diese Punkte, die man als propagandistisch bezeichnet könnte, für uns nicht entscheidend; sie stehen als solche hier ja gar nicht in Frage.

Bestimmte wichtige und interessante Fragestellungen aus der Kontroverse um den historischen Materialismus fallen weiterhin aus unserem Untersuchungsbezirk heraus: Zunächst die Frage, ob der historische Materialismus Weltanschauung, Geschichtsphilosophie, Geschichtstheorie, psychologische Hypothese[4] oder nur Leitfaden, a priorisches teleologisches Prinzip,[5] ein als Untersuchungsprinzip dienendes Orientierungsmittel[6] bedeute. Auch geht der Streit um die Spannungen zwischen der Unbedingtheit eines strengen Kausaldeterminismus[7] sozialer oder gar naturaler Observanz[8] und einer voluntaristischen Auslegung.[9] Hierbei kann gerade der Voluntarismus, in dem er die Konservierung des historischen Materialismus in der proletarischen Masse, in den konkreten Individuum des Arbeiters[10] in den Blick bekommen will, einen berechtigten „Wirklichkeits-anspruch erheben, der sich allerdings als psychologischer von dem hier zu exponierenden erkenntnistheoretischen Wirklichkeitsaspekt grundsätzlich unterscheidet. Daher sind auch alle diese Probleme für unsere Fragestellung nicht relevant.

Auch kann hier nicht einmal der Versuch angedeutet werden, das Problem der Wirklichkeit schulphilosophisch und systemgenetisch zu entwickeln, um die Aequivokationen des Wirklichkeitsbegriffes vorwegzunehmen und zunächst das „Wesen“ der Wirklichkeit auszulegen, wie es sich den einzelnen Systemen präsentiert. Auch diese im engeren Sinn philosophische Fragestellung muss für uns ausschalten.[11]

Als Crux der marxistischen Wirklichkeitsproblematik erscheint die Entwicklung von einer naiv empiristischen Abbildtheorie zu der Subjekt-Objekt-Identität neuhegelischer Observanz. Der Prozess beginnt damit, dass Marx und Engels sich gegen die Hegelsche Ontologie (einer Identität von Denken und Sein) wandten und dass sie eine idealistische Abbildtheorie (mit der Annahme einer Präexistenz der Idee) ablehnten,[12] dieser eine naiv empiristische Abbildtheorie entgegensetzten, die dann Lenin besonders ausgebildet hat. Diese empiristische naiv-realistische Abbildtheorie (die als umgekehrter Platonismus kritisiert werden konnte) schlägt im Fortgang des Prozesses (bei Lukacs) um in eine Identitätsphilosophie neuhegelscher Spielart.

Weil also in der Entwicklung der Problematik die Abbildtheorie im Zentrum stand, wird auch in unseren Ausführungen und unserer Kritik die Analyse der Abbildtheorie eine zentrale Stellung einnehmen müssen. Mit dem Vorwurf der Plumpheit, Primitivität und Naivität ist die Abbildtheorie[13] noch nicht erledigt. Gerade im Hinblick darauf, dass sie in ihrer Grundintention an entscheidenden Punkten der Orientierung über das Erkenntnisphänomen immer wieder auftaucht, erscheint die Untersuchung gerechtfertigt, ob ihr nicht doch, wenn auch in sublimierter Gestalt (unter Ersetzung des Abbilds durch Repräsentation), ein phänomenal aufweisbarer Wahrheitsgehalt innewohnt.

 

II.

Neuere Untersuchungen über die erkenntnistheoretische Begründung des historischen Materialismus – wir wollen zunächst einen kurzen Hinweis auf die literarische Situation unserer Problemstellung geben – weisen im Geschichtsmaterialismus übereinstimmend realistische objektivistische Elemente auf. Dies ist schon darin begründet, dass zunächst der Übergang von Hegel über Feuerbach zu Marx-Engels[14] dargestellt und gezeigt werden musste, wie die Aufgabe Marxens[15] dazu führte, konkreten Ausdruck lebendiger Gedankenwelt zu suchen. Dabei werden besondere Erkenntnisbedingungen je nach der gesellschaftlichen Lagerung anerkannt: „Die Wirklichkeit drängt sich zum Gedanken“ nur für diejenige Schicht, deren partikulare Interessiertheit der allgemeinen Richtung der gesellschaftlichen Bewegung entspricht, die also dann Träger des richtigen Bewusstseins wird.

Man kann aus den erkenntnistheoretischen Interpretationen des historischen Materialismus drei Typen herausgreifen, die eine empirisch-sensualistische, kritizistische oder hegelische Deutung versuchen.

Gottfried Salomon[16] bezeichnet die Marxsche Ideologienlehre im wesentlichen als Empirio-Sensualismus und Interessenpsychologie. Im übrigen wird jedoch das nominalistische Element, das Salomon nachzuweisen sucht, kaum anerkannt werden können, trotzdem die revolutionäre Wirkung des Nominalismus zuzugeben ist. Salomon scheint durch seine wesentlich historische Forschung, in der er die Fäden aufdeckt, wo der historische Materialismus anknüpft, die realistische Schwere seines Wirklichkeitsansatzes zu verkennen, wie sie die Innenbetrachtung des historischen Materialismus, wie wir sie vornehmen wollen, offenlegt.[17]

Marck zeigt – selbst kritizistisch –, dass die erkenntnistheoretische Begründung der Dialektik im Marxismus weder kritizistisch noch hegelisch sei, sondern positivistisch und naiv realistisch.[18] Die dialektischen Bestimmungen der Realität seien Merkmale einer an sich gegebenen, lediglich abzubildenden Wirklichkeit in dem Sinn und in der Form der Abbildtheorie, in der jeder Rest eines methodisch kritischen Idealismus geschwunden sei; die Marxsche Geschichtsphilosophie, die sich nach Marck zwischen den Polen von Hegelianismus und Positivismus bewegt, sei Rousseauismus im Gewande Hegelscher Terminologie. Auch diese Bezeichnung offenbart das Schwergewicht der historischen Anknüpfung.

Vogel[19] versucht die Hegelischen Elemente im anti-Hegelischen Marxismus herauszuarbeiten, die trotz aller Hegelfeindschaft in den historischen Materialismus übergegangen seien; er wird dadurch zum Gegenspieler von Salomon und der von ihm verdeckten Komponenten.

Dieser (ganz kursorische) Hinweis auf literarische Bearbeitungsversuche, die in unsere Fragestellung hineinmünden, möge genügen. Im folgenden soll versucht werden, diejenige Wirklichkeit auszulegen, auf die Marx in der „deutschen Ideologie“ gerichtet ist. Auf sie wird auch unsere spätere Analyse abgestellt sein, ohne dass unser Interesse historischen Anknüpfungspunkten zugewandt ist,

Bei Marx wird die Dialektik konkretisiert in der Aufstellung der These eines Konflikts zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, bei der es sich – wenn wir von Begriffserweiterungen[20] absehen – im wesentlichen um eine kausale Evolution handelt. Dem entspricht auch der Wirklichkeitsansatz, der aber noch deutlich trotz aller Gegnerschaft die Beeinflussung durch Feuerbach zeigt. Feuerbachs[21] universaler Anthropologismus nimmt Wahrheit, Wirklichkeit und Sinnlichkeit als identisch. Denken ist aus dem Sein, Sein ist aus sich und durch sich. Die Einwirkungen der Außenwelt spiegeln sich als Gedanken, Gefühle und Willensbestimmungen im Sinne des charakteristischen „Durchgangs durch den Kopf“ der sensualistischen Spiegelbildertheorie. Die Marxschen „Feuerbach-Thesen“ und die „deutsche Ideologie“[22] enthalten die Elemente dieser Grundhaltung

Für den historischen Materialismus naiv-realistischer Prägung ist zunächst Wirklichkeit: die Sinnlichkeit, die Praxis („sinnliche Tätigkeit“).[23] Auch die bei Hegel noch als zeitloses logisches Geschehen aufzufassende Dialektik wird Realdialektik. Absolut ist nur die soziale Wirklichkeit, und die diese Wirklichkeit erkennende Klasse ist das Proletariat.[24] Das Denken an sich wird enthüllt als Glauben an eine höhere Wirklichkeit.[25] Es wird eine objektive, vom menschlichen Bewusstsein unabhängige Existenz der Dinge angenommen.[26] Das Ideelle ist das im Menschenkopf umgesetzte Materielle.

Es ergibt sich, dass der marxistische Gesetzesmonismus entweder Identität oder Parallelität von Sein und Bewusstsein voraussetzt, jedenfalls aber eine Entsprechung: eine Werdenseinheit von Sein und Bewusstsein ist Wirklichkeit als Wirksamkeit der Menschen.[27] In dieser Beziehung des Bewusstseins auf das Sein bleibt das Sein einzige sinnliche Wirklichkeit, Die Bewusstseinsformen müssen zu jener Wirklichkeit passen, um selber wirklich zu sein.[28]

In der Deckung von Subjekt und Objekt, von Sein und Bewusstsein, deren Einheit der historische Materialismus intendiert, liegt schon ein Hinausweisen über die naive Abbildtheorie, wenn man diese nicht selbst schon als einen Versuch deuten will, die Dualität von Sein und Bewusstsein zu überwinden, indem das Sein (als einziges) naiv-realistisch als gegebene „wirkliche“ Außenwelt vorgestellt wird, die sich im Bewusstsein abbildet. Diese Abbildungen sind wandelbar im Sinne der Auffassung der Wirklichkeit als eines Prozesses, und zugleich auch selbst Wirklichkeit.[29]

Die Deutung des philosophischen Ursprungs, wonach der historische Materialismus ursprünglich empirio-sensualistisch, Ausdruck theoretischer Verhaltungsweise zu dem Sein als nur sinnlicher Wirklichkeit sei (Salomon), kann für uns dahingestellt bleiben; jedenfalls will unsere Fragestellung weiter gehen. Wenn der historische Materialismus immer auch auf dem Boden des empiristischen Sensualismus entstanden sein mag, so ist diese Auslegung ja nur eine Art, das „natürliche Weltbild“, auf das gerade der Geschichtsmaterialismus immer wieder rekurriert, theoretisch zu rechtfertigen. Die sublimierte Abbildtheorie, die die Position Lenins in unmittelbarem Anschluss an Marx-Engels fundiert, drängt die Frage auf, ob sich die in dieser theoretischen Form aussprechende Haltung zur Wirklichkeit nicht als Transzendental-Realismus aufweisen lässt.[30]

 

III.

Wir wenden uns nun der Innenbetrachtung[31] des historischen Materialismus zu, wie er sich in der Intention von Lenin gibt.

Das Erkenntnisphänomen wird durch den historischen Materialismus, wie die an Marx-Engels anschließende Interpretation Lenins gegen den Empirio-Kritizismus darzustellen unternimmt, theoretisch zugänglich zu machen gesucht durch die Frage nach dem Zustandekommen der Erkenntnis. Dies macht auch die sensualistische Deutung des Bewusstseins-„inhalts“ verständlich, wenn auch damit zunächst nur der psychologische Kreis des Erkenntnisphänomens gefasst und die antropomorphe Vorherrschaft des Sinneszeugnisses begreiflich erscheint, wie sie die empiristische Abbildtheorie charakterisiert. So wenig das engere Erkenntnisphänomen damit exponiert ist, so sehr spricht die „natürliche Anschauung“, das unreflektierte Weltbild für die Ansetzung der Frage nach dem Zustandekommen der Erkenntnis, ohne sie bis zur Frage des Erkenntnisursprungs vorzutreiben, der Frage, wie sich das Objekt (als Objiziertes) ins Subjektbewusstsein als „Erkenntnis“ umsetzt, ob zwar jene „naive“ „Theorie“ auch hierauf gelegentlich übergreift.

Im „Zustandekommen“ liegt aber nicht nur die Aequivokation des psychologischen, sondern auch des historischen Erkenntnisprozesses. Letztere, wenn man so will, in engerem Sinn „geschichtliche“ Fragestellung wird zunächst zugunsten einer auf den „Gegenstand“ lokalisierten Erkenntnis stabilisiert. Dabei liegt auch hier die Dialektik als Universalprinzip zugrunde. Allerdings wird sie erst „später“ auf die Bildertheorie angewandt.[32] Diese Fixierung auf einen (ungeschichtlichen) Erkenntnisgegenstand schlechthin ist schon Standpunkt. Der Gegenstandpunkt hält das Erkenntnisfortschreiten prädominant, und damit löst sich für ihn die Frage nach dem Erkenntnisgegenstand aus der scheinbar atomisierten dinghaften Sphäre heraus und schaltet sich „gleich“ in die dialektische Spannung ein.

Beide Frageperspektiven gehen vom Erkenntnisphänomen aus, dessen „Natürlichkeit“ die Abbildtheorie Rechnung zu tragen vermeint.[33] Existent, faktisch gegeben ist die Außenwelt.[34] Im Bewusstsein erscheint ihr Abbild. Die objektiv unabhängig vom menschlichen Bewusstsein existierende und von ihm abgebildete Realität wird zusammengefasst in dem Begriff der „Materie“.[35] Diese physische Welt hat vor aller menschlichen Erfahrung existiert. Alles Gegebene besitzt die gleiche Realität; der Terminus „Welt“ bedeutet schlechthin Außenwelt. Die Dinge sind für den Menschen Dinge außer ihm und zugleich Dinge an sich, die sich als notwendiges Korrelat in Dinge „für uns“ verwandeln, ohne Dinge für sich zu bleiben.[36] Die Gegebenheit der Außenwelt wird ohne kritischen Zweifel hingenommen. So umschreibt die Abbildtheorie das Erkenntnisphänomen als Erfassen eines Objekts durch das Subjekt; soweit entspricht sie jener Subjekt-Objekt-Relation, die das Wesen der Erkenntnis ausmacht.[37]

Das Erscheinen des Objekts „im“ Bewusstsein wird aber nun sensualistisch an die Sinnesorgane gebunden: Empfindungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen und überhaupt das Bewusstsein des Menschen „bilden“ das Abbild der objektiven Realität. Die Sinne zeugen von jener Realität, ja im Sinneszeugnis ist jene Realität „gegeben“; denn die Vorstellungen, Empfindungen werden durch die Wirksamkeit objektiver Gegenstände hervorgerufen. Durch jene Gegenstände wird der Erfahrungsakt: der Empfindungsinhalt[38] „erzeugt“. Die objektive Realität „gehört“ also selbst „der Wahrnehmung an“, ist Quelle der Wahrnehmung.[39] Der Materialist „glaubt“[40] an die objektive Realität, hält sie für beweisbar und meint, diesen Beweis auch erbracht zu haben, philosophisch durch eine Aufhebung der Transzendenz und durch die Einbeziehung der Praxis als Bewährung. Wohl kommt dieser „Glaube“ der „elementaren, instinktiven, ungeformten, philosophisch unbewusst aufgebauten Überzeugung“ entgegen; es ist nur fraglich, ob damit nicht schon eine Vergewaltigung des Erkenntnisphänomens stattfindet.

Die Qualität des Sinneszeugnisses geht mit dem Anspruch, Abbild zu sein, über die Bekundung einer Realität hinaus, versucht also gerade die „Verdoppelung“ der Welt in Denken und Sein aufzulösen durch einen Monismus, der das objektivierte Sein[41] als letzte Einheit auch metaphysisch hypostasiert. In diesem Sinne wird der Vorwurf einer Verdoppelung der Welt der Intention der Abbildtheorie kaum gerecht. So sehr die Unselbstständigkeit der Erkenntnis durch die Sinne betont, eine Spontaneität des Bewusstseins abgewiesen wird, so ist doch in ihr ein naturalistisches Element enthalten, insofern eine Affizierung der Sinne und ihr Reagieren und damit ein Kriterium der Übereinstimmung der Bilder vorausgesetzt wird. Mit der Hervorhebung der Sinne als des einzigen erkenntnisvermittelnden Mediums wird das Phänomen in erster Linie auf die Erkenntnis a posteriori beschränkt, die sich in Empfindungen und Wahrnehmungen unmittelbar gibt. Diesem Phänomen wird der idealistische Antisensualismus mit seiner Autonomie des Denkens auch nicht gerecht;[42] jedenfalls geben die Sinne in letzter Instanz ein Bewusstsein von der Wirklichkeit, ein Realitätszeugnis. Es steht allerdings noch dahin, ob dies auch die These der Adäquanz Bild-Gegenstand (im Sinne von Urbild und Abbild) rechtfertigt.[43]

Das Sinneszeugnis liegt auch der – scheinbaren – Abweisung der Transzendenz zugrunde. Die Opposition gegen das „unfassbare“ Kantische Ding an sich, das grundsätzlich unerkennbar bleibt, und gegen den Humeismus jener Fassung, welche die Sinnesvorstellung für die außer uns existierende Welt nimmt und so das Sein mit dem Bewusstsein identifiziert,[44] die Ausweiten in das menschliche Hirn hineinverlegt, diese Opposition führt überpointiert zu einer Problemabweisung der Transzendenz. Der Materialismus anerkennt die Objekte an sich außerhalb des Geistes,[45] ohne einen Unterschied, eine prinzipielle Grenze zwischen Erscheinung und Ding an sich zu behaupten. Einen Unterschied gibt es nur zwischen schon Erkanntem und noch nicht Erkanntem.[46] Eine Transzendenz könne deshalb nicht vollzogen werden, weil die Sphäre der Erscheinungen eben die Sphäre der sinnlichen Welt sei, außerhalb derer es nichts gäbe.[47] Die Außenwelt, die Dinge an sich, seien nicht jenseitig und transzendent. Über etwas sagen, dass es existiert, heißt sagen, dass die Existenz des Dinges der Erkenntnis zugänglich, dass das Nichterkennbare bereits durchbrochen ist. [48] Wohl ist ein Unterschied zwischen Ding an sich und Ding für uns, aber lediglich wie vom Ganzen zum Teil.[49] Das Ding an sich ist ein erscheinendes Ding; Erscheinung ist nicht einfach Illusion, sondern eben Erscheinung des Dinges an sich. Das Ding an sich verwandelt sich dadurch, dass es in ein Verhältnis zu unserer Sinnlichkeit tritt, allerdings in etwas „anderes“, in eine Erscheinung, die ihr Anders-sein ist. Aus subjektiven Vorstellungen oder Erscheinungen stellen wir die objektive Realität wieder her. Wir können dies deshalb, weil die objektive Realität der Dinge außer uns das Ursprüngliche ist, was in uns die Erscheinung hervorruft. Das Ding an sich geht in die Erscheinung über, die Erscheinung verwandelt sich wieder in die objektive Realität, unabhängig vom menschlichen Bewusstsein und verbunden mit dem Inbegriff der Dinge im System des Weltgebäudes als konkrete Einheit.[50] Das ist die Dialektik des Erkennens.

Das erscheinende Ding offenbart das Ding an sich. Dinge an sich und ihre Erscheinungen decken sich nur in dem Sinne nicht, dass infolge der unerschöpflichen Beziehungen und Eigenschaften der Dinge ihre absolute Kenntnis uns nicht zugänglich ist. Unser teilweises Wissen ist Wissen von den Teilerscheinungen der objektiven Welt, ist aber objektives Wissen.

Die Verwandlung des Nichtwissens in Wissen deutet zugleich mit der Existenz eines Unerkannten auf ein Unbekanntes hin, auf ein Unendliches: das „Transobjektive“, die Totalität. Die auf Ganzheit gerichtete Haltung des Subjekts ist nichts anderes als sein Eingebettetsein in diese Ganzheit, sein (ontisches) Teil-Sein. Auch das Irrationale geht in die Erkenntnis ein, insofern der unendliche Rest nicht rationalistisch geleugnet, sondern als solcher in der Totalität einbegriffen wird.[51] Das Seiende ist nicht nur das Erkannte, auch nicht nur das Erkennbare, es ist vielmehr in allgemeinsten Sinn Eins aus sich.[52] Hier liegt auch die Wurzel der Identitätsthese, der ursprünglichen Einheit im Absoluten, dessen Differenzierung erst die Relation Subjekt-Objekt ergibt. Diese Dualität ist in einer letzten Einheit aufgehoben, die – kritisch – nur metaphysische Hypostase sein kann: Subjekt und Objekt weisen identische Struktur auf. Die Spaltung des Einheitlichen wird als universale Deduktion in der Dialektik entwickelt: die Gegensätze sind identisch „oder richtiger, sie bilden eine Einheit“.[53] Bedingung der Erkenntnis aller Weltvorgänge in ihrer Selbstbewegung, in ihrer „spontanen“ Entwicklung, in ihrem lebendigen Sein ist die Erkenntnis derselben als Einheit der Gegensätze. Die Dialektik als lebendige Erkenntnis tendiert auf Ganzheit, auf Annäherung an die Wirklichkeit als Leben.

Dieser Haltung entspricht kein Empirismus, der bei der Gegebenheit der Erscheinung, bei der „kruden Faktizität (Lukacs) stehen bleibt. Hier scheiden sich die Wege von dem als wirklich Erscheinenden zur Wirklichkeit der Erkenntnis. Entweder man rekonstruiert aus der Erscheinung (als Abbild) die objektive Realität, deren Strukturprinzipien die Erkenntnis determinieren, die aber an sich unabhängig von uns existiert. Oder aber man löst die Kontemplation auf, indem man die objektive Realität als Selbstobjektivierung der menschlichen Gesellschaft, als konkrete Ganzheit fasst und zur Bewältigung der unmittelbaren Wirklichkeit den Standpunkt der Unmittelbarkeit verlässt.[54]

Das Ding an sich-Problem, die zentrale Frage kritischer Philosophie, enthält durch die einstweilige Ausschaltung der Genesis die Gefahr der Erstarrung: das Gegebene als Vorfindliches wird nur in seinem Gewordensein als Gegebenes konzipiert und in der Gegebenheitssphäre stabilisiert.[55] Die Beziehung zum Gebenden und dessen Entfaltung im Werden, also die eigentliche historisierte Dialektik,[56] ist bei diesem Ansatz der Erkenntnis noch nicht zum Durchbruch gelangt. Bei Einschaltung der Genesis umgreift der Prozess (die Geschichte) den Gegenstand der Erkenntnis, ja wird selber „Gegenstand“. Auch bei dieser historistischen Dynamisierung des Denkens als Moment des Gesamtprozesses wird von der Außenweltthese der natürlichen Weltansicht ausgegangen. Nur ist Denken und Sein in den realgeschichtlichen Prozess eingesenkt, in dem sich der Grundwiderspruch von Endlichem und Unendlichem löst: das Unendliche wird durch Endliches im Werdensprozess erkannt. Nicht als ob damit das Unendliche rationalistisch aufgehoben würde; das Ganze, die Totalität ist eben in der Erfahrung nicht gegeben. Aber jede Erscheinung erfordert „die ganze Welt“ als Grundlage. Das in der Erscheinung Gegebene weist als solches schon über sich hinaus.

            Übereinstimmung besteht also in der Realitätsthesis einer an sich seienden, jedenfalls außer uns seienden Wirklichkeit. Differenzen bestehen aber in der Frage der Entsprechung zwischen Erkenntnisbild und seinem Gegenstand, in der Adäquatheit-Thesis. Um diesem Problem näher zu kommen, ist die Frage nach der Transzendenz zunächst von der Abbildtheorie aus zu untersuchen.

 

IV.

Abbild heiße die immanente Repräsentation des Objekts im Bewusstsein des Subjekts. Es handelt sich dabei nicht um das unveränderliche Wesen der Dinge und auch nicht um das unveränderliche Bewusstsein, sondern um die Übereinstimmung „zwischen dem die Natur abbildenden Bewusstsein und der im Bewusstsein abgebildeten Natur“.[57] Das Primat der Natur[58] in der erkenntnistheoretischen Grundfrage schließt dabei noch nicht die Wirklichkeit des Denkens aus, die aus jener auf steigt, wenn man überhaupt diese Hypothese aufrechterhalten wil1.[59] Der Bewusstseinsinhalt in seiner Bezogenheit auf den Gegenstand ist also keine Illusion, er beansprucht vielmehr Übereinstimmung oder Entsprechung. Da das Geschehen im Bewusstsein sensualistisch sich passiv vollzieht, so müsste ja das Abbild im Sinne des Spiegelbildes dem Gegenstand adäquat sein. Es müsste also Zeugnis einer an sich seienden Realität und durch die Sinnesfunktion ein nicht nur im Subjekt, sondern auch bei verschiedenen Subjekten adäquates Abbild sein. Durch die Sinnesorgane müsste also die objektive Wahrheit zugänglich werden können,[60] wenn auch das Kriterium der Richtigkeit der Abbilder nicht eindeutig feststeht.[61] Ein Kriterium gibt es jedenfalls, die Praxis; diejenigen Erkenntnisbilder, die durch die Praxis bestätigt werden, sind richtig und real.[62]

Abgesehen von der engeren Problematik des Sensualismus, wie die Sinne uns überhaupt Eigenschaften der Dinge vermitteln können, Fragen, in denen der Sensualismus wohl als überwunden gelten kann,[63] insofern von Vorstellung, Empfindung und Wahrnehmung zum Denken und zum Denkgebilde als Erkenntnis konstituierend übergegangen wird, ist das Abbild dieser sensualistischen Einengung zu entkleiden und als Gegenbild zum Objekt (als Ding an sich) zu nehmen, das sich wohl dem Charakter eines Abbilds nähern kann, ohne es unbedingt erreichen zu müssen. Dieses Gegenbild, womit das Subjekt das Objekt „erfasst“, ist dessen „Repräsentation“ im Bewusstsein. Der Gegenstand geht also nicht als solcher ins Bewusstsein ein, wird auch nicht vom Bewusstsein erzeugt. Er bleibt vielmehr jenseits des Bewusstseins stehen, ist also transzendent[64] und wird vom Bewusstsein „nach“gebildet. Wir gehen sogar soweit, uns hier nicht auf reine Rezeptivität zu beschränken, sondern apriorische Elemente und Denkmittel (aus dem Gegenstand in die Objektgerichtetheit der Erkenntnis) einzuschalten. Zu behaupten, das erscheinende Ding sei Ding an sich, bedeutet eine Vergewaltigung des natürlichen Phänomens des „Gegenüber“. Es tritt auch hier ein methodischer Immanenzstandpunkt zur Erfassung transzendenter Sachverhalte in Kraft.[65] Der phänomenale Sachverhalt erweist die Existenz an sich seiender Objekte mit gegenständlicher Struktur, deren Repräsentation im Bewusstsein erscheint. Dieses Erkenntnisbild verwirklicht eine apriorische Realitätsthese, besagt aber noch wenig über die Adäquanz.

Andererseits ist eine Entsprechung des Erkenntnisbildes im Sinn einer partialen Identität mit dem Gegenstand durch das ontologische Bedingungsverhältnis zwischen Objekt und Subjekt einsichtig. Das An-sich-Sein meint nicht grundsätzliche Unerkennbarkeit im Sinne der Kantischen Transzendenz, sondern ist zunächst nur gnoseologische Transzendenz, jedenfalls transsubjektives An-sich-Sein. Ontologisch sind Erscheinung und Ding an sich homogen. So verwandelt sich das Ding an sich in seine Erscheinung, so wird mit dem Bild Transzendentes gemeint, ein außerhalb des Bewusstseins Befindliches;[66] das Denken repräsentiert ein Denkfremdes, eben den transzendenten Gegenstand. Der Erscheinung muss korrelativ das Ding an sich entsprechen. Das Ding an sich ist allerdings „mehr“ als seine Erscheinung, es ist ihr gegenüber ihre Totalität, von der sie nur Teil ist.

Die apriorische Realitätsthese des naiven Realismus mit ihrer Fassung der Welt als Ding behauptet diese Welt der an sich seienden Dinge als Wirklichkeit, so sehr damit der unmittelbaren Gegebenheit der Faktizität Rechnung getragen ist und zwar noch ungebrochen, liegt schon dadurch, dass diese von uns objizierte Welt nur ein Ausschnitt ist, Veranlassung vor, die Wirklichkeit des Erscheinenden „hinter“ der Erscheinung und ihrer Vergänglichkeit zu suchen, oder sie „über das Gegebene hinaus“ zu vermuten. Die Dualität von Objekt und Subjekt wird durch die Einhebung des Subjekts in das Objekt zu lösen versucht. Die Materie wird metaphysisch hypostasiert, obzwar es damit nicht gelingt, die psychophysische Grundrelation, die „Verursachung“ des Psychischen durch das Physische restlos aufzuhellen. Die naiv-realistische Abbildtheorie strebt darnach, dieses Umsetzen des Materiellen ins Geistige zu „erklären“, indem sie das Körperliche der Sinnesfunktionen als Vermittlungsorgan benutzt. Das Problem der Wahrheit wird nur als Übereinstimmung des Erkenntnisbildes mit den Dingen gesehen, Wahrheit ist, was die menschliche Gesamtpraxis bestätigt; alle unsere Kenntnis ist geschichtlich bedingt, trotzdem nähern wir uns der objektiven Wahrheit, passen uns ihr an (etwa durch nachträgliche Korrektur), ohne sie jeweils zu erschöpfen.[67] Dieser Anpassungsprozess an die absolute Wahrheit der objektiven Realität bedeutet, dass die „relativen“ Wahrheiten nur relativ richtige Abbilder der Objekte sind.

Dieses Verhältnis der Abbildlichkeit und damit das Primat des Abgebildeten wird auch für die Kausalität beibehalten. Die menschlichen Vorstellungen von Ordnung, Zweck und Gesetz sind „Übersetzungen der Werke der Natur in die menschliche Sprache“; von einer Identität von Denken und Sein derart, dass jene Vorstellungsformen in der Natur gleich wie im Kopf des Menschen bestehen, könne nicht gesprochen werden.[68] Eine monistische Identitätsthese wird auf dieser Stufe des naiven Realismus streng geleugnet und zwar sowohl natürlich in subjektivistisch-idealistischen, als aber auch im objektivistisch-realistischen Sinne als Gleichsetzung des Denkens und des Seienden in ein übergreifenden Seinseinheit oder als gnosologischer Monismus einer Identität der Gegenstands- und Erkenntnisprinzipien.

Diese Form der Abbildtheorie zeigt, wenn sie eine Fundierung des historischen Materialismus versucht, deutlich die Struktur der naturwissenschaftlichen Ausdeutung der „natürlichen“ Realitätsthese. Der historische Materialismus wird naturalistisch erweitert: es gibt für Engels keinen Zweifel an der Existenz einer „blinden Notwendigkeit“, die vom Menschen unabhängig besteht. Die Naturnotwendigkeit ist das Primäre, des Menschen Wille, sein Bewusstsein und seine Einsicht müssen sich ihm notwendig anpassen.[69] „Wenn wir diese Notwendigkeit auch nicht kennen, so wissen wir doch, dass eine solche Notwendigkeit existiert und zwar aus derselben Quelle, aus der wir wissen, dass alle Dinge außerhalb unseres Bewusstseins und unabhängig davon existieren, nämlich aus der Entwicklung unserer Kenntnisse“, die die Verwandlung von Nichtwissen in Wissen sensualistisch: durch Wirkung des Gegenstandes auf die Sinnesorgane zeigt. Abgesehen davon, dass hier Kenntnis und Erkenntnis noch indifferenziert bleiben, wird das „Wissen“ von der Außenwelt und ihrer Notwendigkeit durch Rückschluss gedeutet und „bewiesen“. So verständlich die Überbetonung dieser Position aus der polemischen und oppositionellen Haltung zu Rationalismus und Idealismus und besonders zur kantischen Transzendenz ist, so wird aber die faktische „Gegebenheit der Außenwelt“ in einer Weise[70] zu belegen versucht, die entweder das Transzendenzproblem naiv und grob gar nicht ansetzt und leugnet oder es „nachträglich“ zur Rechtfertigung der Position abweist.

Die am Phänomen orientierende Analyse, die von der Subjekt-Objekt-Relation ausgeht, kann aber die Transzendenz als Problem nicht abweisen. Der historische Materialismus aus Angst vor den positivistisch-rationalistischen Vorwurf der Metaphysik ging der Transzendenz aus dem Wege und griff seinerseits alle Immanenzphilosophie als agnostisch an. Das philosophiegeschichtlich schwer belastete Transzendenzproblem wird schon deshalb ausgeschaltet, um „dem Gegner keine terminologischen Zugeständnisse zu machen“, die der Klarheit des eigenen „Standpunkts“ schaden.[71] Diesen Standpunkt gilt es aber, zunächst auf das überkommene Problem zu reduzieren, wie es sich terminologisch in der „Transzendenz“ ausdrückt.

Versteht man unter Erfahrung das im Bewusstsein „unmittelbar” Gegebene und erklärt bestenfalls das Gebende – wenn nicht als Akt, in dem schon das Subjekt-Element präponderiert,  –,  die Außenwelt für ungewiss, so trägt dieser agnostische Positivismus in sich die Tendenz, idealistisch gedeutet zu werden. Vor dieser Art Immanenz besteht im historischen Materialismus berechtigte Vorsicht. Erkennen bedeutet aber ein immanentes Bild des „Gegenstandes“ als Entgegen-Stehendem, als Widerstand. Dieses Bild nimmt der naiv realistische Materialismus als Abbild, d. h. als das (ganz so, wie es an sich ist) erscheinende Ding. Die Objektivität der Erkenntnis wird zu rechtfertigen gesucht, indem aus dem Abbild als Bewusstseinsinhalt die objektive Realität „rekonstruiert“ werden kann, sie sich also im Abbild selbst gibt. Das empirische Subjekt ist also in seinem Erkenntnisvermögen beschränkt auf die passive Entgegennahme von „Eindrücken“, die als Abbilder ein zeitliches Prius[72] des Abgebildeten implizieren, aber das Abzubildende in seiner Fülle, in seiner Ganzheit eben jenseitig stehen lassen. Die faktische Gegebenheit der Außenwelt im Abbild bedeutet (abgesehen von dem phänomenologisch unscharfen Problemsatz) schon ein Transzendieren des Bewusstseins”inhalts“ trotz des immanenten Ausgangspunkts des Erkenntnisvorgangs.

Denn das Realitätszeugnis, das auch das Erkenntnisphänomen etwa in Wahrnehmung und Empfindung liefert, besagt noch nichts über die Übereinstimmung der Bilder.[73] Die Metapher des Spiegelbildes enthüllt sich als Mythologie; man begnügt sich mit der Ansetzung einer existentialen realen Außenwelt, der Realitätsmodus des Spiegelbildes, dessen, was uns bewusst ist, wird, soweit er überhaupt in Frage steht, als „Parallelität“,[74] wird als Entsprechung, Übereinstimmung zu umschreiben versucht, jedenfalls aber nicht im Sinne von „Zusammenfallen“ und „Dasselbesein“,[75] also im Sinne einer Identität. Es gibt also ein unabhängig vom Bewusstsein Seiendes, ohne dass dies erst bewusst geworden, immanent zu werden braucht. Dass der Materialismus auch die Subjekt -Objekt-Relation verwenden muss, um Erkenntnis zu konstituieren, obwohl er das Subjekt quasi in das Objekt hineindeutet, macht die Problematik seiner Immanenz aus. Er geht vom faktisch Gegebenen, vom Sinnlichen, vom Unmittelbaren aus. Von da aber kann man auch zum Solipsismus gelangen, denn alles zu Bewusstsein Kommende ist eben subjektiv, es sei denn, dass man fälschlich das Immanente gleich dem Erscheinenden setzt, also – machistisch – Empfindungskomplexe als Außenwelt behauptet.

Der Materialist aber meint mit der ursprünglich naiv realistischen Abbildthese ein „hinter den Grenzen der Sinneswahrnehmungen, Vorstellungen und Eindrücke des Menschen liegendes reales Sein“.[76] Er vollzieht (mit dieser Deutung der Abbildtheorie) in der Tat einen Transzensus, allerdings in seinem Sinne durchaus gerechtfertigt durch das Übergewicht des Seins. Deshalb richtet sich seine Abwehr, transzendental „gescholten“ zu werden, auch nur gegen den kantischen Begriff der Transzendenz, gegen die Unerkennbarkeit der Dinge an sich, gegen den Vorwurf „unberechtigter“ Transzendenz.[77] Sonst aber trifft die phänomenologische Analyse der Erkenntnis[78] als eines „Gegenüber“ von Subjekt und Objekt – eines „Hinausgreifens“, Transzendierens des Subjekts in die Objektssphäre, Erfassen eines Seienden, ohne dass das Objekt immanent oder selber verändert würde, Repräsentation des Objekts durch ein Erkenntnisbild im Bewusstsein – auch für den historischen Materialismus durchaus zu, sofern er die dogmatische Haltung der naiven Abbildtheorie und seine noch am rationalistischen Vorurteil haftende Metaphysikfeindlichkeit. kritisch modifiziert. Die Erkenntnistheorie des historischen Materialismus kann, wenn auf den Terminus Gewicht gelegt werden sollte, als transzendental-realistisch aufgewiesen werden. An dieser Bezeichnung liegt dabei viel weniger, als dass durch das damit bezeichnete Faktum der natürlichen Realitätsthesis Genüge geleistet, darüber hinaus der Weg zu einer „Aufhebung“ der Unmittelbarkeit geebnet ist, die als Wirklichkeitskategorie nunmehr die konkrete Totalität des realgeschichtlichen Prozesses einzuschalten gestattet.

 

V.

Die Abbildtheorie in ihrer naiven Form lässt sich nicht mehr aufrechterhalten. Der Gegenstand, das Erkenntnisobjekt ist in seiner Totalität grundsätzlich transzendent; das Erkenntnisgebilde – wir ersetzten „Abbild“ durch „Repräsentation“ – ist nur ein teilhaftes Erfassen. Wir halten als einstweiliges Ergebnis die Aufweisung der (sublimierten) Abbildtheorie als Transzendentalrealismus fest.

Die Analyse hat sich nunmehr auf den Erkenntnisakt selbst zu konzentrieren. Wir glauben, dabei Ansatzpunkte aufweisen zu können, wir deuten sie hier allerdings nur an – die bezeugen, dass wesentliche Übereinstimmungen der phänomenologischen Erkenntnishaltung und derjenigen der sublimierten Abbildtheorie vorzufinden sind.

Die Faktizität der Außenwelt, die den Inhalt des ursprünglichen Wirklichkeitsbegriffes ausmacht, wird durch eine Erweiterung des Horizontes der Fragestellung problematisch. Die naive Beruhigung bei diesem Wirklichkeitsansatz steht trotz aller ausgesprochenen Opposition gegen den Rationalismus unter der rationalistischen Gefährdung, Wirkliches als Gesetzmäßiges zu konstituieren. Die aus der transzendentalen Fragestellung aufzuweisende Bedingung der Möglichkeit geschichtlicher Erfahrung würde erst Voraussetzung der historischen Wirklichkeit werden, wo gerade historische Wirklichkeit selbst gegeben erscheint. So evident der Bestand der Wirklichkeit der Geschichte als Zeitlich-Sein des Seienden sein mag, so fraglich ist der Ansatz eines gemeinsam anerkannten Bestandes der Wirklichkeit in der Geschichte.[79] Der Übergang der Außenwelt als naivem Wirklichkeitsansatz in das Wirklichkeit-Werden der Geschichte und damit der Ursprung der Dialektik[80] rückt in den Horizont der Frage ein. In diesem Horizont lässt sich überhaupt erst die Grundintention der Abbildtheorie sichtbar machen, wie sie den historischen Materialismus (erkenntnistheoretisch) fundiert und wie sie sich einer objektiven Interpretation erschließt. Sie fixiert nicht die Wirklichkeit im Sein, das dem Denken starr gegenübersteht; sondern das Wesen der Repräsentation des („draußen“ an sich seienden) Gegenstandes offenbart über ihre Partikularität hinaus eine Tendenz zur Totalität der Gegenstandswelt, die nicht dinghaft atomisiert, sondern als Ganzheit konzipiert wird. Eine solche Fassung des Erkenntnisvorganges macht die Grundintention der sublinierten Abbildtheorie nach einem dynamischen Wirklichkeitsbegriff zugänglich.

Um diese Position zu erhärten, kontrollieren wir den in der Abbildtheorie als Außenwelt gefassten Wirklichkeitsansatz an einer phänomenologischen Analyse[81] des Erkenntnisvorgangs. Diese Analyse betrifft zunächst die Außenweltthese (Außenwelt als ein dem Denken starr gegenüberstehendes Sein) in der Frage ihrer Beweislast.[82] Die Erkenntnistheorie des historischen Materialismus in der dogmatischen Form des naiven Realismus versäumt die existentiale Analyse des Daseins überhaupt. Die Begriffe: Sein, Bewusstsein werden in naiver Selbstbeschränkung als solche letzter Instanz fixiert. Die Anerkennung einer objektiven Außenwelt „mit gegebener Ordnung“ will ja nicht Erkenntnis ausdrücken, trotzdem Beweise versucht werden. Die Außenwelt „ist“ nicht, sie wird nur als solche anerkannt und zwar zunächst als seiende, dann als werdende. Erst wenn die Außenwelt problematisch aus dem Bereich der Setzung des Glaubens oder der Offenbarung herausgelöst wird, öffnet sich die Sicht auf das, was überhaupt unter dem Terminus „Welt“ gemeint ist.

Abgesehen von der Beweisbarkeit der Außenwelt ist sie jedenfalls als gemeinte Welt da, und so unvollkommen ihre Gegebenheitsweise auch sein mag, wir nehmen die Wirklichkeit, die wir als daseiende vorfinden, in natürlicher Weise hin.[83] Die Außenwelt tut sich dem Bewusstsein kund, das seinerseits in der Weise des Meinens auf sie gerichtet ist. Die Existenz der Außenwelt ist evident. Die Realität ist vom Bewusstsein unabhängig. Soweit trifft eine phänomenologische Analyse mit der Position des historischen Materialismus zusammen. Während dieser aber sich bei der Festhaltung der unabhängigen Existenz der Außenwelt beruhigt, stellt jene auch das Sein des Bewusstseins in Frage, untersucht, inwiefern eine Transzendenz des Bewusstseins in die Sphäre des Realen möglich ist. Denn das Reale wird doch vom Bewusstsein im anschauenden Erkennen[84] erfasst, wobei dies Erfassen durch den Geschichtsmaterialismus als Abbild umschrieben wird, weil er nur auf das Dasein der Außenwelt gerichtet ist,

Die Grundaussage einer phänomenologischen Analyse des Daseins ist in der Terminologie Heideggers:[85] Dasein ist In-der-Welt-Sein; mit dem Dasein als In-der-Welt-Sein ist innerweltlich Seiendes je schon erschlossen. Mit dieser existential-ontologischen Aussage wird ein Realitätsbeweis der Außenwelt gar nicht mehr notwendig. Sein ist nur verstehbar im Dasein; das innerweltlich Seiende ist im Dasein eben vorhanden.

Wenn der historische Materialismus versucht, die Realität der Außenwelt zu beweisen, schließt er ein seiner Welt nicht sicheres, konstruktiv isoliertes Subjekt ein. Auch begnügt er sich nicht, das im Erkenntnisvorgang Vorfindliche zu beschreiben, er versucht es zugleich zu deuten: Die Abbildtheorie behauptet ein „korrelatives“ Erkennen des an sich (als einzige Realität) Seienden, ohne zu klären, was der Sinn des „Realen“ ist.

Jedenfalls ist das Ding als solches nicht immanent wahrnehmbar, im Erlebniszusammenhang vorfindlich; sondern es heißt transzendent.[86] Dies entspricht auch der Position der (sublimierten) Abbildtheorie. In ihrer naiven Form identifiziert sie allerdings das sinnlich wahrnehmbar Gegebene mit Wirklichkeit schlechthin. In dieser sensualistischen Beschränktheit wird sie dem Wesen der Wirklichkeit nicht gerecht, die Seinsweisen von Bewusstsein und Realität sind grundsätzlich verschieden; die (naive) Abbildtheorie ist aber nur auf die reale Außenwelt gerichtet, ohne den Realitätsmodus des Bewusstseins in Frage zu stellen. Für sie ist das Seiende bereits Sein (im phänomenologischen Sinn) ohne Differenzierung der Seinsschichten, unter denen Realität eine unter anderen bedeutet.

So erledigt sich für den Materialisten das Problem der Geltung[87] der Erkenntnis primitiv, indem er sie vom Objekt her determiniert sein lässt, dessen Abbild im Denken „relative Wahrheit“ liefert, während die absolute Wahrheit in der objektiven Realität der Außenwelt „verbürgt“ erscheint. Jedenfalls besitzt das Spiegelbild keine eigene Geltung. Da das Objekt zum Subjekt „hereinkommt“, wird die allgemeine Gültigkeit „mechanisch“ durch das Abbild und in ihm angenommen, wenn auch mit dem Postulat der Bewährung durch die Praxis.

Dieser vereinfachenden Lösung, die das Schwergewicht auf die Objektseite der Erkenntnisrelation verlegt, steht aber die phänomenale Scheidung von Sein und Seiendem gegenüber: Außenwelt ist eigentlich das innerweltlich Seiende (als vorhandener Dingzusammenhang). Daran orientiert sich die phänomenologische Seins-Auslegung. Das Sein gegenüber dem Seienden erhält den Sinn von Realität. Dieses zu erfassende Sein ist aber nicht mit der sinnlich erfahrbaren Realität zu identifizieren; denn Sachzusammenhänge oder Sachverhalte, die das Erkenntnisobjekt[88] bilden, sind nicht mit den Sinnen, also auch nicht in der sinnlichen Erscheinungsform der Wirklichkeit zu erkennen. Allerdings ist das sein des Seienden als Sachverhalt „in” der Wirklichkeit gegeben und selbst wirklich.

Die phänomenale Scheidung von Seiendem und Sein zeigt die naive Abbildtheorie[89] stehenbleibend auf der Stufe des rein Seienden. Das unmittelbar Seiende, „gegebene“ Tatsachen werden mit ihrem Sein gleichgesetzt. Das Seiende ist unabhängig von Erfahrung, Kenntnis und Erfassung, wodurch es erschlossen, entdeckt und bestimmt wird. Das Transzendente wird zunächst nur in der Erscheinung, nicht in seinem Sein bewusst. Das unmittelbar nur in der Wirklichkeit des Bewusstseins Gegebene tut Transzendentes kund. Das Bewusstsein untersteht Einwirkungen, die es sinnhaft als solche Bekundungen (eines von ihm unabhängig bestehenden realen Daseins) erfasst. Nur so ist das Transzendente als reales, sinnhaftes Sein denkbar, wenn wir ihm die Fähigkeit, „Wirkungen auszuüben“, zusprechen. Das Reale ist also dem Bewusstsein, nicht im Bewusstsein gegeben.[90] Wahres Sein wäre demnach phänomenologisch ein durchaus anders bestimmtes Sein als das in der Wahrnehmung als leibhaftige Wirklichkeit gegebene; jedenfalls ist es nicht von sensuellen Daten abhängig. So kann wohl als erwiesen betrachtet werden, dass die sensualistische Beschränkung des Wirklichkeits-Ansatzes auf eine sinnlich-leibhaftige „Außenwelt“, wie er in der naiven Abbildtheorie vollzogen wird, nicht aufrechterhalten werden kann, weil diese Beschränkung der Grundintention der Abbildtheorie, dem Gerichtetsein auf ein Bewusstseinstranszendentes, widerspricht.

Was uns die phänomenologische Auslegung der Grundintention der Abbildtheorie bisher im wesentlichen gezeigt hat, ist die Durchbrechung der unmittelbar (sinnlich) gegebenen Wirklichkeit als einziger Wirklichkeit, Phänomenologisch können wir in dieser: Durchbrechung der Unmittelbarkeit noch weiter gehen. Durch die Erscheinung hindurch sind wir intentional auf Erscheinendes gerichtet.[91] Das Beibringen des Seins, seine Freilegung beruht auf einer rechten Beibringung des Seienden. Als Erscheinung von etwas meint sie das Sich melden von etwas, das sich nicht zeigt durch etwas, das sich zeigt. Wenn Phänomenologie also das sich zumeist Nicht-zeigende „sehen lassen“ will, was Grund und Sinn des Sich-”zeigenden“ ausmacht, so statuiert sie zwei verschiedene Zusammenhänge des Wesens und der Tatsachen, in denen alle Objekte darin stehen.[92] Hier schließen wir uns einer uns wesentlich scheinenden Erweiterung Mannheims[93] an: Tatsachenforschung und Wesensanalyse müssen sich ergänzen, wobei Wesenserkenntnis „Verlängerung“ und Vertiefung der Tatsachenerkenntnis bedeutet, da beide Erkenntnisarten trotz Dignitäts- und Qualitätsunterschieden ineinander gebettet sind und kein „Sprung“ zwischen beiden, vielmehr eine Kontinuierlichkeit des Übergangs besteht.

Diese Erkenntnishaltung haben wir nun — und damit gehen wir einen Schritt weiter — auf die Erkenntnis des Ökonomischen anzuwenden, wie sie der historische Materialismus intendiert. Auch diese Erkenntnis ist trotz aller (historisch verstehbaren) sensualistischen Verdeckungen im Grund an dem Phänomenalen ausgerichtet.[94] Man kann die Methode von Marx daraufhin zu interpretieren versuchen, und die berühmten Stellen im „Kapital“[95] lassen sich im Sinne dieser Interpretation verwerten: „… alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen.“ „Die fertige Gestalt der ökonomischen Verhältnisse, wie sie sich auf der Oberfläche zeigt, in ihrer realen Existenz und daher auch in den Vorstellungen, worin Träger und Agenten dieser Verhältnisse sich über dieselben klar zu werden versuchen, sind sehr verschieden von — und in der Tat verkehrt, gegensätzlich zu — ihrer inneren wesentlichen, aber verhüllten Kerngestalt.“ Jene wesenhafte Wirklichkeit bleibt solange unerschlossen, als man nur das Unmittelbare als wirklich nimmt, das sich im Bewusstsein „abbildet“. Dieses Unmittelbare als Wirklichkeit muss zugunsten jener (dahinterliegenden) wesenhaften Wirklichkeit durchbrochen werden.[96] Der Wirklichkeits-Ansatz bei dem unmittelbar Gegebenen, wie ihn die naive Abbildtheorie vollzieht, wird von ihr selbst durchbrochen, wenn man nur ihr Wesen einzusehen versucht. Um diese Durchbrechung deutlich zu machen, interessiert uns die Frage, wie es zu dieser Konfrontierung Außenwelt-Bewusstsein kommt,

Die Abbildtheorie versucht, dem phänomenalen Gegenüber von Subjekt und Objekt Rechnung zu tragen. Das Bewusstsein konfrontiert sich selbst das unmittelbar Gegebene als Außenwelt, es sondert den Bewusstseinsinhalt (das bewusste Sein) als an und für sich[97] dem Bewusstsein gegenüber Stehendes aus. Dieser Ansatz der Außenwelt als eine dem Bewusstsein gegenüber trägt schon die Tendenz zur Aufhebung der Zweiheit in sich: Wirklich ist allein die Außenwelt, während das empirische Subjekt nur Spiegelbilder von ihr „empfängt“, sein ganzes Denken ist von „jener“ Wirklichkeit determiniert und damit als Wirklichkeit an sich aufgehoben. Nicht als ob das Denken über die Außenwelt unwirklich wäre, Illusion oder Schein,[98] soweit es überhaupt Anspruch darauf macht, Erkenntnis zu sein, ist es Abbild der dinghaft gegenständlich gefassten Welt.

Die Aufhebung des Subjekts in das Objekt ist in der materialistischen Metaphysik begründet, die das substantiell Identische an Subjekt und Objekt (eben die hypostasierte „Materie“) fixiert. In der realen Welt wird alles naturgesetzlich determiniert. Dieser naturgesetzliche Determinismus setzt sich in die Form der Dialektik um, die aus der Hegelschen Metaphysik herausgelöst wird. Damit scheint die Dialektik ihren apriorischen Charakter aufzugeben (etwa als souveräne Denkart gegenüber der Wirklichkeit); trotzdem wird sie universal anerkannt: die dialektische Bewegung ist die Daseinsweise des in der Geschichte ablaufenden Lebens.[99]

Dabei dominiert auch wieder die Dialektik der wirklichen Welt;[100] die Begriffsdialektik ist nur „das Abbild“, der Reflex der Realdialektik. Das Moment der Ganzheit, das die Gestaltlehre beherrscht, formt hier in umfassender Weise das Erkenntnisbild: schon in der phänomenologischen Sichtung der ökonomischen Erscheinungen offenbart sich ein Durchbrechen des reinen „Reflexionszusammenhangs“ der Tatsachen.[101] Diese Ganzheit ist zunächst aber selbst noch auf den Dingzusammenhang bezogen, ohne schon Totalität im dialektischen Sinn zu sein. In der dialektischen Konzeption der Wirklichkeit wird die Starrheit des Abbilds, der Dualität von Denken und Sein überwunden. Diese dialektisch-dynamische Wirklichkeit ist jene wesenhafte Wirklichkeit, auf die die Abbildtheorie durch das Unmittelbare hindurch gerichtet ist. Eine so ausgeweitete Abbildtheorie trägt in sich schon den Keim, die Gesetze des Denkens als Spiegelung der Seinsgesetze[102] aufzufassen, sie zu identifizieren.

Wird die Abbildtheorie ihrer mythologischen Ausdrucksform entkleidet und werden die rationalistischen Elemente ausgeschieden, so lässt sich aufweisen, wie sie einen dynamischen Wirklichkeitsbegriff intendiert, der keine Stabilisierung im Sinne einer statischen Metaphysik duldet. Ja, die Abbildtheorie, wenn sie auch eine starre Dualität von Denken und Sein auszudrücken scheint, intendiert selbst eine Identität von Sein und Denken, steht also trotz formalen und ausdrücklichen Protestes unter dem Aspekt der Hegelschen Ontologie: Subjekt und Objekt sind eingebettet in die Gesellschaft, und diese ist selber historisch bedingt. Die Dialektik wird Erkenntnismethode und zugleich Entwicklungsgesetz. Marxistische Erkenntnistheorie geht über die Gnoseologie hinaus zur Ontologie.

Damit haben wir die Intention einer sublimierten Abbildtheorie freigelegt. Die phänomenologische Analyse des Erkenntnisvorganges, besonders des uns interessierenden Ansatzes der Wirklichkeit, hat dabei Kontrollfunktion ausgeübt; denn diese Analyse — darin erkennen wir ihren methodischen Wert besonders — wird am ehesten der natürlichen Realitätsthesis als Ausgangspunkt gerecht. Mit ihrer Hilfe konnten wir auch das Wesen der dem historischen Materialismus zugrunde liegenden erkenntnistheoretischen Haltung der Abbildtheorie aufsuchen. Ja wir könnten soweit geben zu behaupten, dass in der phänomenologischen Methode selbst diese sublimierte Abbildtheorie weitgehende Verwirklichung gefunden hat. Wir legen auf dieses Nebenprodukt unserer Untersuchung, das erst gegen alle Einwände verteidigt werden müsste, um unbestritten zu sein, kein entscheidendes Gewicht. Wichtig ist für uns, nachdem wir den Umschlag der Abbildtheorie aus der ursprünglich starr konzipierten Dualität von Denken und Sein in die Subjekt-Objekt-Identität als möglich aufgewiesen und zugleich ihre Intention nach einem dynamischen Wirklichkeitsbegriff freigelegt haben, zu untersuchen, wie dieser Umschlag wirklich (bei Lukacs) erfolgt ist.

Zunächst wollen wir (im nächsten Kapitel) den dynamischen Wirklichkeitsbegriff, wie ihn die sublimierte Abbildtheorie des historischen Materialismus intendiert, noch näher zu umschreiben versuchen.

 

VI.

Die Frage nach der Wirklichkeit wird gestellt im Sinn einer ontologischen Erkenntnistheorie jenes Typus,[103] der zunächst alles als Sein im weitesten Sinn nimmt. Auch das er kennende Subjekt ist ein Glied des Seins. Der historische Materialismus scheint demnach naiv ontologisch fundiert: Sein ist für uns gegebenes (bewusst gewordenes und bewusst werdendes) Sein. Zu fragen ist nach den möglichen Arten des Seins und ihren Beziehungen zueinander, welche Seinssphäre als letzthin wirkliche verabsolutiert wird.

In der Entwicklung des historischen Materialismus vom Dogmatismus (eines naiven Realismus) über den Skeptizismus (eines empiristischen Positivismus) zum Kritizismus hat die erkenntnistheoretische Problematik über die kontemplative Beruhigung hinausgewiesen, die sich mit einer Trennung von Erkenntnisgegenstand und Erkenntnissubjekt im Sinne zweier heterogener Sphären zufriedengab. In Frage steht die Aufhebung des Dualismus zwischen Sein und Denken in einer Identität von Subjekt und Objekt im Erkenntnisprozess, die Durchbrechung der „Verdinglichungsschranke“. Die phänomenale Dualität wird theoretisch[104] in einer Einheit von Bewusstsein und Sein zu überwinden versucht, einer Einheit, wie sie auch der sublimierten Abbildtheorie im Grunde vorschwebt.

Der Ansatz einer Realität, die unfunktionalisiert als „einzige” da ist, kann sich nicht in der naiv-objektivistischen Fassung der Außenwelt erschöpfen. So wenig das Hinnehmen der kruden Faktizität genügt, um über die reine Kontemplation, als „System” oder als Bewusstsein post festum hinauszugelangen, so fraglich wird (auch bei Annahme einer Realdialektik) in bezug auf die Totalität der Wirklichkeitsakzent der unmittelbar gegebenen Tatsachen und Sachverhalte, ganz zu schweigen von der Wirklichkeit der in sinnlicher Anschaulichkeit gegebenen „realen” Dinge in der Empirie.

In dem Augenblick, wo sich der Zweifel jener Existenz als Dasein einer objektiven Realität bemächtigt, hören die „natürlichen” Setzungen auf, als letzte zu gelten, und er öffnen die Sicht auf Wirklichkeitsstufen, auf die hin jene unmittelbare Wirklichkeit bezogen wird. Mit diesem Zweifel wird nicht etwa die Existenz der Außenwelt als solche agnostisch geleugnet; im Gegenteil, ihre grundsätzliche Erkennbarkeit im Vollzug des Transzensus lässt überhaupt erst die Frage auf kommen, ob eine Reduktion, eine Erkenntnis im Sinne eines Abbaues der natürlichen Anschauung möglich ist. An Stelle der alten Setzungen hellt diese Stufe des Erkenntnisprozesses genügend evidente neue Setzungen auf, bei denen die Einsicht einstweilen Halt macht. Das Bewusstsein wird sich selber Gegenstand, die Erkenntnisakte richten sich unmittelbar auf die Reflexionen. Für alles Denken ist auch weiterhin die Seinsgrundlage bestimmend, und es braucht weder ein spontanes Er zeugen des Gegenstandes, noch eine Erkenntnisvermittlung durch Denkformen angenommen zu werden, so ergeben sich verschiedene Schichten von Wirklichkeiten, Seinsschichten mit verschiedenem ontischem Akzent.

Die Hierarchie dieser Seinsschichten konnte der dogmatischen Geschlossenheit des kruden Materialismus nicht ein sichtig werden. Dass sie aber dem historischen Materialismus als metaphysische Basis innewohnt, ist ebenso sicher, wie jenes metaphysische Einheitsbedürfnis, aus dem heraus die Hierarchie den Stellenwert ihrer Stufen bezieht.

Diese Auffassung des historischen Materialismus als metaphysisch fundiert, als „metaphysiklose Metaphysik” (Vogel),[105] eine Metaphysik allerdings, die das Spekulative auf das Minimum einer Hypothese von relativer Gewissheit reduziert, die doch wenigstens zur kontrollfähigen Evidenz zu bringen möglich ist, diese Auffassung entfernt sich natürlich von der naiv-realistischen und positivistischen Dogmatik. Will man ihr das Recht absprechen, sich noch orthodoxer Marxismus zu nennen, weil man schon mit der Anerkennung irgendwelcher Entitäten innerhalb des historischen Materialismus nur eine uneingestandene Form fideistischer Gottmacherei vertrete, so ist dem entgegenzuhalten, dass diese Auffassung sich aus der historischen Fortbildung des historischen Materialismus selbst ergeben hat, die ja zunächst seine Anwendung auf sich selber, nicht nur im Sinne einer Ideologie, sondern im Sinn eines Wandels seiner eigenen Funktionalität fordert. Man kann dabei auch an den Übergang von einer Unterdrückten Ideologie zu der Ideologie einer nunmehr (proletarisch) herrschenden Klasse denken. Entscheidend ist für uns, dass die mit der ökonomischen Entwicklung sich umwälzende Erkenntnistheorie die revolutionären Elemente selbst in den Wirklichkeitsbegriff hineingestaltet, also einen „revolutionären” Wirklichkeitsbegriff freilegt. Diese Freilegung kann schon deshalb in gar keiner Weise opportunistische Thesen rechtfertigen, da gerade sie das Erfassen der Wirklichkeit in der Verwirklichung, das Fundament der Aktion, einschließt. Es ist dabei nicht außer acht zu lassen, dass auch die er kenntnistheoretische Fragestellung der dialektischen Spannung unterliegt. Sie ist aber auch der Gefahr der Erstarrung unterworfen, wie etwa die Gesetze der klassischen Ökonomie als Bewegung an Tatsachen das unmittelbar Gegebene dem Menschen entfremden und nur ein Durchbrechen dieser Versachlichung die dialektische Spannung ermöglicht.

Dieser revolutionäre Wirklichkeitsaspekt, der das unmittelbar Gegebene in seiner Fülle stehen lässt, ohne es durch begriffliche Schematisierung seines lebendigen Inhalts zu berauben, der über das Unmittelbare hinaus aber auf die Totalität sowohl des historischen Prozesses als auch der dinglichen, raumzeitlichen Verbundenheit gerichtet ist, intendiert die Vermittlung des Erscheinenden, wie es sich in der Erscheinung unmittelbar gibt; er ist selber dialektisch.

Daher entspricht ihm eine Scheidung von Wirklichkeitsstufen. Die bloße Tatsächlichkeit wird gefasst als Unmittelbarkeit einer objektiven Wirklichkeit, die durch Vermittlungskategorien ins Bewusstsein „gehoben“ wird. Die über das unmittelbar Wirkliche hinausgehende geschichtliche Wirklichkeit ist aber das Ganze des Geschichtsprozesses, nicht das Gerade-So-sein des Faktischen.[106] Das in der Erscheinung unmittelbar Wirkliche, die empirische Realität ist (in ihrer einzelhaften dinghaften Zerspaltung) in das wirklich Er scheinende, in die gegliederte Ganzheit der Gesellschaft ein gesenkt, und diese ist wieder in die Geschichte als den Weg der Gesellschaft eingebettet. Denn das Inhaltliche der Gesellschaft als Funktionszusammenhang erhält eben seine Bestimmung durch die Geschichte. Von diesem Zentrum aus wird das Ganze des sozialen Prozesses aufzuhellen versucht.[107] Die Hinwendung zur Menschenbeziehung statt der Fixierung eines Dingdeterminismus, der Ausgang von der konkreten unmittelbaren Wirklichkeit, von wirklichen wirkenden Menschen, wie sie in der Gesellschaft historisch wirklich geworden sind, tendiert zu einer Verankerung in einem metaphysischen Lebenszentrum, gerade wenn letzthin das sittliche Pathos der Lebensnot der Masse entscheidend wird.

Die phänomenale Scheidung von Subjekt und Objekt erweist sich also als provisorisch. Sie tendiert, in einer theoretischen Einheit aufgehoben zu werden. Diese Einheit als Materie (als letzte Sphäre der Bezogenheit) ist aber für uns spekulativ kraftlos und damit theoretisch unbefriedigend und unhaltbar geworden, Fraglich ist demnach, wo diese letzte Wirklichkeit anzusetzen ist, auf die hia das unmittelbar „Gegebene” in seiner tatsächlichen Existenz bezogen wird. Damit ist schon über die dogmatische Fixierung eines auf die Geschichte übergreifenden naturalistischen Determinismus hinausgegangen. Immer bleibt aber zunächst die „natürliche Weltansicht” bestehen. In der Deutung des Erkenntnisvorganges als Abbildung liegt wohl die Gefahr einer Erstarrung von Denken und Sein (als gnoseologisch heterogene Sphären); aber schon hier wird der ontische Akzent auf die „Wirklichkeit” verlegt, die das Abbild „hervorruft” und der das Abbild adäquat sein muss. Die Dialektik dynamisiert dieses Verhältnis der Abbildlichkeit und weist damit über die phänomenale Dualität von Sein und Denken auf jene „letzte Substanz” hinaus, auf die sich sein und Denken als auf einen einheitlichen Wesenskern reduzieren lassen, auf dem die Identität von Subjekt und Objekt beruht, jenen Wesenskern der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit, die sich nun selber als Sinngebilde in ihrer dialektisch-dynamischen Bewegung enthüllt. Die gnoseologisch getrennten Sphären werden ontologisch homogen.

Die gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit gab sich zunächst noch nicht selbst, sie war verdeckt durch eine naturalistische Fragestellung. Die Problematik des Naturgeschehens wurde auch auf sie übertragen und ergab ihre kausal-mechanistische Deutung. Dabei wurde das „wahrhaft” Reale potenziert in die Substanz der Materie. In dieser Verabsolutierung war die Dialektik nur Bewegung schlechthin. Als blindes Naturgeschehen war sie in die unabänderliche Notwendigkeit der Entwicklung aufgelöst, die auch auf das Geschichtliche übergreife. Die tatsächliche Grundlage der sozialen Dialektik bildet aber der Antagonismus in der Gesellschaft, die Heterogonie der Zwecke.[108] Die eigentlich dialektische Fragestellung gestattet erst, durch die naturalistischen Verdeckungen hindurch den Zugang zu der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit zu finden.

Schon im Wirklichkeitsbegriff der Geschichte lassen sich demnach diejenigen Elemente aufweisen, die zugleich die Verhaltungsweise zur Wirklichkeit ausdrücken (wir werden diese Ansatzpunkte noch aufgreifen): naturgesetzlicher Determinismus, der die übermenschliche, jenseitige Eigengesetzlichkeit der ökonomischen Entwicklung statuiert und sie möglicher weise evolutionistisch und opportunistisch rechtfertigt: dialektische Spannung, Umwälzung der Gegenständlichkeit der Erkenntnis, Dialektik zwischen Denken und Sein, die revolutionär die „Tathandlung”, Erkenntnis als Entscheidung fordert; schließlich die Synthese, in der naturalistische Gesetzlichkeit historistisch gedeutet, die Funktion des Proletariats (als „im Besitz der Erkenntnischance befindlich”) und damit die Anpassung der menschlichen „Entscheidung” an die „Naturnotwendigkeit” aufgewiesen wird.

Das Gegenüber von Subjekt und Objekt[109] verkörpert, wenn in phänomenaler Geschiedenheit Subjekt und Objekt stehen bleibt, eine statische Art zu denken, das Erkenntnisobjekt in seiner von der geschichtlichen Wirklichkeit produzierten Fertigkeit anzusehen und das Subjekt aus seiner historisch-konkreten Gestalt, aus seinem lebendigen Wirken und Handeln herauszulösen und es, wenn überhaupt empirisch konkretisiert, als den Menschen, durch die Brille der Philosophen gesehen, zu konstituieren. Solche Haltung ist gezwungen, die empirisch materielle Starrheit des Seins und die logische Starrheit der Begriffe als unabwendbar hinzunehmen. Für Marxens „praktische Philosophie” ist die Wirklichkeit ein „Komplex” von Prozessen, die Entwicklungstendenzen der Geschichte[110] repräsentieren, gegenüber der starren dinghaften Faktizität der Empirie eine aus ihr selbst entsteigende, also keineswegs jenseitige, aber doch höhere, wahre Wirklichkeit. Der dialektische Prozess ist mit der geschichtlichen Entwicklung identisch.

 

VII.

Nach der Aufweisung des von der sublimierten Abbildtheorie intendierten dynamischen Wirklichkeitsbegriffes geben wir nunmehr dazu über, den dialektischen Wirklichkeitsbegriff der Position Lukacs’ zu entwickeln und diese Position von der Lenins abzuheben. Diese Abhebung soll trotz der Herausstellung von Differenzen auch die Möglichkeit eines gemeinsamen Wirklichkeitsaspektes im Auge behalten. Drei Problemgruppen werden dabei besonders in den Kreis unseres Interesses treten: Die Frage nach dem Konkreten in der Geschichte, die Relevanz der Dialektik für die geschichtliche Erkenntnis und die Vereinbarung der Subjekt-Objekt-Identität mit der von uns phänomenal aufgewiesenen gnoseologischen Transzendenz.

In der Geschichte ist die Gesellschaft konkrete Totalität[111] als Produktionsordnung auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung und die dadurch bewirkte Gliederung der Gesellschaft in Klassen. Das Konkrete in der Geschichte ist also nicht ein empirisches Individuum mit seinem empirisch gegebenen (psychologischen) Bewusstsein. Die wirklich bewegenden Kräfte der Geschichte sind vom individuellen Bewusstsein unabhängig. Die Klasse als erkennende Gruppe, als Ideologienträger gemäß ihrer Lage im Gesamtprozess ist zu wahrer, wirklicher Erkenntnis berufen, die den Wirklichkeitszusammenhang im Beziehen auf das Ganze sieht und die auf den Mittelpunkt der Wirklichkeit, „auf das, was man Endziel zu nennen pflegt” gerichtet ist. Für das Proletariat fallen – auf die nähere Entwicklung können wir hier nicht eingehen – Selbsterkenntnis und Erkenntnis der Totalität zusammen; es ist zugleich Subjekt und Objekt der eigenen Erkenntnis, in seinem Klassenstandspunkt offenbart sich erst die Erkenntnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die Einheit von Theorie und Praxis.[112] Die Kategorie des Klassenkampfes tritt in Funktion; das Klassenbewusstsein ist bewusst gewordener Sinn der gesellschaftlichen Lage der Klasse.[113]

Das Bewusstsein wohnt der realen geschichtlichen Entwicklung inne. Die Tendenz zur Ganzheit, das Erfassen aus der Totalität heraus, bedeutet also kein zur Unfassbarkeit gesteigertes Transzendieren des materiellen Substrats der Wirklichkeit, sondern die Richtung auf die materielle Totalität des Erkennbaren, des zu Erkennenden, auf die Frage nach wirklichem Wesen und Substrat jener Formen, in denen sich das zugrunde liegende Sein äußert.[114] Die dialektische Methode löst die Ding-an-sich-Irrationalität in einer der Forderung des intuitiven Verstandes[115] entsprechenden Weise auf. Hier gipfelt die Opposition gegen den Rationalismus und auch gegen Hegel.

Die historisch unmittelbare Einstellung zu den Tatsachen erweist sich (nach Lukács) selber als durch subjektive Denkformen vermittelt, die eben den Inhalt objektiviert fertig stehen lassen.[116] Um über diese Unmittelbarkeit hinauszugelangen, versucht Lukacs[117] durch die Annahme einer „Erzeugung” des Objekte die über die Unmittelbarkeit (des Daseins der gegebenen Gegenstände) hinausführenden Vermittlungsformen als Aufbauprinzipien und reale Bewegungstendenzen der Gegenstände selbst aufzuzeigen, also in weitester Auslegung Bestimmtheiten des Seins durch Denkbestimmungen zu intendieren.[118]

Der phänomenale Bestand zeigt ein relationales Gegenüber von Subjekt und Objekt, wobei das Denken als Erkennen in das Sein eingebettet ist. Die ursprüngliche ontologische Verknüpfung von Subjekt und Objekt, wie wir sie der Intention einer sublimierten Abbildtheorie unterstellen zu können glauben, wird von spekulativen Gesichtspunkten aus und nicht zuletzt mit Hilfe von Methoden „höherer Rationalität” konstruiert. Als solche Methode offenbart sich eben die in den historischen Materialismus eingegangene Hegelsche Dialektik, wie sie Lukacs zu erweisen sucht: Das Unmittelbare wird zum Schein depraviert, die Erscheinung aus einem höheren Sein zu begreifen versucht, das in substantielle Bestimmtheiten eingeht, sei es in die „Materie” oder sei es in die Substanz als Subjekt, Weltgeist im Hegelschen Sinn. Wird die Dialektik der Geschichte als Methode „höherer Rationalität” aus dem phänomenalen Bereich in die Denkimmanenz[119] eingegrenzt, so ist, wenn auch als Methode gerechtfertigt, ihre Relevanz, ihre Ausschließlichkeit für den historischen Prozess noch nicht erwiesen.

Lukacs’ Protest wendet sich insbesondere gegen die „bürgerliche” Befangenheit in der erkenntnistheoretischen „Bedingung der Möglichkeit”, die das Wirkliche aus dem zunächst Möglichen durch die Notwendigkeit zu begreifen sucht, wobei durch diese Art Nach-Denken[120] das Unmittelbare verewigt in formale Gesetze einbezogen wird. Wird „Erzeugung” von Subjekt und Objekt genetisch gefasst, so offenbart sich die Geschichte als Subjekt und Objekt umgreifendes Medium der Vermittlung des unmittelbar Erscheinenden. Die Vermittlungskategorie bedeutet in ihrer Hegelschen Art bei Lukacs kein Transzendieren;[121] in der Immanenz des gesellschaftlichen Seins offenbaren sich vielmehr die Gegenstände der Empirie selbst als Momente der Totalität. Ansatz und Ziel der Erkenntnis wird nicht mehr die Tatsache, sondern die Tathandlung. Im Geschichtsprozess offenbaren sich Erkenntnisobjekt und -subjekt, der „konkrete“ Mensch, als dasselbe. Nur bedingt der Standort innerhalb der Gesellschaft, deren Sein (Bourgeoisie und Proletariat) „unmittelbar” gegeben ist, durch die Kategorie des Klasseninteresses eine klassenmäßig verschiedene Perspektive, Das Tun des Subjekts gestaltet das Objekt mit, nur dass dieses Subjekt kein isoliertes „Subjekt überhaupt” ist, sondern hinter dem Individuum als scheinbarem Subjekt, als unmittelbarem Träger der Erkenntnis, steht die Klasse, die sein Bewusstsein vorbestimmt.[122] Die Dialektik der Klassenlage treibt das Proletariat über die Unmittelbarkeit hinaus. Das Wesen der geschichtlichen Entwicklung ist objektiv dialektisch, d. h. die Widersprüche treten an den Gegenständen selber heraus; die Erscheinungsformen sind also nicht nur Gedankenformen, sondern Gegenständlichkeitsformen. Aufhebung muss also die Gegenständlichkeitsform betreffen, die Lebensform der Gesellschaft. Die Einheit von Theorie und Praxis ist notwendige Folge, wenn die Dialektik nicht in der Geschichte angewendet oder in sie hineingetragen, sondern aus der Geschichte selbst als ihre notwendige Erscheinungsform bewusst wird.[123] Dialektische Notwendigkeit ist nicht mechanisch-kausal; das „Neue”, das hinzutritt, ist der Übergang des Bewusstwerdens in die Praxis der Umwälzung der Gegenständlichkeitsform seiner Objekte. Alle rationelle Kalkulation vergegenständlicht ihre Objekte in System und Gesetz, den Tatsachen der Empirie[124] wird schon „Wirklichkeit” zugestanden, da dem Rationalismus die Gesamttendenzen der Entwicklung als Ganzheit nicht einsichtig werden konnten. Alle Tatsachen sind „Momente“ des Gesamtprozesses.[125] Die Erfassung des Neben- und Nacheinander der Dinge wird über die Kategorie Erstarrung hinaus selber dynamisiert. Die Geschichte wird selbst schöpferisch, sie bringt das Neue hervor, drängt es der durch ihr Klasseninteresse determinierten Klasse ins Bewusstsein,[126] die Erfassung ihrer Entfaltung ist also jeder Transzendenz, sei es – wie wir vorgreifend anmerken – einer Anthropologie oder einer Wertskala, abhold.

Die Geschichte als Werden ist zugleich Vermittlung zwischen konkreter historischer Vergangenheit und historischer Zukunft. Das Neue entsteht in ihr „nur mit unserer bewussten Hilfe”. Die Wirklichkeit, die das Kriterium der Richtigkeit des Denkens bleibt, wird nicht ohne Zutun des Denkens.[127] Das, was also das Bewusstsein des Proletariats „abbildet”,[128] ist das aus dem dialektischen Widerspruch der kapitalistischen Entwicklung entspringende Neue (und zwar kein etwa ad hoc geschaffenes Neue), das aus dem Entwicklungsprozess in seiner Totalität ins Bewusstsein des Proletariats getreten ist und von diesem praktisch gemacht wird. So wird in der Geschichtserkenntnis durch die Subjekt-Objekt-Identität die Erkenntnis zuerst Theorie der Praxis, der proletarischen Tat.

Es hat auf den ersten Blick den Anschein, als ob in der Geschichte mit dieser Ineinsetzung von Subjekt und Objekt sowohl deren phänomenale Geschiedenheit als auch alle gnoseologische Transzendenz aufgehoben sei. Dies erweist sich aber nur als scheinbar, insofern in der Fragestellung von Lukacs das Subjekt in der Geschichte sich selber objiziert und dabei in der Tat nicht nur als (kontemplativ) erkennendes, sondern auch als handelndes erscheint. Das Objektive ist die Geschichte, aus der das die Geschichte erkennen wollende Subjekt seine Bestimmtheiten erhält. Das Subjekt wirkt aber selber wieder an der Bestimmung des Objekts, an der Gestaltung der konkreten historischen Situation mit. So eingesehene Erkenntnis des Geschichtlichen duldet keine passive Beruhigung in Erfasst-„haben” des Wirklichen, sondern tendiert durch die Einschaltung der proletarischen Klassenlage, deren Funktion trotz und wegen ihres selektorischen Charakters es ist, innerhalb der Gesellschaft, die Tendenz zur Totalität zu realisieren, zu einer „Berichtigung“ des Wirklichen, zu einer Revolutionierung der gesellschaftlichen Konstellation im Dienste jenes „wahrhaft” Wirklichwerdens der in der Geschichte selbst offenbar werdenden „Tendenzen”. Die dialektische Spannung dieses Umschlags der Erkenntnis in Praxis ist in der Identitätsthese enthalten, die in der Geschichte das reale Sein als Werden begreift, Sein im Wirklichwerden und Werden im Wirklichsein vereinigt.

So sehr das Hinausgehen über das Unmittelbare den Ansatz eines Transzendenten annehmen ließe, so wird trotzdem die Seinsimmanenz der Geschichte verabsolutiert, in die die (zunächst denkimmanente) Dialektik eingesenkt ist. Die Hypostasierung der Geschichte als realen Seins ist nur der Vollzug des (im Hegelschen Geiste schon liegenden) Übergangs zur Ontologie. Die Identität des Vernünftigen und Wirklichen, die bei Hegel alles Wirkliche aus der dialektischen Vernunft zu deduzieren ermöglichte, wird in der Verabsolutierung der Dialektik als Universalprinzip in der Geschichte „realisiert”.

Während die empiristische Abbildtheorie (auch in der Prägung Lenins) noch eine „Anwendung” der Dialektik auf die Abbilder vornahm, wobei Sein und Denken sich parallel und entsprechend dialektisch entfalteten und die dialektische Entwicklung des Seienden diejenige des Denkens bestimmte, so wird nunmehr auch die dialektische „Wirkung” vom Denken auf das Sein zugestanden. Solange man als Wirklichkeit nur die „Außenwelt” einsah, die sich als seiende sensualistisch abbildete, war das Irrationale nur in einer höheren Art Rationalität, in der Dialektik zu bewältigen, die selber eine objektive, eine Realdialektik sein musste. Aus der Erkenntnis a posteriori rekonstruierte man die objektive Realität, die aber dabei keineswegs als zeitlose und ewige gefasst wurde, sondern als geschichtlich gewordene und werdende, methodisch determiniert durch die und identifiziert mit der Erfassung der Entwicklung der Natur. Die „Naturwirklichkeit” wurde als unter „eigenen Gesetzen stehend vorgestellt, deren Auffindung ihre Beherrschung ermöglichte, wo immer also die „Gesetze” der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit (in einem historischen gegenwärtigen Moment) „entdeckt” wären, wäre zugleich die Möglichkeit einer Umgestaltung aufgewiesen.

Diese Möglichkeit war nun als Notwendigkeit zu erweisen. Die Notwendigkeit, die die Wirklichkeit der sich entfaltenden geschichtlichen Tendenzen zu konstituieren hat, kann nicht aus einer Ding-an-sich-Irrationalität der Geschichte, sondern nur aus ihrem Charakter als konkrete Totalität entspringen, nicht aus dem Dasein einer dinghaften Welt, sondern aus dem Dasein der Welt, wie es die ihm zugrunde liegenden menschlichen Beziehungen bestimmen. Es wird dabei nicht über die Immanenz des gesellschaftlichen Seins hinausgegangen, nichts Jenseitiges als Substrat hypostasiert. In der Geschichte selbst werden die über die Dinglichkeit hinausweisenden Tendenzen bewusst. Im Geschichtsprozess ist jedes Moment Ansatz zur Ganzheit. Die unmittelbare Wirklichkeit besitzt ihre Funktion im Gesamtprozess und dient nur als Ausgangspunkt, um die volle Wirklichkeit gedanklich zu reproduzieren. Die konkrete Totalität ist die eigentliche Wirklichkeitskategorie.[129] Das Konkrete als Einheit des Mannigfaltigen ist im Denken etwas anderes als in der Anschauung; dort erscheint es als Resultat, hier als Ausgangspunkt. Damit wird das anschaulich Wirkliche ungenügend; die „wirkliche” Wirklichkeit ist nicht mehr „unmittelbar” „gegeben”.

Hegel hat die wirklich treibenden Kräfte der Geschichte noch mythologisiert; im historischen Materialismus bilden Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens das „in letzter Instanz“[130] bestimmende Moment. Der Dualismus von Denken und Sein, von Form und „Materie”, wird durch Erkenntnis ihrer dialektischen Verknüpfung aufgehoben. Die Denkhaltung, der sich die „Materie” darbietet, ist durch sie als historisierte Seinseinheit bestimmt. Die an sich seiende Gegenständlichkeit ist – als Gipfel der Opposition zum Rationalismus – in den Wandel einbezogen, das „Denken nach den Prinzipien der formellen Logik ist nur als spezieller Fall des dialektischen Denkens”, „wie die Ruhe ein Spezialfall der Bewegung” aufzufassen[131] und damit als letzte Realität die der Bewegung aufgedeckt.

 

VIII.

Diese historistische Position erhält im historischen Materialismus ihre besondere Prägung durch die Zentrierung um die ökonomischen Verhältnisse, die als Funktionalisierungsebene des Historischen, als „bestimmend” Wirkliches mit ontischem Akzent in den Mittelpunkt treten. Hier öffnet sich der Blick auf die Dualität von Überbau und Unterbau, von Ideal- und Realfaktoren in der Geschichte.

Aber schon der Ansatz des Erkenntnisproblems zeigt in der möglichen Scheidung naturalistischer und historistischer Elemente – wir greifen die früher angedeuteten Ansatzpunkte wieder auf – die Weise, wie Natur- und Geschichtserkenntnis die Fragestellung nach der Wirklichkeit beeinflusst, wie der historische Materialismus die monistische Synthese naturalistisch und historistisch vollzieht, wie sich diese Synthese schon in der Konzeption des Erkenntnisursprungs ausdrückt in der naturalistisch ausgerichteten Abbildtheorie und in der historischen (neu-Hegelschen) Subjekt-Objekt-Identität.

Die Außenweltthese, die aus der in Frage gestellten Natur resultiert, scheint dem Phänomen der historischen Erkenntnis nicht zu genügen. Der Ansatz der Außenwelt besagt, dass wir unabhängig von uns sich vollziehende gesetzmäßige Verläufe im Bewusstsein abbilden, Erkenntnis bedeutet Anpassung, Annäherung an die „äußere” Wirklichkeit. Das Subjekt ist wohl selbst Naturwesen, sofern es in seiner konkreten Individualität gesetzt wird; obwohl es den Naturgesetzen unterworfen ist, kann die Gegenständlichkeit der ihm so gegebenen Natur in ihren biologischen Abläufen nicht umgewälzt werden. Umgewälzt wird nur das Weltbild der Natur, so wie sie Gegenstand unseres Denkens ist. Die Naturgesetze werden als Reflexionszusammenhänge über das vorgefundene Material bewusst. Naturerkenntnis bedeutet in diesem Sinne Nachbilden einer „gegebenen” Ordnung in einer Wiederkehr von Gleichem, ohne Ur-Sprung eines Neuen, obwohl die positive Kenntnis sich induktiv ausdehnt.

Die Geschichtserkenntnis[132] scheint sich der Analogie mit der Naturwirklichkeit zu entziehen, obwohl alles Geschehen „natürlich” mitbedingt sein mag. Das bewegte und bewegende Element in der Geschichte ist der Mensch und zwar nicht das natürliche Gattungswesen, sondern der in historischer Einmaligkeit und Einzigartigkeit lebende, erkennende und handelnde Mensch einer bestimmten Gesellschaft. Um zu dieser Konkretion vorzustoßen, ist seine Determinierung durch die Klassenlage, durch seinen Standort im ökonomischen Prozess wesentlich, wodurch überhaupt erst seine Erkenntnisintention enthüllt werden kann. Diese Intention geht auf das Ganze der historisch-sozialen Wirklichkeit als gesellschaftliches Leben, wie es „produziert und reproduziert” wird. Was ihm also als Produkt erscheint, hat er selber zu reproduzieren. Als Subjekt und Objekt der Geschichte ist er derselbe; die Reproduktion ist nicht pures Abbilden, sondern ist auf eine Gestaltung der Welt gerichtet aus der Bewusstwerdung der in ihr nach Gestaltung verlangenden Tendenzen. Solches „Abbilden”; der aus ihrer Klassenlage zur Intention auf die historisch-soziale Ganzheit berufenen Klasse des Proletariats ist gerade das Neue und Schöpferische, in welchem der Geschichtsprozess im proletarischen Klassenbewusstsein innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft bewusst geworden ist.[133] Die Subjekt-Objekt-Identität in der Geschichte wäre also eine Identität im Sinne des Sich-selbst-Wissens.

Damit wird das Denken gegenüber der sensualistischen Betonung des Sinneszeugnisses für die Ansetzung der Realität konstitutiv. Und auch hier zeigt sich der Durchgang durch den Idealismus, Im dialektischen Denken, im Innensein wird Wirklichkeit bewusst. In der Seinsimmanenz wird die Geschichte als Sinnzusammenhang begriffen. Alles scheinbare Transzendieren ist in dieser Immanenz umschlossen. Wo immer aber die phänomenologische Geschiedenheit von Sein und Sinn, der phänomenale Dualismus von Subjekt und Objekt, in einer „Theorie” der Erkenntnis monistisch aufgelöst wird, kann Identität sowohl Einbeziehung des Subjekts in das Objekt, als auch Einbeziehung des Objekts in das Subjekt bedeuten, womit im letzteren Fall Erkenntnis eben auch im „opponierten” Gegenstand subjektiv bleibt, ja, wobei subjektive Allgemeingültigkeit noch nichts über „objektive. Richtigkeit” sagt. Jene Art Richtigkeit – die sich von der logischen Richtigkeit als Notwendigsein unterscheidet – konstituiert aber erst die wahrhafte Wirklichkeit im Sinne eines transzendental-ontologischen Wahrheitskriteriums.[134]

Subjekt-Objekt-Identität könnte demnach auch einer idealistischen „Theorie” fassbar sein, gerade wenn sie im besonderen Maße „Praxis” fundiert. Nicht umsonst wehrt man sich in der Abbildtheorie gegen eine Identifizierung von Außenwelt und Bewusstseins„inhalt”. Trotz aller ontologischen Bedingtheit des Denkens durch das Sein muss das gnoseologische Ansichsein des Objekts auch in der Geschichte aufweisbar sein.

Die monistische Synthese der phänomenalen Dualität von Unterbau und Überbau wird im historischen Materialismus von zwei Seiten versucht: naturalistisch in der metaphysischen Konzeption der Materie, historistisch in der Metaphysizierung des Geschichtsprozesses; in beiden Fällen wird ein Zusammenhang beider Sphären zu fassen gesucht: in der naiv dogmatischen Form durch eine spekulative Hypothese, in der historischen Form durch eine Sinn-auf-Sinn beziehende Einheitsetzung. Die Hypostasierung der Materie verbürgt wohl ein höheres Maß systematischer Einsicht, aber mindere Gewissheit (im Sinne eines metaphysischen Minimums); sie wird aus diesem Grunde kaum aufrechtzuerhalten sein. Dagegen besitzt die Metaphysizierung der Geschichte in dem Wesen des Seienden als zeitlichem[135] einen phänomenalen Anhaltspunkt, wenn sich dabei auch der Widerstand gegen Hegels Gleichsetzung der idealen und realen Sphäre, des Vernünftigen und Wirklichen in Hegels „Aufhebung” noch auszuwirken vermag. Die radikale Umstürzung Hegels bedeutet eine Aufhebung der idealen Sphäre in der realen; die reale Sphäre erscheint dabei als „wirkliche“, die ideale als ihre Ableitung.[136] Eine immanente Betrachtungsweise wird die reale Sphäre und (in engerem Sinn) den ökonomisch zentrierten Sozialprozess der Gesellschaft selbst als Sinnzusammenhang, als geistig gestaltet konzipieren,[137] während eine transzendentale Einstellung den realen Prozess

in „jenseitiger” Eigengesetzlichkeit ansetzen wird. Die ökonomische Dynamik des Widerspruchs von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen wird in historischen Materialismus als Wesen der geschichtlichen Entfaltung auch des gesellschaftlichen Überbaus freigelegt. Im Vollzug der perspektivischen Zurechnung bedeutet also der Überbau doch eine „Widerspiegelung” der Realfaktoren, eine Widerspiegelung, die den Zusammenhang zwischen existentiellem Hintergrund und geistigen Gehalten ausdrückt. Trotz aller Immanenz (trotz allem Innensein) ist die Geschichte selbst „wie ein Ding an sich” gegeben, das in keiner Perspektive in absoluter Totalität erfassbar ist, auf das sich aber alle Perspektiven richten’.[138] Das An-Sich-Gegebensein des totalen Geschichtsprozesses bedeutet eine unaufhörliche Umwälzungsbewegung in der Zeit (der auch unser Bewusstsein unterliegt), zugleich aber, aus der ontologischen Determinierung des Subjekts durch das Objekt, die Begründung unserer Fähigkeit, je nach unserem Standort in die geschichtliche Entfaltung hineinzublicken und aktiv an ihr teilzunehmen. Gnoseologisch ist also auch die Geschichte als Totalität transzendent. Ontologisch ist Subjekt und Objekt in der Geschichte (und die Geschichte als Objekt) homogen. Der Zusammenhang von Realfaktoren (existentiellem Hintergrund) und geistigen Gehalten entspricht also trotz allen gnoseologischen An-sich-seins von Subjekt und Objekt der ontologischen Einbettung des Subjekts in das Objekt.

Auf diese Weise rechtfertigt sich unsere (in diesem Sinn gemeinte) transzendental-realistische Auslegung der Abbildtheorie auch für die Erkenntnis des Geschichtlichen, allerdings mit einer wesentlichen Ergänzung: Die Dialektik erhält den Charakter transzendenter Gültigkeit, In dieser Konzeption wird auch in der immanenten Betrachtungsweise der Geschichte eine transzendentale Einstellung verwirklicht.

Fassen wir das Ergebnis soweit zusammen: Es zeigte sich, dass die Positionen Lenins und Lukacs’ gemeinsam auf einen dynamischen Wirklichkeitsbegriff in der Geschichte gerichtet sind. Im Wirklichkeitsbegriff des historischen Materialismus sind naturalistische und historische Elemente enthalten. Wir versuchten deren Einflüsse auf die Fragestellung nach der Wirklichkeit auf zu zeigen, denn die Wirklichkeit gibt sich anders, je nachdem, ob naturalistisch oder historistisch „gefragt” wird. Die Position Lenins ist besonders von den naturalistischen Elementen beeinflusst, während die Position Lukacs’ sich auf den historistischen Elementen aufbaut. Wir haben weiter versucht darzulegen, wie und warum eine naturalistische Betrachtungsweise dem Geschichtlichen nicht adäquat ist und in welcher Weise die sublimierte Abbildtheorie des historischen Materialismus auch dem Wesen des Geschichtlichen gerecht werden kann.

 

IX.

Mit dem Aufweisen naturalistischer und historistischer Elemente im historischen Materialismus sind wir auf eine zentrale wissenssoziologische Problematik gestoßen. Diese Problematik berührt unsere Fragestellung besonders. Da der historische Materialismus eine Funktionalisierung des Wissens auf die Klassenlage im ökonomisch-sozialen Prozess anstrebt, so ist die Wissenssoziologie methodisch gezwungen, sich mit seinem Wirklichkeitsaspekt auseinanderzusetzen).[139]

Für den an dieser Stelle zu leistenden Nachweis muss uns ein kursorischer Einblick genügen, trotzdem wir dabei dem Leser schon eine erhebliche Kenntnis der Sachlage zumuten und auch eine Vertrautheit mit den wichtigsten Arbeiten voraussetzen müssen. Es ist uns aber räumlich nicht möglich, wenn überhaupt dieser Hinweis stattfinden soll, die Frage in aller Ausführlichkeit auszubreiten. Für uns besonders wichtig ist die Position von Karl Mannheim,[140] weil ihm Phänomenologie und historischen Materialismus methodisch geleinsam anzuwenden gelungen ist. Daraus ergaben sich bestimmte Abgrenzungen und Sublimierungen gegenüber dem historischen Materialismus.

Zunächst werden an Hand einer phänomenologischen Sichtung sehr wertvolle Sublimierungen vorgenommen: Während der Geschichtsmaterialismus, an einer Interessenpsychologie orientiert, die Beziehung von Ideengehalten und sozialem Sein nur durch das verknüpfende Band des Interessiertseins verstehen kann, wird hier die umfassendere und adäquat innere Verhaltungsweise des „Engagiertseins” bestimmter Schichten an bestimmten Ideen präziser gefasst. Soziale Gruppen sind in diesem Sinne mit ihren Ideen nicht nur infolge einer Interessiertheit, sondern durch einen den kulturellen Tatbeständen entsprechenden Bezug des „Engagiertseins” mit einer Weltanschauung verbunden.

Auch werden bei Mannheim Weltanschauungspositionen nicht unmittelbar auf Klassenlagen bezogen, sondern es werden vermittelnde Einheiten, die der geistigen Schichten, dazwischengeschoben. Bestimmte voluntaristische weltanschauliche Strömungen werden von bestimmten geistigen Schichten getragen. Diese geistigen Schichten rekrutieren sich aber in einer der Forschung zugänglichen Weise aus bestimmten sozialen Klassen. Entsprechend diesen Sublimierungen kann auch der Denkstandort nicht mehr eindeutig[141] mit einer bestimmten sozialen Klasse gleichgesetzt werden, wenn auch bestimmte Beziehungen sich herstellen lassen. Nicht unmittelbar werden geistige Gehalte auf Klassen bezogen, sondern durch Vermittlung der dazwischen geschobenen geistigen Schichten erfasst.

Die phänomenologische Analyse[142] dient bei M. auch dazu, eine Unterscheidung von Real-, und Idealfaktoren zunächst zuzugestehen, um dann aber von einem erweiterten Gesichtspunkt dieser Scheidung nur einen provisorischen Charakter beizumessen. Die Geschichte wird bei M. im Sinne einer dynamisch-geistigen Totalität, als eine einheitliche dynamische Wirklichkeit gesehen, als deren „Teil” auch das seinsrelative Denken erscheint. Dieser Auffassung entspricht notwendig eine Ablehnung der Materie als letzter Bezogenheitssphäre.[143]

Es verschwindet hier auch die sonst so grobe und nur aus reiner Opposition gegen den Idealismus vollzogene Benennung der ökonomischen Sphäre als einer materialistischen, und es wird darauf hingewiesen, dass ja auch der ökonomische Zusammenhang ein geistiger Zusammenhang sei und nicht etwa einer der bloßen Physis. Die Präponderanz der ökonomistischen Deutung wird als eine heuristisch fruchtbare Hypothese in der Gegenwartssituation betont, als „äußerst geeignete Struktur“[144] beibehalten. Durch das Aufweisen des Tatbestands, dass Ökonomie ja auch ein geistiger Zusammenhang sei, wird die verabsolutierte Fremdheit von Ideologie und ökonomischer Wirklichkeit gemildert, wenn auch, was sehr betont werden muss, dadurch nicht einem Idealismus Vorschub geleistet wird. Der in den ökonomischen Relationen als „objektiver Geist” sich niederschlagende Zusammenhang ist nicht im selben Sinne vorstellungsmäßig „ideal”, wie die darüber entstehenden Denkgehäuse als Ideologien. Es gibt bei M. auch ein bloß Naturales und „Materielles”, das aber in der Geschichte und für die Geschichte nur im Sinn seiner geistigen Relevanz in Erscheinung tritt.

Ein weiterer Gedanke ist, das Geschichte nur aus sich selber sichtbar werden kann, nicht durch Hypostasierung eines geschichtsjenseitigen Standortes, „durch einen Sprung aus der Geschichte heraus”. Hierdurch wird mit dem Historismus Ernst gemacht, ohne dass der Strom des Werdens durch einen deus ex machina durchbrochen würde. Die Geschichtstotalität ist stets nur aus Ergänzungen erfassbar, und in der Verschiedenheit der Ergänzungsmöglichkeiten sind die verschiedenen Geschichtsanschaungen verstehbar. Es wird aufgewiesen, wie eine jede Denkströmung die Ergänzung von ihrer sozial voluntaristischen Zielsetzung her vornimmt. Eine jede Denkströmung setzt daher eine gegenwärtige Tendenz an die Stelle des noch nicht gegebenen Sinnzieles, nach dem sie selber strebt. Das Sinnziel wird also perspektivisch verschieden gesehen, je nach dem Punkte, auf dem man im Gesamtprozess steht. Die ausschließliche Erkenntnisberufenheit zugleich als Handlungsberufenheit des Proletariats, wie sie der historische Materialismus zu erweisen sucht, wird hier als eine standortgebundene Perspektive unter anderen dargestellt. Diese standortgebundenen Ergänzungen münden in keinen Relativismus und Illusionismus, wie vielleicht zu erwarten wäre, sondern jede sozialgebundene Ergänzung erweist sich als heuristische Hypothese zur schärferen Beleuchtung bestimmter Partikularzusammenhänge im Elemente des werdenden Totalgeschehens.[145]

Mit der Totalität wird insofern Ernst gemacht, als alle geistigen Gehalte, die einer Gesellschaft als Ganzes entstammen, in ihren Zusammenhang gesehen auf eine Funktionalisierungsebene bezogen werden. Je mehr sich der Realitätsakzent auf die Produktionsverhältnisse im Unterbau verschiebt, umso eher werden diese als bestimmende Variable in der Geschichte anerkannt.[146] Dabei liegt die Auffassung zugrunde, dass sich der Werdeprozess des Geistes auch im Unterbau abspielt. Aber auch diese Auffassung ist wieder realistisch an der „unmittelbaren” Wirklichkeit orientiert; die realen Fakta besitzen die „Massivität” der Gegebenheit,[147] sind also in unmittelbarem Sinn wirklich.[148] In dieser Konzeption der wissenssoziologischen Problematik erscheint der historische Materialismus als progressiver Historismus.

Gegen diese Position macht sich ein Widerspruch geltend, wie er neuerdings von Ziegler[149] im Anschluss an Pareto vertreten wird. Diese Opposition interessiert uns weniger wegen der Art des Problemansatzes einer Wissenssoziologie als in ihrer Stellung zum historischen Materialismus. Um die Einwände Zieglers recht zu würdigen, müssen wir vorerst aufzeigen, aus welcher Grundlage, ja man wäre versucht zu sagen, aus welchen Motiven dieser Widerspruch stammt. Es ist die Tendenz, aus dem historistischen Relationismus sich in eine Absolutheitsposition „aufzuheben”, ohne den Relationismus zu opfern.

Aus dieser Tendenz heraus könnte auch von proletarischer Seite Widerspruch gegen die Position Mannheims erhoben werden. Der absolute Geltungsanspruch, mit dem der historische Materialismus selber auftritt, duldet keine Depravierung; durch die Einordnung des historischen Materialismus als Partikularaspekt droht aber eine solche Depravierung. Dem soll entgangen werden. Wird die Geschichtsdynamik verabsolutiert, die soziologische Bedingtheit der Sphären geschichtsphilosophisch ausgeweitet, dann kann der historische Materialismus als eine neue Art Fortschrittsideologie entkräftet werden, die die Geschichte im Dienst der aufsteigenden Klasse „produziert”.

So ist zu verstehen, wenn der historische Materialismus eine Bezugsebene fixiert, die dem historischen Wandel, ihn bestimmend, entzogen ist, sich selber aber dynamisch entfaltet, Die Konfliktthese (eines Antagonismus zwischen. Produktivkräften und Produktionsverhältnissen) ist ja nichts anderes als die Feststeilung einer „Eigen”-gesetzlichkeit der ökonomischen Entfaltung, der die Entfaltung des Überbaus folgt. Sobald Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse ihres spezifischen jeweiligen historischen Inhalts entleert und zu rein schematischen Formen gestaltet werden, in denen sich die Geschichtsbewegung abspielt, sind ja anscheinend die „Konstanten” des Prozesses aufgedeckt. Auch die Konzeption einer Realdialektik soll ja „ein Prinzip” der Geschichte enthüllen. Im Sinn des progressiven Historismus werden „Eigengesetzlichkeit” und „Prinzip” aber schon selbst als Sinnprinzip der „Realität” unterstellt. Demgegenüber verlegt der historische Materialismus diese Eigengesetzlichkeit der Geschichte als sinnfremde „in” die Außenwelt, „aus” der sie uns bewusst wird.

Ein in dieser Richtung liegender Einwand gegen die Position Mannheims lässt sich aber aus seiner Position selbst heraus entkräften. Das der Realität unterstellte „Sinnprinzip“ der Geschichte legt einen vorfindlichen Sachverhalt aus, trifft also einen realen Tatbestand. Deswegen ist die Anerkennung dieses Sinnprinzips auch nicht schlechthin als idealistisch anzugreifen, sondern ist vielmehr ausgesprochen realistisch orientiert. Auch Mannheim stößt bei der Aufzeigung von Partikularaspekten auf das Problem der Entscheidung, der Vorliebe zu einem der möglichen Aspekte. Indem er selbst das Dynamische des historistischen Denkens anwendet, erkennt er (in erweiterten Sinn) den optimalen heuristischen Wert der Einstellung des historischen Materialismus an.

Es lässt sich also zeigen, wie bestimmte Elemente der Denkhaltung des historischen Materialismus in die Position Mannheims eingegangen sind. Wir fragen uns aber immer noch, wo, wenn überhaupt, Konstanten des Geschichtsprozesses freigelegt werden können. Zunächst haben wir das Sinnprinzip der dialektischen Bewegung als diejenige „Konstante” erkannt, die der Denkhaltung gemäß ist. Die Konstanten müssen weder in einer naturalistischen außergeschichtlichen „Wahrheit” gesucht werden, noch in einem Bezugssystem, das in der Trieb- und Affektenlehre einer philosophischen Anthropologie die Konstanten fixiert; sie müssen also weder so „tief” wie bei Pareto noch so „hoch” wie bei Scheler angesetzt werden. Denn es kann sich für unsere Frage ja nur um relative Konstanten handeln, die nicht zeitlos, „jenseits” der Zeit a priorisch sichtbar zu machen sind, sondern die „in” einer Zeitperiode a posteriorisch „gegeben” erscheinen. Damit müssen wir die historische Veränderlichkeit dieser relativen Konstanten zugestehen und können uns höchstens auf die Konstanz jenes Sinnprinzips der Geschichte zurückziehen.

Immer noch droht aber die Depravierungsgefahr. Bei Lukacs etwa wird „Totalität” realisiert durch das proletarische Klassenbewusstsein in der Ausrichtung auf die aufzulösende spezifisch bürgerliche Verdinglichung des Kapitalismus. Bei Mannheim wird eine besondere proletarische Erkenntnischance nicht in einer besonderen proletarischen, mit höherer Dignität ausgestatteten Wissenschaft,[150] nur noch aus dem „status nascendi”, aus der geistigen Position des In-die-Zukunft-Gewandtseins aufrechterhalten.[151] Von der wissenssoziologischen Problematik aus bedeutet die Standortzurechnung eben eine Außenbetrachtung, die mit der Einordnung des Denk„typus” einen Mitvollzug des Sinngehaltes, ein inneres Sich-Identifizieren mit dem Standort (in dem besonderen Sinn des „tätiger” Erkennens, wie es die Subjekt-Objekt-Identität auszuweisen sucht) ablehnt. Die Klasse ist nur ein Teil des Werdenden, die Verabsolutierung ihrer partikularen Funktion gilt nur dem, der die Wertgehalte ihrer Perspektive mitvollzieht. So wird durch diese Position der geschichtsphilosophische Wahrheitsanspruch des historischen Materialismus auf das Maximum an Wirklichkeitsnähe „partikular” entkräftet. Ein Partialaspekt ergänzt sich zu einen Totalaspekt; dann offenbart sich aber immer nur eine Partikularwahrheit. Diese jedoch (als Synthese zwischen der totalen Wahrheit und der jeweiligen historischen Konstellation) bildet ein der historischen Forschung zugängliches Objekt. Die Aufspaltung von Partikularaspekten bei Mannheim ist demnach keine Ideologisierung eines Aspektes zugunsten eines andern; vielmehr konstituiert sich die Wahrheit erst aus der Gesamtheit dieser partikularen Aspekte.

Diese Auslegung könnte den (möglichen) Einwand einer Ideologisierung des historischen Materialismus, wenn auch nicht beseitigen, so doch entkräften; wir wollen uns jedenfalls seinem Gewicht nicht entziehen, auch wenn wir sehen werden, dass die besonderen Einwendungen Zieglers, zu deren Diskussion wir nun übergehen, nicht haltbar sind.

Während in der Position Mannheims noch Platz ist für die metaphysische Ausweitung der Perspektive, schüttet Ziegler – in der Sehnsucht, aus der ideologischen Entkräftung herauszukommen – das Kind mit dem Bade aus, indem er jede Geschichtserkenntnis rationalistisch abweist und eine Desavouierung der Bedeutung des Zeitlichen für die Absolutssphäre versucht. Alle Geschichtsphilosophie sei schon ein Verabsolutieren der historischen Sphäre. Die Absolutsphäre werde in die Geschichte hineinverlegt, die Metaphysizierung der Geschichte wird durch Ziegler als Geschichtsgläubigkeit[152] selber zur Ideologie depraviert. Damit gerät Ziegler aber völlig in den Bann der Paretoschen formalistischen Sozialmechanik und vertritt der Geschichte und der Geschichtserkenntnis gegenüber einen kaum haltbaren Agnostizismus, jedenfalls eine nicht notwendige Skepsis.

Dem romantischen Element der identitätsphilosophischen Erkenntnisposition des historischen Materialismus tritt damit ein neuer Rationalismus entgegen, ein Rationalismus allerdings, der die Lebensdynamik nicht auf einer höheren Stufe einzufangen trachtet, wie noch die Dialektik, sondern sich positivistisch mit einer soziologischen Betrachtung der äußeren Gleichförmigkeiten sozialer Phänomene begnügt. Wenn die Position Pareto-Ziegler schon jede historisch-konkrete Kausalfrage abweist, um wieviel mehr wird dann in ihr jeder Erklärungsmonismus als metaphysisch ausgeschieden. Das Aufstellen eines „Endzwecks” in der Geschichte oder in der Gesellschaftsentwicklung, das in der Herrschaft der eigenen Klasse schließlich seinen Erfolg findet, wird als Mittel zur Verhüllung oder Rechtfertigung des konstant wiederkehrenden Machtkampfes betrachtet, während Mannheim den „Endzweck” in der Geschichte (wenn auch) als (problematische) Hypothese gelten lässt. Die kritische Position einer solchen (von Ziegler anscheinend vertretenen) anti-evolutionären Geschichtsbetrachtung richtet sich methodisch nach zwei Gesichtspunkten aus; nach der Erkenntnishaltung und nach der zu erkennenden Wirklichkeit.

In der Erkenntnishaltung[153] differieren die beiden Positionen grundsätzlich. Man kann die historische Einmaligkeit nur „verstehen” im Sinn einer individuellen Anschauung und mit einer dementsprechende Gestaltbegriffe schaffenden logischen Apparatur. Demgegenüber wird von Pareto-Ziegler die Allgemeingültigkeit einer Erkenntnis erst als durch generelle Elemente konstituiert betrachtet. Jene generellen Elemente etwa der menschlichen Natur (Triebe oder Affekte) oder typische Verhaltungsweisen bilden die letztlich aufzuweisende Realität, während sie im Sinne des Historismus nur Annäherung der Erfassung an konkrete individuelle Inhalte bedeuten. Die historistische Position leugnet dabei nicht – wie Ziegler fälschlich behauptet – die Rolle der generellen Erkenntnis, sondern will nur ihrer relativen Unzulänglichkeit gegenüber der Erkenntnis einer historisch lebendigen Einmaligkeitsstruktur Rechnung tragen.

Bezüglich der zu erkennenden Wirklichkeit wird die Verabsolutierung der geschichtlichen Welt zur einzigen Wirklichkeit (von Ziegler) als unberechtigt erklärt, weil es Aufgabe sei, das Geschichtliche selbst „einzuordnen” und zu begrenzen von einer außergeschichtlichen Sphäre her.[154] Es ist nun zu fragen, welche Kriterien für die Beurteilung geistiger Gehalte bestehen und ob es Erkenntnisziel einer Geschichtsbetrachtung sei, in die Einmaligkeit unmittelbar zu erkennen oder durch Vermittlung genereller Elemente typische Konstanten aufzudecken.

Als solche Kriterien werden (von Ziegler) Wahrheitswert und Entsprechung aufgeführt. Das Recht eines „Naturalismus“ wird insofern vertreten, als der Geist selbst als Mittel des sozialen Machtkampfes erscheint und in der Vitalsphäre die „identischen” Konstanten aufzuweisen sind; die grundsätzliche Dynamisierung des Geschehens wird damit zugunsten einer statischen Kreislaufvorstellung zurückgezogen und die Fassung der Geschichte als Werdenszusammenhang abgelehnt. Die „Entsprechung” erfordere nämlich eine bestimmte Beziehungsebene, die selber aus bedingenden sinnfremden Faktoren bestehen müsse, um das Urteil der Adäquanz zu ermöglichen. Dieser „Naturalismus” intendiert also die Aufdeckung „echter Wesenheiten“, auf die bezogen das Bewusstsein bestimmter Schichten seine Funktion im Geschichtsprozess erhält. Problematisch ist aber auch hier wieder die Funktionalisierungsebene; denn trotz allen Versuchens, objektiv nachzuweisen, dass es unrichtig sei, eine Sphäre menschlichen Geschehens zur einzig realen zu verabsolutieren und alle anderen[155] zu leugnen, fordert die Aufstellung einer Dignitätsordnung der Sphären eine solche Verabsolutierung, wenn überhaupt man zu einer geschichtsphilosophischen Erkenntnis vorstoßen will. Während im historischen Materialismus die ökonomische Sphäre in ihrer geschichtlichen Entfaltung im Werdeprozess des Ganzen als unabhängige Variable gesetzt wird, kann alle „naturalistische” Konstruktion, auch wenn sie versucht historistische Elemente in sich aufzunehmen, nur eine naturale Grundstruktur des ahistorischen Menschen aufdecken. Die Möglichkeit der „Einordnung” des Geschichtlichen wird mit dem Verlust der unmittelbaren historischen Wirklichkeit erkauft.

Man könnte als anderes Kriterium den Wirklichkeitsaspekt aufzuweisen versuchen. Der Zusammenhang von Wirklichkeitsaspekt und Erkenntnishaltung, von Vitalsphäre und Geistsphäre müsste in Frage gestellt werden;[156] denn schon die Art, ob und wie die Frage nach der Wirklichkeit auch im Problem der Ideologie gestellt wird, macht die Erkenntnis Intention einsichtig.

Historistisch gesehen ist nur das Individuelle konkret and real, in das man unmittelbar oder mit entsprechend angepassten Denkmitteln eindringen muss. Das seinsbezogene Denken ist zugleich sinnbezogen, der dynamisierte Sinn ist die einzige und zentrale historische Realität. Wenn man diese Position (wie Ziegler) idealistisch nennt, dann täuscht man sich selbst einen falschen Naturalismus vor, in der Meinung, realistisch zu sein. Die Position Mannheims lässt sich durchaus realistisch rechtfertigen; nur versteht M. unter Realismus keinen Naturalismus, da er die Seinsstrukturen sieht. Strukturen sind aber nicht Stoff oder Materie, sondern sie bilden einen rational zugänglichen Sinnzusammenhang, nicht als Vorstellungsweise in irgendeinem idealistischen Sinn, sondern als objektivierte Gestalt eines Zusammenhangs. So ist Zieglers Einwand,[157] es liege eine idealistisch verknüpfte Einheit von Geist, Sinn und Geschichte in der Position von Mannheim vor, nicht durchschlagend.

Immerhin ergibt sich aus diesem Einwand die Formulierung der Frage, ob die naturalen und ökonomischen Faktoren als sinnfremd bezeichnet werden dürfen, da es eine Entsprechung nur geben könne, wenn geist- und sinnfremde Faktoren als Beziehungsebene[158] gesetzt werden. Dieses Problem, auf das wir uns nun zu konzentrieren haben, betrifft die Frage nach dem Wesen des Ökonomischen, die Frage, ob wir es als sinnhaft oder als sinnfremd zu fassen haben.

Für die naturalistische Position beginnt die Erkenntnismöglichkeit erst mit der Aufstellung einer sinnfremden Sphäre, die der Historisierung entzogen ist. Die historistische Position bezieht auch das Ökonomische als sinnhaft gestaltet in die Geschichte ein. Ziegler gegenüber ist aber festzuhalten, dass er jedenfalls eine viel zu „allgemeine” Form idealistischer Auffassung gegen Mannheim ins Feld führt. Zudem interpretiert er M. falsch, wenn er seine Auffassung des Unterbaus idealistisch nennt. Der „Materialismus” des Unterbaus wird (etwa im Sinn des historischen Materialismus Lukacsscher Prägung) innegehalten, auch wenn für ihn der Sinnzusammenhang in Anspruch genommen wird. Der grobe Materialismus der ökonomischen Sphäre ist doch nicht dadurch zu retten, dass man sich etwa darauf beruft, dass darin Eisen und andere „Stoffe” vorkommen! Die Realität dieser Sphäre wird – wie sie ja auch die Sozialökonomik zu untersuchen unternimmt – in ihrer rational zugänglichen Strukturiertheit erfassbar. M. setzt viel zu sehr reale Kontrolle ein, als dass ihn (trotz aller Sinnhaftigkeit und Gestaltetheit des Unterbaus) der Einwand idealistischer Auffassung als Vorwurf wirklich träfe. Möge man sich gegen die Sinnhaftigkeit aller Geschichtsrealität wehren, jedenfalls wird das Problem der Geschichte in dieser Sinnhaftigkeit adäquat gefasst, da Zieglers Sehnsucht nach Konstanten überhaupt nicht das Problem der Geschichte angreift und in einem vorhistoristischen Stadium der Erkenntnis stehen bleibt.

Wenn der historische Materialismus der ideologischen Sphäre die ökonomische entgegensetzt und sie als Funktionalisierungsebene verabsolutiert, auf die hin die geistigen Gehalte bezogen werden, so widerspricht es offenbar dem phänomenalen Bestande, die ökonomische Sphäre als außerhalb der geschichtlichen Entfaltung, als an sich seiend zu fixieren. Wenn auch die ökonomische Sphäre (in unserer Zeit) unabhängige Variable der Geschichte ist, so ist sie als solche bereits in die Sinnhaftigkeit der Geschichte einbezogen, also Ausdruck des sich in der Geschichte verwirklichenden Geistes. Dem Wirklichkeitsaspekt nach ist die historistische Position jedenfalls „unmittelbarer”, weil sie sich selbst in den Prozess einordnet. Sie gibt damit allerdings die Aufstellung eines „statischen Systems” auf, stellt aber zugleich mit dem Problem der Ideologie das der persönlichen Entscheidung.

Im historischen Materialismus offenbaren sich also, wenn wir bis dahin zusammenfassen, historistische und naturalistische Elemente auch in der Weise des Wirklichkeits-Ansatzes und in der Deutung der Wirklichkeit. Wissenssoziologisch konstituiert seine historistische Komponente (als progressiver Historismus) die „unmittelbare” Erfassung der historischen Wirklichkeit, während die naturalistische die unabhängige Variable zur Konstanten zu fixieren sucht.[159] Allerdings sind auch die Schnittpunkte dieser Komponenten zu bedenken: jene auf „ewige” Wesenheiten gerichtete Betrachtung zielt auf eine kontemplative Ordnung, während der progressive Historismus eine dialektische Konstruktion der Geschichte auf die Zukunft hin intendiert gemäß der romantischen Wurzel seiner Absicht, „das Leben” zu erkennen.

Das Kriterium der Entsprechung bedeutet Adäquanz zur Lage in ökonomischen Prozess, wobei dem Klassenaufstieg und damit der aufsteigenden Klasse eine spezifische Wertposition als Erkenntnischance zuteilwird, weil sie gegenüber der stabilisierenden Verteidigungsposition der „absteigenden” (und auch der „possedierenden”) Schichten sich in ihrer Fortschritts-Ideologie den „weiteren” Horizont im Sinn der Lebensunmittelbarkeit leisten kann[160] und muss.

 

X.

Es obliegt uns nun, den Gang der Untersuchung und ihre Ergebnisse zusammenfassend darzustellen. Wir gingen nach der Exponierung der Problemstellung (I und II) an die Untersuchung des Wirklichkeits-Ansatzes in einer Innenbetrachtung der Abbildtheorie (wie sie von Lenin vertreten wird) (III und IV). Es gelang uns dabei, diese Erkenntnishaltung entgegen der üblichen empirio-sensualistischen Auffassung als Transzendentalrealismus aufzuweisen. Wir haben vorgeschlagen, „Abbild” durch das, was ihm wesentlich ist, durch „Repräsentation” zu ersetzen. Wir haben den (an der sogenannten sublimierten Abbildtheorie gewonnenen) Wirklichkeits-Ansatz an einer phänomenologischen Analyse des Erkenntnisaktes geprüft

(V). Im Verlauf dieser Prüfung wurde die Intention der Abbildtheorie nach einem dynamischen Wirklichkeitsbegriff einsichtig. Auf diese Intention sind wir näher eingegangen und haben die Möglichkeit des Umschlags der an Sein und Denken orientierten Abbildtheorie in den dialektischen Wirklichkeitsbegriff als Einheit von Sein und Denken dargestellt (VI). Mit der Entwicklung der Position von Lukacs haben wir dann den Umschlag selbst beschrieben (VII) und damit den beiden Positionen (Lenin und Lukacs) zugrundeliegenden dynamischen Wirklichkeitsaspekt aufweisen können (VIII). Damit öffnete sich unser Blick auf naturalistische und historistische Elemente in historischen Materialismus, die den Wirklichkeits-Ansatz mitgestalten (VIII). Die Art dieser Gestaltung ließ sich an der Problematik der Wissenssoziologie aufhellen und uns für einen progressiven Historismus entscheiden (IX).

Unsere ursprüngliche Absicht, rein statisch (phänomenologisch) das Wesen des Geschichtlichen auszulegen, hätte als Suche nach (geschichtstranszendenten) Konstanten missdeutet werden können; unsere Entscheidung erweist, dass uns das Aufsuchen geschichtsjenseitiger Konstanten nicht die Lösung des Problems der Geschichtserkenntnis zu enthalten scheint. Im Hinblick auf das Kriterium der Wirklichkeit versuchten wir, die dialektische Bewegung selber als jene „Konstante” (wenn überhaupt das Wort gebraucht werden kann), als Wesen der Geschichte aufzuzeigen. In unsere ursprünglich „systematische” Fragestellung hat sich so die Genesis selber eingeschaltet, derzufolge zeitlose Wesenheit jenseits der Geschichte auch im Wirklichkeits-Aspekt nicht aufweisbar ist, sondern diese Wesenheit verweist immer wieder in die Geschichte zurück.

Neben diesen aus dem Gang der Untersuchung zugleich unsere methodische Fragestellung betreffenden Ergebnissen können wir folgende Gesamtentwicklung der Fragestellung nach der Wirklichkeit im historischen Materialismus feststellen:

Erkenntnistheoretisch ist der historische Materialismus ontologisch zu fundieren. Die Subjekt-Objekt-Korrelation, die im historischen Materialismus als Relation von Bewusstsein und Sein gefasst ist, wird so aufgelöst, dass das Objekt das determinierende Übergewicht besitzt, das Bewusstsein durch das ökonomische Sein determiniert wird, wobei es in der naiv dogmatischen Form so erscheint, als ob die Objektseite überhaupt verabsolutiert und damit ein Nachsinnen über den Erkenntnisvorgang unmöglich gemacht sei. In Wirklichkeit wird aber Bewusstsein und Sein auf derselben Seinsmaterie vorgestellt, so dass eine unmittelbare Relation zwischen Erkennendem und Zu-Erkennendem besteht. Diese Relation wird in der naiv-realistischen Theorie als Grund-Folgeverhältnis „erklärt”, in der transzendental-realistischen Haltung als Teil-Ganzes-Verhältnis festgestellt. Nach der naiven Auffassung „bringt” die Einwirkung der Außenwelt auf unsere Sinne die Abbilder „hervor”, es vollzieht sich ein passives Geschehen im Bewusstsein; die sensualistische Bestimmung des Bewusstseins„inhaltes” wird aufgehoben, anstelle der alleinigen erkenntnisvermittelnden Funktion der Sinneswahrnehmungen tritt das Denken, in dem trotz der betonten objektiven Determinierung des Abbilds das Nachschöpfen, das Nachbilden, das subjektive Gestalten dessen sich vollzieht, was „aus der Außenwelt das Subjekt trifft”. Naiv-metaphysisch wird die Gegenständlichkeit der Empirie als „gegeben” betrachtet, ohne den eigentlichen erkenntnistheoretischen Zweifel auch am Bewusstsein anzusetzen, insofern für uns Sein nur gewusstes Sein ist. Dies muss zu einer Revision der Außenweltthese führen, für die die phänomenologische Analyse wertvolle Hilfe zu bieten hat. Im Subjekt ist nicht ein „Abbild” des Objekts (in der naiv realistischen Weise einer „Erklärung” des Erkenntnisphänomens), sondern eine Repräsentation,[161] die auf die Totalität des (gnoseologisch transzendenten) Objektiven tendiert. Erkenntnis kommt zustande durch ein Hinausgreifen über das Subjekt, ein Transzendieren in eine hinter den Grenzen der sinnlichen Wahrnehmung an sich seiende objektive Welt.

Diese der natürlichen Realitätsthesis entsprechende Auffassung umgreift auch das Irrationalitätsproblem (ohne als künstliche Lösung die logische Ineinssetzung von Subjekt und Objekt nötig zu machen). Die Dialektik, die ursprünglich als Realdialektik konzipiert ist, wird als dem Realen und dem Idealen strukturidentisch aufgewiesen. Dadurch ist die starre Dualität des Abbilds aufgehoben und das unmittelbare Anteilhaben des Subjekts am Objekt und die Anteilnahme des Objekts am Subjekt in aktivistischer Spannung verwirklicht. Voraussetzung dafür ist aber, dass Subjekt und Objekt, Sein und Denken derselben Seinsmaterie entstammen,[162] also ontologisch homogen sind. Diese ontologische Immanenz, die Immanenz des Denkens im Sein als An-Sich-Sein, lässt im historischen Materialismus in der Tendenz zur Totalität jenseits des Erkannten ein erkennbares Nicht-Erkanntes stehen. Schon in der Geschichte als absoluter Totalität wird ein „Jenseits“ der Reichweite der ratio zugestanden – auch hier in Opposition zu Hegel, für den alles Seiende an sich erkennbar war –, die Dialektik versucht das Irrationale des historischen Flusses in einer Methode „höherer Art” zu rationalisieren. Für den historischen Materialismus gilt ein transzendental-ontologisches Wahrheitskriterium: Wahrheit ist Entsprechung der (Seins-) Wirklichkeit.[163]

Diese Wirklichkeit wird in der naiven Abbildtheorie als empirisch gegeben angesehen und ist als „Außenwelt” grundsätzlich erkennbar. Das Noch-Nicht-Erkannte ist nicht unerkennbar.[164] Daraus wird auch die Induktionsgläubigkeit, Transzendenzabweisung und Metaphysikfeindlichkeit des naiven Materialismus einsichtig; es wird an die grundsätzliche Erweiterungsmöglichkeit des Wissens als Kenntnis „geglaubt”, wie sie naturwissenschaftlich grundsätzlich inauguriert ist. Trotzdem geht der historische Materialismus über die empirische Realität als Gegenbenheit hinaus und versucht, zu Wesensbestimmungen zu gelangen, wenn er die Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte als eine bestimmte Periode bestimmend herausstellt. Diese „Herauslösung” scheint insofern induktiv, als von bestehenden ökonomischen Verhältnissen, also von Tatsachenzusammenhängen aus auf die ihnen „zugrundeliegenden” Produktivkräfte (das dialektische Gegenglied) geschlossen wird. Hier scheint aber eine Umbiegung der Methode vorzuliegen: eine ursprünglich auf das Wesen der Erscheinung zielende Erkenntnishaltung wird im Sinne einer historischen Verifikation in eine Scheininduktion umgedeutet. In Wirklichkeit wird aber im historischen Materialismus eine Wesensgesetzlichkeit der historischen Entwicklung freigelegt, indem die gesellschaftlichen Erscheinungen auf die ökonomischen hin funktionalisiert und in diesen in einer weiteren Reduktion die bestimmenden Triebkräfte der gesellschaftlichen Entwicklung hypostasiert werden.

Dem rationalen „System” gegenüber schließt die lebendige Totalität der Geschichte das Irrationale ein; sie beruht auf derselben ontologischen Grundlage wie die Erkenntnis und bildet im Grunde die Einheit des Transzendenten und Immanenten. Mit dieser ontologischen Ausrichtung als natürlichem unspekulativem Monismus[165] ist das geleistet, was die Identitätsphilosophie durch künstliche Konstruktion gesucht hat. Subjekt und Objekt sind im Sein eingebettet. Der historische Materialismus erkennt also wohl eine Bewusstseinstranszendenz an, lehnt aber eine Denktranszenden ab. Damit ist für ihn der Realitätsmodus der „Außenwelt” und ihrer Repräsentation fundiert; Sein und Denken sind nicht sinnfremd, sie sind durch ihre ontologische Homogenität verknüpft.[166]

Zur Überwindung der naiven Metaphysik muss im historischen Materialismus die ontologische Hypostase bis in die letzten Elemente hinausgeschoben werden; die Seinsschichten müssen bis zu jener Schicht hin aufgebaut werden, die den ausgesprochen optischen Akzent als wirkliches Sein besitzt. Sowenig dieses ens realissimum „fideistisch” hingenommen werden kann, sowenig befriedigt die Verabsolutierung der Materie als letzter Substanz. Das Beunruhigende in der Fragestellung nach der Wirklichkeit liegt also im Ansatz der ontologischen Hypostase, wenn auch so viel feststeht, dass sie sich phänomenal an der ökonomischen Zentrierung des Sozialprozesses zu orientieren hat.

Ist Ideologie eine „notwendige” Art zu denken,[167] die ihrerseits fundiert ist in den ökonomischen Erscheinungen, so offenbart ihre Reduktion die Verknüpfung von Unterbau und Überbau, eine Funktionalisierung, auf das materielle Sein der Menschen, auf ihr ökonomisches Handeln in Sozialprozess. Die dynamische Struktur der Produktionsverhältnisse, ihr Zusammenhang mit der Klassendynamik und deren Zusammen hang mit der geistig-seelischen Dynamik lässt eine starre Wirklichkeit nicht zu; die Wirklichkeit wird selber als dynamische, als sich in dauerndem Werden befindliche Umwälzung begriffen. Damit ist auch alle Theorie Funktion dieser Wandlung. Der historische Materialismus intendiert auch gar keine „Theorie”, sondern liefert einen Kollektiv-Aspekt, in dem die Bewegung als dialektische rational einzufangen versucht wird.

Man kann diesen Wirklichkeitsbegriff perspektivisch[168] relativieren, da er der aufsteigenden Schicht, die die realen Faktoren als „für sich arbeitend” konstruiert, entspricht; damit wäre die „Ideologisierung” oder, wie wir besser sagen, „Partikularisierung” bis in den Ansatz der Wirklichkeit vollzogen. Die Fragestellung nach der Wirklichkeit versucht zwar, über die perspektivische Zurechnung hinauszugreifen und nach einem erkenntnistheoretischen Kriterium zu suchen, um diesen Wirklichkeitsbegriff zu rechtfertigen.[169] Aber schon in der Frage steckt eine formalistische Erkenntnisintention, die sich von der vollen Konkretion der historischen Realität abwendet und allein das So-Sein des geistigen Gehaltes einer ökonomischen Geschichtsauffassung auszulegen intendiert.

Hier zeigt sich eine vorläufige Grenze der phänomenologischen Analyse von geistigen Gehalten geschichtsphilosophischer Observanz. Sie sind eben als solche nur genetisch erfassbar, weil sie aus der Sphäre zeitloser Wesenheit in die Geschichte selbst zurückverweisen. Die eingangs methodisch gestellte Frage nach der Grenze der phänomenologischen Methode macht sich hier mit vollem Gewicht geltend. Die phänomenologische Methode bringt in erster Linie die „Vorgegebenheiten” an den Dingen zur Sicht. Ihre Anwendbarkeit als Wesensschau auf einen dynamischen Prozess muss methodisch so lange bestritten werden, als sich nicht im Sinn der dialektischen Methode modifiziert. So sehr wir phänomenologische Analyse bei der Entwicklung unserer Frage uns haben dienen lassen, so weist doch unser Ergebnis in die Richtung einer Modifikation der Methode, wenn sie dem Geschichtlichen adäquat werden will. Denn es handelt sich gerade nicht darum, neuerdings naturalisierend zu verfahren, also zeitlose Wesenheiten jenseits der Geschichte zur Gegebenheit zu bringen. Die historische Totalität wird durch die phänomenologische Analyse von einem Standort aus aufgelöst, während eine auf die Ganzheit des Geschichtsprozesses gerichtete Auslegung sein Wesen als dialektische Bewegung evident machen kann. Beide Ergebnisse (material und formal) einer phänomenologischen Analyse des Geschichtlichen sind schon wesentliche Einsichten; so lange sie aber „getrennt” aufgewiesen werden, gelingt es nicht, einen dem historischen Prozess adäquaten Wirklichkeitsaspekt als ausschließlich und wesenhaft „notwendig” zu offenbaren. Immer wird diese „Notwendigkeit” durch ihre perspektivische Zurechnung relativiert werden,

Die Frage nach einem solchen Kriterium (dies sei nur kurz angedeutet) ist nicht in logischem Sinn etwa durch Überordnung der Notwendigkeit „über” die Wirklichkeit zu lösen, demzufolge das Im-System-Sein, das im Gesetzes-Zusammenhang stehende „Notwendige“ das Seiende erst wirklich sein lässt. Das Wirkliche ist auch in der Geschichte „vorhanden”; der Mensch sieht allerdings nur einen Aspekt dieses Wirklichen „gegeben”. Demnach ist auch das sinnlich Gegebene nicht allein das Wirkliche, wenn auch das Sinneszeugnis der natürlichen Realitätsthesis dafür spricht. Schon die Durchbrechung der unmittelbaren Gegebenheit überwindet die sensualistische Fundierung des Wirklichen.

Das als Kriterium aufzuweisende Notwendigsein eines Wirklichkeitsaspektes kann durch das geschichtsphilosophische System ersetzt werden, wonach der Partialaspekt des Wirklichen zu einem – metaphysischen – Totalaspekt ergänzt wird. Aber auch hierbei führt die Aufwerfung des Geltungsproblems zu keinem Kriterium, solange die metaphysische Entscheidung, Wert- und Sinngehalt des Standorts nicht mitvollzogen werden. So scheint das Kriterium nicht in logisch kategorialer Form gesucht werden zu können, sondern in dem Evidenzgefühl der metaphysischen Entscheidung selbst, die den Wirklichkeitsaspekt mitkonstituiert.

Die mit dieser Frage angeschnittene erkenntnistheoretische Problematik offenbart noch einmal unsere eigene Erkenntnisintention in dieser Untersuchung: die Fragestellung aufzuweisen, die den Wirklichkeitsaspekt des historischen Materialismus zugänglich machen kann. Mit dieser Fragestellung ist der historische Materialismus, wie er im Sinne einer sublimierten Abbildtheorie die gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit dialektisch dynamisiert, in perspektivischer Relation zu anderen Perspektiven und zugleich als Erkenntnis-Chance aus dem status nascendi einsichtig geworden.

 

[1] Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik (Tübingen), Bd. 60 (1928) H. 3., 449–507. – der Hrsg.

[2] Vgl. Karl Mannheim u.a., Das konservative Denken, insbes. II, Archiv für Soz.-Wiss., Bd. 57, S. 453 ff.

[3] Heidegger nimmt in dieser Hinsicht eine Sonderstellung ein; er verhehlt sich nicht, dass die phänomenologische Methode gegenüber dem historischen Objekt fraglich wird. Weitgehende Ansätze zu dieser Problemstellung finden sich in der Analyse der Geschichtlichkeit des Daseins in „Sein und Zeit“, Jahrb. f. Phänomenologie, Bd. VIII, 1927. Fürs erste bricht aber auch Heidegger die Frage dort ab, wo sie für uns gerade wesentlich wird, wo das „Wagnis“ der formaldialektischen Konstruktion des Zusammenhangs von Geist und Zeit (etwa in der Hegelschen Konzeption) zur Diskussion steht (vgl. S. 388, 435).

Dies tritt auch deutlich hervor in dem (nach Einreichung dieser Arbeit, die im Mai 1928 abgeschlossen wurde) erschienenen Heft I der Philosophischen Hefte (Herausg. M. Beck, Berlin). Abgesehen von der Darstellung der Übereinstimmungen zwischen Marx und Heidegger in dem Referat von Beck (s. 9) berührt sich mit unserer methodischen Fragestellung der interessante Aufsatz von Herbert Marcuse „Beiträge zu einer Phänomenologie des historischen Materialismus“ (S. 45), der „eine Korrektur der Phänomenologie im Sinn der dialektischen Methode“ fordert, die sich als der gemäße Zugang zu allen geschichtlichen Gegenständen erweise (S. 45, 58), der selbst eine „dialektische Phänomenologie“ entwirft (S. 57) und die Grenzen der Position Heideggers in dieser Hinsicht aufweist (S. 53/56, 59). Marcuse fordert, dass die Heideggersche Phänomenologie des Daseins bis zur dialektischen Konkretion vorstoße und dass die dialektische Methode phänomenologisch anzuwenden sei (vgl. S. 59).

In Ergänzung zu unseren Ausführungen möchten wir nachdrücklich auf den Aufsatz von Marcuse – wertvolle Einzelheiten können jetzt leider nicht mehr besprochen werden — hinweisen.

[4] Simmel, Probleme der Geschichtsphilosophie, 4, Aufl., 1922, S. 209.

[5] Woltmann, Historischer Materialismus, 1906, S. 178.

[6] Labriola, Philosophie des historischen Materialismus, S. 232.

[7] Loria, Alte und neue Einwände gegen den historischen Materialismus. Arch. f. Sozw., Bd. 35, S. 603. Kautsky (Die materialistische Geschichtsauffassung, 2. Bd., S.H. Dietz, 1928) beabsichtigt in erster Linie eine historische Anwendung des historischen Materialismus und unterlässt daher eine Auseinandersetzung mit Lukacs und Lenin (I, S. 15).

[8] Bucharin, Theorie des hist. Mat., 1922, . 9ff., in Parallele der naive Naturmonismus Dietzgens.

[9] Hendrik de Man, Psychologie des Sozialismus, 1926.

[10] Vgl. die Enquête von Gertrud Hermes in „Die geistige Gestalt des marxistischen Arbeiters“, 1927.

[11] An Stelle der kaum erschöpfend zu nennenden Literatur sei hier nur auf die Charakterisierung des Problems bei Heidegger (Sein und Zeit, S. 201) verwiesen: Unter dem Titel „Realitätsproblem“ vermengen sich verschiedene Fragen: 1. ob das vermeintlich bewusstseinstranszendente Seiende überhaupt sei; 2. ob diese Realität der Außenwelt zureichend bewiesen werden könnte; 3. inwieweit dieses Seiende, wenn es real ist, in seinem An-sich-Sein zu erkennen sei; 4. was der Sinn dieses Seienden, was Realität überhaupt bedeutet.

Wir bemerken ausdrücklich, dass wir terminologisch an die überkommene Bezeichnung „Wirklichkeitsbegriff” anknüpfen und sie daher auch gelegentlich beibehalten. Wenn wir methodisch richtiger von Wirklichkeits-aspekt oder -ansatz sprechen, so meinen wir damit diejenige Wirklichkeit, wie sie sich der Intention des historischen Materialismus gibt. Jedenfalls können und brauchen wir nicht die engere sich aus dem Terminus „Begriff“ möglicherweise aufdrängende erkenntnistheoretische Problematik hier aufgreifen.

[12] Siehe Vogel, Hegels Gesellschaftsbegriff, Erg. Hefte der Kantstudien, Nr. 59, 1925, S. 276 ff. Ferner H. Levy, Die Hegel-Renaissance in der deutschen Philosophie, Kantvorträge Nr. 30 u.a. S. 13; Lukacs, Geschichte und Klassenbewusstsein (Malikverlag) u.a. S. 220 ff.

Die Frage ist also, wie ein Minimum an Metaphysik oder gar die unphilosophische natürliche Weltansicht in ihrer naiven Wirklichkeitsgewissheit und ein Maximum von Spekulation in der Identitätsphilosophie der Begründung des historischen Materialismus dienen oder vielmehr als Theorie das Phänomen der historischen Erkenntnis überbauen kann (vgl. in anderem Zusammenhang Nikolai Hartmann, Grundzüge einer Metapbysik der Erkenntnis (2. Aufl. 1925), S. 174/75).

[13] Vgl. auch die Kritik von Back an der Abbild- und Ordnungstheorie, Nationalökonomie und phänomenologische Philosophie, Conrads Jahrb., 3. Folge, Bd. 71, S. 231 ff.

Man könnte uns vorwerfen, wir schraubten die Fragestellung zurück, da wir ja die Abbildtheorie faktisch überwunden haben, indem wir die Beschränkung des Sensualismus aufdecken und das Problem des Erkenntnisursprungs anders ansetzen als es die psychologisch verhaftete, von Empfindungen, Vorstellungen und Wahrnehmungen ausgehende Erkenntnistheorie des naiven Realismus tat. Aber gerade, wenn man eine phänomenologische Analyse der Erkenntnis zugrunde legt, drängt sich von neuem die Frage auf, ob in der phänomenologischen Erfassung des Erkenntnisvorgangs nicht auch eine Sublimierung der alten Abbildtheorie stattfinde, trotzdem die Phänomenologie, über deren Position und Stellung zur Abbildtheorie wir später (S. 472) noch einige Hinweise geben werden, das Haben von Bildern im Bewusstsein im Sinne der Abbildtheorie ausdrücklich verneint.

[14] Auf diese Frage kann auch nicht einmal differenzierend eingegangen werden, wie etwa Troeltsch bezüglich der Dialektik (Ges. Schr.; Bd. 3, I, S. 314 ff).

[15] Marx, Nachlass I, S. 17.

[16] Salomon, Historischer Materialismus und Ideologien lehre, Jahrb. f. Soziologie, II, 1926, S. 395.

[17] Die Differenz von den Ausführungen Salomons kann hier nicht ausführlich dargestellt werden. Wir können auf diese Darstellung auch verzichten, weil viel Wertvolles der Analyse Salomons anzuerkennen ist; wir greifen gelegentlich darauf zurück. Jedoch lässt die Untersuchung von S. den Anschein aufkommen, als ob sie in erster Linie literarische Anknüpfungspunkte aufzeigen wollte. Solche führen natürlich an die Schwierigkeit der eigentlichen Problemstellung nicht heran. Vgl. auch die Ablehnung von Ableitungen, wie sie bei S. vor kommen, durch die Äußerung Lenins über die „stinkenden Quellen der französischen Positivisten“ (Empiriokritizismus 1927, Vorw. z. deutschen Ausgabe von Deborin, S. XV).

[18] Marck, Hegelianismus und Marxismus, Schr. d. Kantges., Nr. 27, s. 13 ff., ferner Kant und Hegel, Tübingen 1917.

[19] Vogel, Hegels Gesellschaftsbegriff, Kantstudien, Ergänzungsheft 59, S. 365 ff, u. a.

[20] Vgl. Altschul, Logisches System des historischen Materialismus, Arch. f. Soz., Bd. 37, S. 46; ferner Muss, Antimarx 1927, S. 42.

[21] Feuerbach, Werke, II, S. 263.

[22] Im Marx–Engels-Archiv I, S. 230 (ferner vgl. Dok. d. Soz. IV, S. 267).

[23] Vgl. hierzu die romantische Wurzel der Erkenntnis als Tätigkeit, das Fichtesche erkennende Ich als tätiges Ich, der Zusammenhang zwischen Erkenntnis und Entscheidung, wie er sich in der „Praxis“ als Kriterium offenbart.

[24] Salomon, a. a. O., S. 404, 410, 415, 419.

[25] Durch empiristische Bestreitung der Abstraktionslehre, sagt Salomon, werden die Ideen als Selbstentfremdung und Selbstentäußerung depraviert und als Abbild, Ausdruck, Reflex und Symptom deriviert, durch sensualistische Zurückführung der Immanenzlehre.

[26] Bucharin, Theorie des histor. Mater., 1922, S. 53.

[27] Vgl. Salomon, a. a. O., S. 405, ferner S. 407: Die Gesetze des Marxismus haben den Sinn, dass die objektive Gesetzmäßigkeit sich zwar im Bewusstsein des Menschen dar stellt, aber objektiv bleibt, indem die logische Struktur ihres Sachgehaltes über jede Modifikation durch als individuelle Bewusstsein erhaben ist.

[28] Vgl. Salomon, a. a. O., S. 420.

[29] Vgl. in anderem Zusammenhang über die Unsicherheit des Wirklichkeitsgehaltes im Überbau: Hammacher, Das philos.-ökonomische System des Marxismus, 1909, S. 391.

[30] Wir verstehen unter Transzendentalrealismus eine Erkenntnishaltung, die den Erkenntnisgegenstand außerhalb unseres Bewusstseins (an sich) ansetzt; unser Erfassen des Gegenstandes ist ein nur partikulares in einer Repräsentation des Gegenstandes im Bewusstsein; dabei hat die partikulare Erfassung die Tendenz zur Totalität.

Wir verweisen, ohne auf die erkenntnistheoretische Problematik und auf Differenzen unserer Auffassung eingehen zu können, auf die jüngst erschienene Abhandlung von Willi Freytag, „Der Realismus und das Transzendenzproblem“, Arch. f. d. ges. Psychologie (Akad. Verl. Ges. Lpzg.), Bd. 63, Heft 1 und 2, 1928, S. 1-236.

Zur engeren Fragestellung vgl. Lenin, Empiriokritizismus, etwa S. 93: „Der Materialist beansprucht Existenz und Erkennbarkeit der Dinge an sich.“ Hierbei ist eben die Erkennbarkeit der Dinge an sich fraglich.

[31] Diese Innenbetrachtung geschieht als immanente Interpretation im Sinne von Karl Mannheim, Ideologische und soziol. Interpretation der geist. Gebilde, Jahrb. f. Soz., Bd. 2, 1926, S. 435. Überhaupt lässt sich die Einteilung der möglichen Interpretationen, wie sie Mannheim vornimmt, für unsere Frage sehr furchtbar verwerten.

Wir versuchen also zunächst eine immanente Interpretation, die den gemeinten Sinngehalt erfassen will. Lenins Lehre soll so dargestellt werden, wie „der Autor sie selbst gemeint und verstanden haben wollte“. Wir geben aber auch über diese auf den subjektiv gemeinten Sinn gerichtete Interpretation hinaus zu einer objektiven Interpretation. Wir versuchen, den Autor (Lenin und später Lukacs) dahingehend auszulegen, was seinen Intentionen am ehesten gerecht wird, ohne dass er es unbedingt so formuliert haben müsste. Wir wollen also aus den dem Autor entsprechenden Prämissen die richtigen Konsequenzen ziehen.

Schließlich wenden wir im Laufe unserer Untersuchung methodisch auch eine dritte Art der Innenbetrachtung an, die Interpretation aus einem fremden System heraus, indem wir den historischen Materialismus aus einem ihm fremden „System“ phänomenologisch zu exponieren versuchen. Diese Betrachtung wird uns auch rückwirkend veranlassen können, die Phänomenologie von der Position des historischen Materialismus aus (wissenssoziologisch) auszulegen. So könnte man fragen, warum und wieso, aus welchem sozialen Untergrund und mit welcher gesellschaftlichen Sicht die Phänomenologie aufgekommen ist und ihre Methode auch im Bereich der Gesellschaftswissenschaften angewandt werden kann. Vgl. hierzu die Versuche, die Phänomenologie aus dem katholischen Ewigkeitsdenken zu deuten, etwa bei Mannheim, Soz. d. Wissens, Archiv f. Soz.-Wiss., Bd. 53, S. 602, ferner Siegfried Behn, Die Wahrheit im Wandel der Weltanschauung 1924, S. 290 ff. u.a. Eine Ausdehnung der Fragestellung auf dieses Problem ist hier nicht beabsichtigt.

Demgemäß bedienen wir uns in dieser Untersuchung der immanenten und der objektiven Interpretation und der Interpretation aus einem fremden System heraus,

[32] Siehe Lenin, Materialismus und Empirio-Kritizismus, 1909, deutsch 1927 (Redaktion Borowski, Vorw. Deborin), S. 397.

[33] Daher gebraucht auch Lenin immer statt Realismus Materialismus (S. 43/44), um einer Aequivokation mit dem Positivismus zu entgehen, der die Empfindungen (als Erfahrung) gegeben nimmt, ohne nach dem Gebenden, der von Menschen unabhängigen materiellen Welt (als Außenwelt) zu fragen oder ihr Dasein (im besten Fall) als ungewiss hinzustellen (s. 394). Das Nur-im-Bewusstsein-Sein des Gegebenen ist aber idealistiscH, wenn nicht die Frage der Entsprechung gestellt wird.

[34] Engels, Über bist. Materialismus, Neue Zeit, 1892/93. S. 15 ff.

[35] Lenin, a. a. O., S. 262, 224/25.

[36] Vgl. die terminologische und sachliche Kritik an Engels Missverständnis der Praxis bei Lucacs, a. a. O., S. 145.

[37] Trotz der Gefahr einer Missdeutung durch die Mach Avenariussche empiriokritizistische Prinzipialkoordination, wo bekanntlich das Ich als Zentralglied, die Umgebung als Gegenlied in unauflöslicher Korrelation das Wesen der Erkenntnis bezeichnen soll.

[38] Vgl. hierzu Scheler, Formalismus in der Ethik … 1916, S. 53.

[39] So sind die Materialisten für Kantianer Metaphysiker, weil sie die „Gegebenheit“ einer objektiven Realität anerkennen; diejenigen, die diese Gegebenheit bezweifeln, sind für die Materialisten Agnostiker.

[40] Demgegenüber ist das Glaubenselement in der dialektisch fundierten Position die Gewissheit des Untergangs des Kapitalismus, durch die dialektische Methode „garantiert“ Vgl. Lucacs, a. a. O., S. 54/55.

[41] Dieses Sein als Wirklichkeit, nicht als dem Denken Gegenstand-sein.

[42] Dabei muss allerdings auf die berechtigte Einschränkung Schelers (Formalismus, s. 55, 62) verwiesen werden: Aufgabe der Philosophie ist nicht vermeintlicher Aufbau der Inhalte der Anschauung aus Empfindungen, sondern möglichste Reinigung von den diese Inhalte begleitenden Organempfindungen. (Es ist eben nicht nur ein ungeordnetes Chaos von Sinneseindrücken gegeben, wie ja schon hier mittelbar die Frage des Apriorischen hineinspielt.)

[43] Abbild und Spiegelbild einstweilen synonym. Vgl. Lenin, S. 85, Fußnote.

[44] Lenin, a.a.O., s. 99 ff., 101, 328/29.

[45] Vgl. Engels, Anti-Dühring, 5. Aufl., Stuttgart 1904, S. 6, 21; desgl. Belege bei Lenin, S. 46, 53, 57, 59, 75, 84, 134, 156/57, 343.

[46] Lenin, a. a. O., S. 88.

[47] Wer dies anerkennt und trotzdem die Setzung der Außenwelt für metaphysisch erklärt, also Agnostiker ist, ist (Engels) „verschämter Materialist“, Vgl. Lenin, S. 139, 192, 298, 395.

[48] Vgl. hier zu den Problemansatz des Wissens vom Nichtwissen im Erkenntnisprogress im andern Zusammenhang unter Einbeziehung apriorischer Elemente bei N. Hartmann, Metaphysik, S. 433/34.

[49] Vgl. Lenin, a. a. O., S. 105.

[50] Vgl. hierzu Deborin, Dialektik bei Kant, Marx Engels-Archiv I, S. 51/52 ff.

[51] Vgl. den Ursprung der Dialektik aus dem Verhältnis von Rationalem und Irrationalem bei Jonas Cohn, Theorie der Dialektik, 1923, s. 147 und S, 349 als Denken auf das Absolute hin.

[52] Wobei hier nicht die Substanzfrage, die Frage nach dem Wesen der Materie und ihrer Bewegung, ebenso nicht nach ihrem Ursprung angeschnitten werden soll.

[53] Lenin, Zur Frage der Dialektik, a. a. O., S. 375.

[54] Lukacs, a. a. O., S. 212.

[55] Übrigens unterliegt jede so ausgerichtete phänomenologische Reduktion einer ähnlichen Gefahr. Siehe auch Jonas Cohn, a. a. O., S. 51.

[56] Vgl. Lenin, Über das Absolute im Relativen, das Moment des Skeptizismus in der Dialektik, ohne sich auf Relativismus zu reduzieren, a. a. O., S. 125 und in ähnlicher Zusammenhang Lukacs, a. a. O., S. 405/407.

[57] Lenin, S. 96, 112, 115.

[58] Lenin, S. 46, 53, 134, 137.

[59] Die naturphilosophische Abart des Materialismus mit seiner Spekulation steht hier außerhalb der Frage.

[60] Lenin, S. 112, 120.

[61] Lenin, S. 99.

[62] Für die Richtigkeit eines Schrittes in bezug auf die Gesamtrichtung gilt (Lukacs, a.a.O., S. 217) das Kriterium des proletarischen Klassenbewusstseins, was jedoch auf eine andere Fundierung des Problems der Entsprechung hinweist.

[63] Gerade die Ablehnung des Solipsismus, der doch nur konsequentester Sensualismus ist, müsste ein Abrücken von der sensualistischen Erkenntnistheorie des historischen Materialismus nahelegen.

[64] Vgl. Lenin über den Transzensus, S. 107: Wenn auch kein prinzipieller Unterschied zwischen den Sphären (Erscheinungen und Digen an sich), keine Transzendenz, keine angeborene Unverträglichkeit besteht, so ist ein Unterschied selbstverständlich vorhanden: es ist vorhanden ein Übergang über die Grenzen der sinnlichen Wahrnehmungen hinaus zur Existenz der Dinge außer uns.

[65] Ebenso wie in der Phänomenologie, wenn auch nicht in dem Stigmatismus der Anschauung, des gebenden Aktes der Intention. Man kann aber auch die Intention selbst als „Bild“ fassen; als immanentes Meinen stößt sie nicht bis zum seienden Gegenstand vor. Vgl. N. Hartmann, Über phänomenologischen Idealismus, Metaphysik: S. 164 ff.

[66] Die Gefahr einer Missdeutung von „außerhalb“ und „innerhalb“ des Bewusstseins führt ja nachher zur phänomenologischen Infragestellung der Außenweltthese. Über „Abbild“ vgl. Hartmann, a. a. O., S. 44 ff., 56, 77, 99, 103 ff., 119, 130, 223 ff., 314, 324, 327, 349, 368, 371, 382, 391, 429, 453.

[67] Lenin, a.a.O., S. 132.

[68] Lenin, a. a. O., S. 144, 150, 152, 160, 162

[69] Lenin, a. a. O., S. 182/83.

[70] Die Frage der Außenwelt und mit ihr die Struktur der Außenwelt (der Dinge) wird durch die Kategorie des empirischen Ich getragen, für das die Gesetze des Dingdeterminismus ebenso gelten wie für die Außenwelt im engeren Sinn. – Vgl. Lukacs; a. a. O., S. 211, ferner 89/90: Das verdinglichte Bewusstsein ist, in solchem Empirismus befangen, völlig passiv als Zuschauer einer gesetzlichen Bewegung der Dinge, in die man nicht eingreifen kann.

[71] Vgl. Plechanow bei Lenin, a. a. O., S. 396.

[72] Siehe auch trotz seiner „immanenten Teleologie“: L. Stein, Soziale Frage im Lichte der Phil., Stuttgart 1897, S. 400: Das gesellschaftliche Sein hat ein zeitliches Prius vor dem gesellschaftlichen Bewusstsein, was aber noch nicht logische Kausalität oder ethische Superiorität bedeute.

[73] Abgesehen von den Schwierigkeiten, die der Erkenntnis von jedenfalls zunächst nicht gegenständlich zu fassenden Phänomenen etwa des idealen Seins erwachsen.

[74] So gelangt man auch zu der verhältnismäßig einfachen Formel über Bewusstsein und Sein: Das gesellschaftliche Sein ist unabhängig vom gesellschaftlichen Bewusstsein, das nur eine, bestenfalls ideal-exakte, adäquate Widerspiegelung ist, ohne dass von einer Identität von gesellschaftlichem Sein und gesellschaftlichem Bewusstsein gesprochen werden könnte. Daraus, dass die Menschen als bewusste Wesen miteinander in Verkehr treten, folgt keineswegs diese Identität. Dieses Festhalten an der phänomenalen Dualität und die idealistische Verdächtigung einer Identitätsthese von Bewusstsein und Sein, die doch dann tatsächlich gesetzt wird, ist eben gerade das Problematische (vgl. Lenin, a. a. O., S. 224, 322, 373, 399).

[75] Vgl. Lenins ausdrücklichen Hinweis, S. 100.

[76] Lenin, a. a. O., S. 98.

[77] Nicht aber etwa gegen Transzendenz im Hegelschen Sinne der Verwandlung von Dingen an sich, was nicht Dinge für sich bedeutet, in Dinge für uns.

[78] Vgl. etwa die Analyse bei N. Hartmann, a. a. 0., S. 43 ff.; ferner: Diesseits von Idealismus und Realismus, Kantst. XXIX, 1924, S. 168, 177, 184, 186.

[79] Vgl. Scheler, Transzendentale und psychologische Methode, Leipzig 1900, S. 32, 56, 69, 103, 117, 161. Hier wird auch im Begriff der „Arbeitswelt” ein solcher Bestand gemeinsam anerkannter Wirklichkeit auf zu zeigen versucht.

[80] Im Sinn des historischen Materialismus und ohne auf die terminologischen Differenzierungen (etwa bei Jonas Coon, Theorie der Dialektik, 1923, S. 117 ff.) einzugehen. Übrigens bereitet sich schon bei dieser Frage die In-Einsetzung von Denken und Sein vor, eine monistische Identitätslösung, die Schelling-Hegelsche Elemente in die Synthese aufnimmt und damit deutlich gegenüber der von der naturwissenschaftlich-rationalistischen Seite überkommenen Ding-an-sich Problematik romantische Züge einer „Lebens“wirklichkeit in die Dialektik einbezieht.

[81] Wir sind uns wohl klar, dass, wenn wir von phänomenologischer Methode oder Analyse sprechen, keine einheitliche phänomenologische Position, sondern verschiedene Richtungen vorhanden sind. Wir nehmen auch hier (allerdings im Bewusstsein der Problematik eines solchen Versuchs) eine objektive Interpretation derart vor, dass wir dasjenige zu einer phänomenologischen Grundposition amalgamieren, was sich in den verschiedenen Richtungen als Erfassen des Erkenntnisvorganges gibt.

Die Phänomenologie ist, was sie auch selbst am ehesten ablehnen würde, nicht als einheitliche „Schule“ aufzufassen. Während Husserl noch durchaus in den Idealismus zurückfällt, die Schelersche Wissenssoziologie trotz ihrer Orientierung am Sein die Eigengesetzlichkeit der idealen Sinnwelt stehen lässt, hat die Hermeneutik Heideggers und die Aporetik Nikolai Hartmanns ausgesprochen realistische Züge. So wenig diese schulphilosophische Scheidung allgemein besagt, da ja die Phänomenologie vorgibt, keine Standpunktphilosophie zu sein so offenbaren sich doch Berührungspunkte mit einer sublimierten Abbildtheorie, die tiefer liegen als nur terminologische Analogien.

Gerade Nikolai Hartmanns „Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis“ (2. Aufl., 1925) zeigen, was der gelegentlich so genannte Neu-Platonismus auch erwarten lässt, offensichtliche Parallelen mit einer sublimierten Abbildtheorie, vor allem im Ausgang von dem an sich seienden Gegenstand und seinem „Erfassen“, seiner Repräsentation im Bewusstsein. Die Verfeinerungen sind allerdings sehr entscheidend und Hartmann wehrt sich von vornherein gegen eine Identifizierung mit „Standpunkten” (etwa bezüglich der Abbildtheorie, S. 182, 223, 314. ff., außerdem 193).

[82] Dabei wird sich vieles der erkenntnistheoretischen Position des historischen Materialismus phänomenologisch aufrecht erhalten lassen in der Gemeinsamkeit des Ausgangspunktes von der „natürlichen Weltansicht“.

[83] Vgl. auch im folgenden hierzu Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie 1913, I, S. 52, 60, 87; Heidegger, Sein und Zeit, S. 205 ff., 207, 211; Reyer, Einführung in die Phänomenologie 1927, S. 118, 121, 123, 139; ferner Scheler, Formalismus in der Ethik 1916, S. 43 ff. (zur Frage Apriori Setzung-Selbstgegebenheit); Scheler, Erkenntnis und Arbeit (die Wissensformen und die Gesellschaft, 1926, S. 233 ff.), S. 280: So-Sein in mente, Da-Sein extra mentem, Rechtfertigung der Leugnung des Abbildes); Scheler, Idole der Selbsterkenntnis, 1915, S. 62 ff.

[84] Vgl. über Husserls Begriff der Wesensschau in bezug auf den Begriff der Anschauung: Frischeisen-Köhler, Philosophie und Leben, Kantstudien, Bd. 26, 1921, S. 125.

[85] Siehe Heidegger, zur Frage Innen und Außen, a. a. O., S. 62, 203 (ferner auch Husserl, Ideen I, 4.a., S. 93).

[86] Siehe Husserl, Ideen I, S. 77, ferner in anderem Zusammenhang Scheler Formalismus, S. 47 ff., 59, 61 über die sensualistische und rationalistische Lösung des Erkenntnisproblems.

[87] Vgl. in anderem Zusammenhang S. Frank, Zur Phänomenologie der sozialen Erscheinung, Archiv f. Soz.-W., Bd. 59, S. 75 ff., wo auch das Phänomen der Geltung für die Konstituierung des objektiven Elementes der sozialen Erscheinung in ihrer „massiven greifbaren Wirklichkeit“ herangezogen wird (S. 86/87), wo auch wesentliche Hinweise für eine phänomenologische Betrachtung der sozialen Wirklichkeit zu finden sind, wenn auch fürs erste der Ideal-Realismus der sozialen Erscheinung, der seinen Ursprung in den letzten Wesen des Seins als idealrealistische Einheit hat, und die Betrachtung der sozialen Wirklichkeit als sichtbare Offenbarung von außermenschlichen Potenzen im Menschenleben trotz aller „Diesseitigkeit von Realismus und Idealismus“ eine idealistische Prägung aufweist.

[88] Vgl. Back, Nationalökonomie und phän. Philosophie, Conrads Jahrb. 71. Bd., S. 238, ferner 233, 235, 256. Außerdem über den Korrelationscharakter der Erkenntnis in der Intentionalität des Bewusstseins und über die Theorie des Urteils: Heidegger, a.2.0., S. 155, Husserl, Log. Untersuchungen 1924, II, 2, 2. Aufl., . 140/41, Reyer, a. a. O., S. 119, Scheler, Formalismus u.a., S. 50.

[89] Im Zusammenhang mit unserer Fragestellung sei mit wenigen Bemerkungen auf die Stellung der Phänomenologie zur Abbildtheorie verwiesen. (Vgl. hierzu bes. Husserl, Log. Unters, II, I, s. 421 ff., 502 ff., Scheler, Erkenntnis und Arbeit, 1926, Wissensformen S. 233 ff, 272, 280; Scheler, Vom Ewigen im Menschen I, Vorrede zur zweiten Auflage.)

Die Beziehung von Abbild und Abgebildetem wird naiv so gedeutet; draußen ist das Ding selbst; im Bewusst sein ist als sein Stellvertreter sein Bild. Hierbei werde übersehen, dass wir im bildlichen Vorstellen auf Grund des erscheinenden „Bildobjekts“ das abgebildete Objekt (das Bild. sujet) meinen. Allein gegeben im Bewusstsein ist das Bild. Wir vermögen es zunächst nicht auf ein bewusstseinsfremdes Objekt mit Gewissheit zu beziehen. Problematisch ist das Kriterium für die Übereinstimmung, da ja auch die Ähnlichkeit des Bildes mit dem Abgebildeten nicht bewiesen, sondern nur „geglaubt“ wird. Das Bild wird überhaupt erst zum Bilde, in dem es ein anderes repräsentiert, aber nur selber anschaulich gegenwärtig ist. Die reflektive und beziehende Rede, die Bildobjekt und Bildsubjekt einander gegenübersetzt, weist nicht auf zweierlei wirklich erscheinende Objekte in dem imaginativen Akt hin. Die Erfassung als Bild setzt schon ein dem Bewusstsein intentional gegebenes Objekt voraus. Man könne also nicht von inneren Bildern im Gegensatz zu äußeren Gegenständen sprechen. Es sei nicht ein der transzendenten Sache ähnlicher „Inhalt“ einfach im Bewusstsein. Man könne auch nicht immanente oder intentionale Gegenstände und ihnen entsprechende transzendente auf der andern Seite gegenüberstellen, indem man von im Bewusstsein reell vorhandenen Zeichen oder Bildern und der bezeichneten oder abgebildeten Sache, spricht.

Hier setzt nun die idealistische Umbiegung in der phänomenologischen Position ein. Der intentionale Gegenstar der Vorstellung sei derselbe wie der wirkliche und gegebenenfalls äußere Gegenstand; der transzendente Gegenstand sei eben der gemeinte. Sofern von Selbstgegebenheit gesprochen wird, sei das Gegenständliche selbst, nicht etwa ein Abbild oder Zeichen von ihm gegeben. Selbstgegebenheit habe auch nichts mit der empirischen Beobachtung des Gegenstands, seinen Mehr- oder Weniger-Gegebensein zu tun. Wo das Bild die Funktion einer Stellvertretung, einer Repräsentation besitze, so besage dies soviel wie Vorstellungsanregung.

Die weitere Begründung der Abweisung der Abbildtheorie bedürfte einer hier nicht vollziehbaren ausführlichen Darlegung. Ohne noch auf die Differenzen der phänomenologischen Standorte und Richtungen einzugehen, kann man aber auch in der Intention als Meinen des transzendenten Gegenstands das Vorhandensein eines Erkenntnisgebildes einsichtig machen, wie die transzendental-realistische Haltung es als Erfassen des Objekts durch das Subjekt deutet. Wir können hier nicht im Besonderen auf die Einwendungen Schelers eingehen. Man kann aber nachzuweisen versuchen, wie der Transzensus faktisch vollzogen wird, wenn das intendierte „Transzendente“ das Erkenntnisgebilde selbst „ist“, nur auf besonderem Wege, dem des intuitiven Erschauens beigebracht. Jeden falls ist das Gegenüber von Subjekt und Objekt, von Vorstellung und Objekt der Vorstellung das phänomenal Gegebene.

[90] Vgl. Reyer, a. a. O., S. 411, 117, 122; Husserl, Ideen, I, S. 83.

[91] Es ist also nicht so, sagt Reyer, a.a.O., S. 131, 135, dass uns die Erscheinung als eine Art Abbild bewusst wäre, von dem wir im Akte des Meinens hinübergleiten in das Meinen dessen, was es abbildet. Wir lassen diese Formulierung im Hinblick auf die nicht ganz klare (anscheinend stärker idealistische) Position Reyers dahingestellt.

[92] Vgl. Heidegger über Phänomen und Erscheinung, a. a. O., S. 28, 31, 37/38 u.a., siehe auch Back, a.8.0., S. 224, 229, 250, 251, 254/55.

[93] Diese Erweiterung auf Grund von Mannheim, Problem einer Soziologie des Wissens, Archiv f. Soz.-W., Bd. 53, S. 629

[94] Eine phänomenologische Analyse der Ökonomie betrifft zunächst die soziale Statik (neben der unaufgebbaren Dialektik). Durch die Kombination von Mensch und Gut (als Ware), durch den Markt, durch den Zins u.a., durch die gesamte Organisation der kapitalistischen Wirtschaft, aber zunächst auch nur dieser, kann ein phänomenologischer Querschnitt gelegt werden, der aber nicht nur die Erscheinungen der Wirtschaft und der Gesellschaft in ihrem Sein sondern auch die Denkgehäuse über das Sein in ihrem So-Sein, also in ihrer Pseudoexistenz, umfasst. Eine Phänomenologie der Sozialökonomik betrachtet das Nebeneinander, sie intendiert keine Theorie, sondern nur eine Beschreibung von Zentralphänomenen und dann womöglich eine Deutung, die selbständige Aufgabe einer ökonomischen Symptomatologie darstellt. Das Wesen einer Symptomatologie ist gerade eine innige Verflechtung phänomenaler mit funktionaler Analyse. Diese Problematik bleibt einer besonderen Arbeit vorbehalten.

[95] Marx, Kapital, Herausgeber Engels, 1894, III, 2, S. 352, III, I, S. 188.

[96] Darüber hinaus zeigt nähere Analyse, dass das Unmittelbare selbst schon vermittelt ist, da auch in dieser scheinbaren Unmittelbarkeit die konkrete Individualität noch nicht erfasst ist.

[97] Siehe Husserl, Ideen, I, S 71.

[98] Der wirkliche Lebensprozess der Menschen ist ihr wirkliches Sein; „selbständige“ Philosophie verliert damit ihr Existenzmedium. Marx-Engels-Archiv, I, S. 238, 248, 263

[99] . Es sei hier nur als Frage angemerkt, inwieweit die Dialektik auch die Daseinsweise der Natur ist, was jeden falls bestritten wird.

[100] Vgl. in diesem Zusammenhang Feuerbach, Werke II, S. 38.

[101] Daraus ließe sich die Problematik der ökonomischen Theorie formulieren, insofern sie die Realität als Erkenntnisobjekt neu zu substituieren, die ökonomische Realität als gesellschaftliche, als politische zu erkennen, also eine soziologische Theorie zu geben hat. In der immer deutlicher ausgesprochenen Antithese: Macht oder ökonomisches Gesetz, in der Emanzipation der Soziologie u.a. auch als Wissenschaft von der Bildung der Mächte, gar in der Suche nach dem Gesetz der Macht, ist dokumentiert, dass ökonomische Theorie aufgehört hatte, Sozialtheorie zu sein. Bei der Gestaltung der „neuen“ Theorie, des offenen interdependenten Systems vermag, was hier nur als Hinweis angedeutet sei, das dynamische Denken des historischen Materialismus wesentliche Hilfe zu leisten.

[102] Vgl. Vogel, Der Gesellschaftsbegriff bei Marx und Engels, a. a. O., S. 276, 283.

[103] Vgl. hierzu das Postulat einer „erkenntnistheoretischen Neuorientierung auf der Grundlage eines seinsverbundenen Denkens und Erkennens” bei Mannheim, Soziologie des Wissens, Arch. f. Sozialw., Bd. 53, S. 631.

[104] Vgl. hierzu im folgenden Lukacs, Geschichte und Klassenbewusstsein, Malikverlag 1922. „Die hier gemeinte theoretische Einheit widerspricht nicht der von uns aufgewiesenen gnoseologischen Transzendenz von Subjekt und Objekt, wie sie phänomenal gegeben ist”.

[105] Vogel, a.a.O., S. 283, 368, vgl. auch Sombart, Proletarischer Sozialismus I, S. 234 über die Motive der proletarischen Klasse zur Ausschaltung der Metaphysik.

[106] Geschichtliche Wandlungen können nur erfasst werden durch eine „System” von Beziehungen, das die Totalität der Empirie umspannt und sich von der bloßen Unmittelbarkeit entfernt. Aufgabe ist (nach Lukacs) „für jede Problemstellung den gesellschaftlich-geschichtlichen Grund zu suchen”, den Rationalismus zu überwind en in einer logischen Lösung des Irrationalitätsproblems durch den „intuitiven Verstand” der dialektischen Methode im dialektischen Prozess zwischen Subjekt und Objekt.

Die Darstellung von Lukacs ist übrigens nicht ganz eindeutig, wenn er „die gedachte Welt als vollendetes konkretes, sinnvolles, von uns erzeugtes”, in uns zum Selbstbewusstsein gelangtes „System” setzt. Lenin (a. a. O., S. 399) erhebt demgegenüber mit Recht den Vorwurf idealistischer Prägung, insbes, in bezug auf den Agnostizismus.

[107] Hinzu kommen noch Atavismen der Hegelschen Vernunft-Wirklichkeit; nur wird das „Vernünftige” (aufklärerisch-humanistisch teleologisiert) in die historische Entfaltung mit hineingestaltet.

[108] Was ursprünglich als Struktur des Denkens aufsprang, wird in die gegenständliche Struktur hineinverlegt; die gegenständliche Struktur spiegelt sich in der Denkform der Dialektik. Was die Entwicklung des Begriffs begreiflich machte, wird aus der widerspruchsvollen Struktur der Gesellschaft abgezogen.

[109] Diese Geschiedenheit spiegelt sich ja auch in der Dualität von Erscheinung und Ding an sich.

[110] Vgl. Lukacs, a. a. O., S. 200, 202, 222.

[111] Lukacs, Was ist orthodoxer Marxismus?, a. a. O., S. 38.

[112] Belege für diese Einheit bei Lukacs, S. 46, 63, 76, 84, 91, 106, 122, 139, 149, 157 u.a.

[113] Das Klassenbewusstsein braucht aber nicht psychologische Wirklichkeit zu sein. Vgl. Lukacs, a. a. O, S. 180/82.

[114] Die rationalistische Philosophie des Kritizismus hat das ihr letzthin zugrunde liegende materielle Substrat in unangetasteter Irrationalität als Gegebenheit auf sich beruhen lassen und darauf verzichtet, die Wirklichkeit als Ganzes und als Sein zu begreifen. Vgl. Lukacs, a. a. 0. S. 133.

[115] Lukacs, a. a. O., S. 156. Dabei besteht die Gefahr, dass der intellectus intuitivus als „Rationalität höherer Ordnung” aus dem ontologischen Weltbild ein idealistisches macht. So sehr der intuitive Verstand der universalen Deduktion entgegenkommt, so ist die kontrollfähige Evidenz seines metaphysisch-spekulativen Horizontes zunächst fraglich; Denken ist eben nur eine Art des Seins.

[116] Dies trifft auf den ersten Anschein auch für die phänomenologische Methode zu, was hier nicht näher dargelegt werden kann.

[117] Vgl. Lukacs, a. a. O., S. 171 ff.

[118] Wenn der Ausdruck „Erzeugung” mehr bedeutet als eine Metapher, so kann der Gedankengang von Lukacs jedenfalls anthropomorphistisch missdeutet und als idealistisch angegriffen werden, sofern in ihm das Sein nach Analogie des menschlichen Gedankens aufzufassen wäre. Vgl. in anderem Zusammenhang Hartmann, a. a. O., S. 219, 279, 300.

[119] Vgl. auch Jonas Cohn, a. a. O. S. 38 ff.; Die Unmittelbarkeit der Anschauung ist bei Hegel nichts Letztes. Wahrheit ist Denken der Anschauung. Scheinbar das Bestimmteste, das Jetzt und Hier, ist doch nur denkbar als Allgemeines. Es ist nur bestimmbar in seinem Ganzen. Alles Unmittelbare ist also selbst vermittelt.

[120] Auch die Lebensphilosophie, die schlechthin „alles” für gegeben hält und in der reinen „durée” aufhebt, wird von Lukacs (S. 121) nur als Versuch zu einer Lösung, nicht als Lösung angesprochen

[121] Lukacs, a. a. O., S. 178.

[122] Der Arbeiter – dies ist etwa der Gedankengang Lukacs- ist in seinem gesellschaftlichen Sein unmittelbar auf die Objektseite gestellt (Arbeit als Ware). Er wird über sich selbst bew:13st. Sein Bewusstsein ist aber nicht Bewusst sein „über” einen Gegenstand (wobei das adäquat erkannte Objekt in seiner Struktur vom erkennenden Subjekt unberührt bleibt), sondern als Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis praktisch, die Struktur des Erkenntnisobjekts verändernd. Damit ist Subjekt und Objekt selber dialektisch geworden.

[123] Lukacs, a. a. O., S. 194.

[124] Vgl. Lukacs, S. 201 ff.

[125] Geschichte vollzieht sich also nicht an den Menschen, in Tatsachen, oder „durch” transzendente Werte; sie ist Produkt der Tätigkeit der Menschen, dann aber die Aufeinanderfolge der Prozesse, in denen sich die menschlichen Tätigkeitsformen und Beziehungen zueinander umwälzen, Vgl. Lukacs, S. 203.

[126] Lukacs, a. a. O, S 211.

[127] Vgl. den ähnlichen Standpunkt bei Korsch, Marxismus und Philosophie 1923, s. 22, 45, 54, 63 ff., 69: Die Krisen des Marxismus bis zur Selbstaufhebung der Philosophie, von der nur Denklehre und Dialektik übrigbleiben, sind mit dem Wandel der ökonomischen Situation selbst dialektisch zu deuten, was K. durch Perioden hindurch verfolgt. Dabei ist alle Ideologie, also auch Philosophie, zunächst einmal als wirklicher, wenn auch ideeller Bestandteil der gesellschaftlichen Gesamtwirklichkeit zu begreifen. Die ideologische Struktur der Gesellschaft ist also keine Scheinwirklichkeit. Gegenüber dem transzendentalen Standpunkt, der die Inhalte für empirisch und historisch, die Form aber für allgemein gültig und notwendig erklärt, bezieht der dialektische Standpunkt auch die Form in die Vergänglichkeit des Empirischen und Historischen ein.

Bezüglich der Abbildthese ist das Verhältnis von Bild und Gegenstand nur scheinbare Trennung von Denken und Sein; in Wirklichkeit ist das Verhältnis in dem die ökonomischen Vorstellungen zur Wirklichkeit der kapitalistischen Produktionsverhältnisse stehen, das eines besonders eigentümlich bestimmten Teils eines Ganzen zu andern Teilen des Ganzen. Aus dieser zentralen Position wird auch das Denken wirklich und wirksam. Dies bedeutet für den Überbau die Rechtfertigung der weiteren Interpretation der Engelsschen Wechselwirkungsthese.

[128] In seiner Kritik der Abbildtheorie behauptet Lukacs, a. a. O., S. 218 ff., dass in ihr sich die unüberwindliche Starrheit der Dualität von Denken und Sein objektiviere. Im Kantischen Sinn sei das Objekt des Denkens als „Gegenübergestelltes” etwas Subjektfremdes, es klaffe ein Abgrund zwischen subjektiver Denkform und der Objektivität des seienden Gegenstands. Denken und Sein erscheinen dem kontemplativen Verhalten als einander prinzipiell heterogen. Dialektisches Denken müsse dagegen fragen, auf welchem konkreten Boden „die Starrheit dieser beiden Grundgegebenheiten entstanden ist, welche realen Momente in ihnen selbst stecken, die in der Richtung der Überwindung dieser Starrheit am Werke sind”. Die dinghaft starre Struktur von Denken und sein liege nur unmittelbar vor; Wirklichkeit kann also nicht im empirisch-faktischen Sein bestehen. Wirklichkeit ist ein Komplex von Prozessen, kein Sein, sondern ein Werden. So erscheint das Denken selbst als Wirklichkeitsform, als Moment des Gesamtprozesses. Denn eine nur logische Aufhebung der Dualität von sein und Denken kann deshalb nicht befriedigen, weil darin, das Denken von aller konkreten Beziehung zum Sein freigemacht, das Reale zum Idealen umgedeutet wird.

[129] Lukacs, a.a.O., S. 23.

[130] Lukacs, a. a. O., S. 32.

[131] Siehe Plechanow, Grundprobleme des Marxismus, Dietz 1910, S. 33.

[132] Diese Frage berührt auch das Problem der Einteilung der Wissenschaften, ohne dass sie hier in diesem Umfange gestellt werden kann. Es muss daher auch darauf verzichtet werden, die methodischen Ergebnisse der Diskussion dieser Problematik zu verwerten. Zur kausalgenetischen Methode vgl. Troeltsch, Dynamik der Geschichte, Kantvortr, Nr. 23, 1919, S. 11 ff.

[133] Eben als „Linksopposition” gegen den Rationalismus (vgl. Mannheim Soziologie des Wissens, a. a. O., S. 616, Anm. 14), die die Geschichte als Bundesgenossen wählt, teil sie als aufsteigende Klasse die Totalität aus den status nascendi sieht und so das „Zeitliche segnet”, also eine progressive Konzeption des Historismus vollzieht

[134] Methodisch fragen wir implizite im folgenden auch darnach, ob eine Synthese zwischen dialektischer und transzendental-realistischer Einstellung möglich ist. Vgl. hierzu H. Levy, Die Hegel-Renaissance, Kantvorträge Nr. 30, S. 52 über Hartmann.

[135] Vgl. hierzu Heidegger, Sein und Zeit, sS 376: Die Analyse der Geschichtlichkeit des Daseins versucht zu zeigen, dass das Seiende nicht „zeitlich” ist, weil es „in der Ge schichte steht”, sondern dass es umgekehrt geschichtlich nur existiert und existieren kann, weil es im Grunde seines Seins zeitlich ist.

S. 379: Geschichte ist das in der Zeit sich begebende spezifische Geschehen des existierenden Daseins, so zwar, dass das im Miteinandersein „Vergangene” und zugleich „Überlieferten und fortwirkende Geschehen im betonten Sinn als Geschichte gilt. Ferner S. 388 und 435: Dass die formal dialektische „Konstruktion” des Zusammenhang s von Geist und Zeit überhaupt gewagt werden kann, offenbart eine ursprüngliche Verwandtschaft beider. Dabei wird dahingestellt, ob Hegels Interpretation auf ontologisch ursprünglichen Fundamenten ruht.

[136] Hier setzt ja bekanntlich das engere Problem der Ideologienlehre ein.

[137] Vgl. Mannheim, Jahrb. f. Soziologie II, S. 431 ff., Soz. d. Wissens, a. a. O., S. 613.

[138] Vgl. Mannheim, Soziologie d. Wissens, Arch, f. Soz.-Wiss., Bd. 53, S 624.

[139] Es kann hier nur kurz referierend auf die Abgrenzung der Wissenssoziologie gegenüber der methodischen Haltung des historischen Materialismus eingegangen werden. Es ist vor allen leider nicht möglich, die Position Max Schelers entsprechend zu würdigen, der bekanntlich die vorfindliche Dualität der Sphären selber zugrunde legt und an vielen Stellen (Formen des Wissens und der Bildung, Bonn 1925, die Wissensformen und die Gesellschaft, Leipzig 1926, S, 2, 32, 44, 84. 97, 103, 118, 130, 150, 168, 199, 207, 209, 218 u.a.) ausgesprochen und unausgesprochen zum historischen Materialismus Stellung nimmt. Es war ja leider auch nicht möglich, die erkenntnistheoretische Kritik Schelers an der Abbildtheorie (bezüglich des Da-seins und So-seins der Sachen in ihrem Verhältnis zum Intellekt) gegenüber der hier vertretenen Auffassung ausführlich darzulegen.

Scheler versucht unter Ablehnung der (zu engen) naturalistischen Geschichtstheorie, historistische Elemente in eine im Grund statisch orientierte Geschichtsbetrachtung aufzunehmen. Auch für Scheler gilt, dass das Sein des Menschen auch sein mögliches Bewusstsein bestimme; die Verstehens- und Erlebnisgrenzen der Menschen richten sich nach ihrem ganzen Sein (nicht nur nach ihrem ökonomischen). Eine eindeutige Inhaltsbestimmung der geistigen Kulturgehalte von seiten der realen Faktoren könne nicht stattfinden (Wissensformen, S. 31, 34, 36, 40, 100, 103, 118/119).

Den grundsätzlichen Fehler aller naturalistischen Geschichtserklärung sieht Scheler darin, dass neben der Annahme einer eindeutigen Determinierung der idealen Sinnwelt durch Realfaktoren unter den Realfaktoren selbst bestimmte, etwa die Produktionsverhältnisse, als unabhängig variable gesetzt werden. Scheler behauptet demgegenüber eine Gleich-Gültigkeit der realen Geschichte gegenüber der Geistesgeschichte Er bestreitet dabei nicht, dass reale Faktoren auf den Überbau wirken (im Sinn seines Bildes vom Schleusenöffnen und Schleusenschließen); nur die eindeutige Inhaltsbestimmung der geistigen Gehalte durch die Realfaktoren wird abgelehnt, damit auch die Setzung eines Realfaktors als unabhängig Variable für die ganze Dauer der Geschichte. Dagegen konzediert er dem „Ökonomismus” Geltung für die Spätphase des abendländischen Kapitalismus, die vorwiegend ökonomisch bestimmt sei. Die Marxsche Geschichtsauffassung wäre dann so zu verstehen, dass er die Bewegungsgesetze des Hochkapitalismus naturalistisch übersteigerte, sie außerdem für die Universalgeschichte verallgemeinerte und nur so alle bisherige Geschichte als Abfolge von Klassenkämpfen auffassen konnte.

Scheler behauptet umgekehrt wie Marx: Es gibt keine Konstanz im Wirkprimat der Realfaktoren, aber es besteht ein Grundverhältnis der Ideal- zu den Realfaktoren überhaupt, das Konstanz besitzt. Für ihn ist also keiner der beiden Faktoren Weltursache oder unabhängige Variable der andern; er führt aber eine neue unabhängige Variable ein, die je vorhandene Triebstruktur der Führer der Gesellschaft in engster Einheit mit dem Ethos, den leitenden Werten und Ideen, auf welche die Führer der Gruppen und durch sie hindurch die Gruppen selbst gemeinsam gerichtet sind. Zu diesem Ethos rechnet er auch die geistige Wirtschaftsgesinnung.

Während Marx die ausschlaggebende kausale Abhängigkeit aller geistigen Gehalte von den ökonomischen Produktionsverhältnissen sieht, während er die herrschende Religion, die Metaphysik und das Ethos selbst aus den ökonomischen Verhältnissen verstehen will, behauptet Scheler, dass Religion, Metaphysik, Ethos und Produktionsverhältnisse das mögliche Zustandekommen der positiven Wissenschaft und der Technik mitentscheiden, also eine zweite unabhängig Variable bilden, die nur geistesgeschichtlich zu verstehen ist.

Auch hier anerkennt Scheler das gemeinsame Wahrheitselement naturalistischer Geschichtsauffassung, insofern Ideen, die sich mit Interessen, Trieben oder Tendenzen vereinen, indirekt Macht und Wirksamkeitsmöglichkeit beweisen. Als Spielraum neu werdender Realfaktoren nimmt er die Determinierung durch die vorher gegebenen Realfaktoren; „Geist” habe nur hemmende oder enthemmende kausale Bedeutung. Die marxistische Überbaufassung wird von Scheler dadurch zu überwinden versucht, dass er an Stelle des strengen Kausalismus, der das theoretische Weltbild durch die jeweils praktische Wirklichkeitswelt bestimmt sein ließ, eine beide Sphären bestimmende Einheit, die Ethos- und Trieb-Struktur, als ursprüngliche setzt.

[140] Mannheim, Das Problem einer Soziologie des Wissens, Archiv f. Soz.-W., Bd. 53, S. 577 ff. Für unsern Hinweis ist als Auslesemoment maßgebend der Versuch einer (dem historischen Materialismus entsprechenden) monistischen Synthese historistischer (Mannheim) oder naturalistischer (Pareto-Ziegler) Observanz.

[141] Mannheim, a. a. O., S. 642 (644 ff., 647).

[142] Methodisch ist dabei die phänomenologische Analyse (wie wir schon früher [S, 474] bemerkten) derart verwandt, dass zwischen Tatsachen- und Wesenserkenntnis kein Sprung, sondern ein kontinuierlicher Übergang angenommen wird (Mann heil, a.a.O., S. 629), dass aber das Sich-Umsetzen des Realen in Geistiges phänomenologisch nicht fassbar sei (s. 618). Hier wird die Genesis eingeschaltet: für den progressiven Historismus hat der Mensch nur in der Geschichte einen Zugang zu den eine bestimmte Epoche leitenden Wesenheiten.

[143] Mannheim, a. a. O., S. 611.

[144] Mannheim, a. a. O., S. 614 Fußnote, ferner S. 587, 589, 633.

[145] So erscheint es als einseitig, das Gesamtwerden mit dem Wollen einer Klasse zusammenfallen zu lassen. Das Proletariat als aufsteigende Klasse, die schon als solche die realen Faktoren wesenhaft erlebt, hat nur eine Funktion im Gesamtprozess; ihr Teilsein kann nicht für das Ganze gesetzt werden (s. 634), sonst würde ja ihr eigener Standort als Abschluss der Dynamik gesetzt oder für die Zukunft das dynamisch-soziologische Bedingtsein aufgehoben (S. 637). Die Willensrichtung des aufsteigenden Proletariats bewirkt einen Funktionswandel der Dialektik, die nunmehr (nicht wie bei Hegel auf die Gegenwart), sondern auf die Zukunft bin bezogen wird.

[146] Mannheim, a. a. O., S. 632.

[147] Mannheim, a. a. O., S. 624 ff.

[148] Diese Fakta können aber nur innerhalb eines Sinnzusammenhangs, nicht als sinnfremde, erfasst werden. Denn wenn die Geschichtserfassung auf Totalität gerichtet ist, so muss sie, wenn auch metaphysisch, „Partialitäten zu Sinntotalitäten” ergänzen (S. 624 ff.). Dies bedeutet auch eine Funktionalisierung der metaphysischen Entitäten auf jene Ebene bin, in der sich für uns die Welt als real konstituiert. Alle Transzendenz ist ihrem Ursprung nach in die Immanenz eingesenkt (S. 628).

[149] Vgl. Pareto, Traité du sociologie générale, Paris 1917, hierzu Bousquet, Grundriss der Soziologie nach Pareto, Karlsruhe, ferner Ziegler, Ideologienlehre, Archiv f. Soz.-W., Bd. 57, S. 657 ff., auf den hier im folgenden besonders Bezug genommen wird.

[150] Vgl. Mannheim, a. a. O., S. 642. Ferner die scharfe Ablehnung bei Scheler, Wissensformen, S. 97, 209, 485 u.a. Dies im besonderen Hinblick auf eine soziologische Idolenlehre, eine Logik der Klassen und auf die prinzipielle Unschlichtbarkeit des phänomenologischen Streites, auf das Problem der Überwindung von Vorurteilen der Klassenlage. Auf diese grundsätzliche und entscheidende Frage kann hier nur verwiesen werden. Vgl. bes. Scheler, Wesen der Philosophie (Vom Ewigen im Menschen, 2. Aufl. I, 1, 1923, Vorrede, S. 16: „… denn warum sollte es ausgeschlossen sein, dass bestimmte Sachgehalte nur einer bestimmten individuellen Person … oder einer bestimmten Phase der historischen Entwicklung erkenntnismäßig zugänglich sind? … Der »Streit« — der phänomenologische Streit, wie ich ihn nenne, d. h. der tiefste Streit, den es gibt –, ist eben sozial unschlichtbar, man kann also den andern nur „stehen” und seiner Wege gehen lassen”.) Welche Konsequenzen sich aus dieser (im engeren Sinn auf das Problem der Evidenztäuschung bezogenen) Formulierung für unsere Fragestellung gezogen werden können, wie weit überhaupt das Problem der Allgemeingültigkeit (in dem bewussten Willen, Idole zu überwinden) sich in der Frage nach dem Kriterium in der Ideologienlehre stellen lässt, kann hier nur als Frage aufgeworfen werden.

[151] Vgl. die äußerst fruchtbare. Bezeichnung der bei den Hauptaspekte: status nascendi und post festum bei Mannheim, Soz. d. W. Arch. f. Soz, Wiss., Bd. 53, S. 616. Ann.

[152] Siehe Ziegler, 2.2.0., S. 685. Wir möchten bestreiten, dass die Soziologie Paretos die Kritik einer geschichtsphilosophisch fundierten Auffassung leisten kann. In Wirklichkeit kommt sie gar nicht an das Problem der Geschichte heran. In einer Hinsicht sieht sie allerdings vereinfachend klar: durch grundsätzliche Ablehnung jeder Metaphysik – wobei die Möglichkeit einer solchen Position dahingestellt sei (vgl. etwa Positivismus und Vitalssphäre) – enthält sie sich einer Wertsetzung; alles Verhalten in der Welt sei nur Sozialtechnik. In bezug auf ihre Wertpositionen stünden sich demnach die Ideologien unentscheidbar gegenüber.

Übrigens identifiziert sich ja Ziegler nicht unbedingt mit der Position Paretos, und wenn er Pareto im Sinn eines (geradezu pragmatistischen) Herrschaftswissens deutet, gibt er ja – wie auch an anderen Stellen – implizite die metaphysische Ungeschlossenheit oder Unberufenheit dieser Position zu.

[153] Vgl. hierzu Mannheim, Strukturanalyse der Erkenntnistheorie, Erg.-heft d. Kantstudien, Nr. 57, 1922, S. 53.

[154] Es müssen also sinnfremde Faktoren sein, die neben oder über dem Geschichtsprozess ihre Bedeutung nicht von einem Situationssinn erhalten, sondern ihn bestimmen, die also selbst als Seinsverhalte, Kräfte oder Verhaltungsweisen die Geschichtlichkeit transzendieren, der Vergeschichtlichung entzogen sind.

[155] Vgl. auch Scheler, Formen des Wissens, S. 47, 50, ferner Wissensformen und die Gesellschaft, S. 2, Fußnote.

[156] Weiterhin die Frage, ob naturalistische und historische Soziologie nur zwei Formen sind, in denen das Problem der Ideologienlehre gestellt werden kann, oder ob beide „auf einer Ebene” um den Wahrheitswert streiten können.

[157] Ziegler, a. a. O., S. 691, Fußnote.

[158] Nur so sei Ideologienlehre als Kritik des geschichtlichen Menschen, der zeitlich und sozial gebundenen Inhalte und Formen seiner Existenz möglich.

[159] Es bedürfte dabei noch genauerer Darlegung, wie (in einer genetischen Betrachtung) Sinnhaftes sich verdinglichen kann und dann in scheinbar eigener Gesetzlichkeit dem Menschen quasi sinnfremd gegenübertritt. Wenn der historische Materialismus in seiner dogmatischen Form „naturalistische” Geschichtsdetermination behauptet und damit der Notwendigkeit des Umschlags (evolutionär) sicher ist, scheint uns die Betrachtung des Ökonomischen als selbst schon geistig gestalteter Sphäre, die aber der Gefahr der Sinn-Entfremdung unter liegt und unterlegen ist, eher zu dem „wirklichen” Menschen durchzustoßen.

[160] Hier handelt es sich nur um den Zusammenhang mit der Fragestellung nach der Wirklichkeit; eine Ausführung, mit welchen Kriterien der Streit um die Anerkennung einer naturalistisch-generalisierenden oder historistischen Betrachtung geschlichtet werden kann oder ob er grundsätzlich unschlichtbar bleibt, muss vorläufig aufgeschoben werden.

[161] Wir bleiben bei dieser Formulierung, ohne allerdings an dieser Stelle aufweisen zu können, inwiefern die ausdrückliche Abweisung aller Zeichen, Bilder und Repräsentationen im Bewusstsein (wie sie etwa auch der Analyse Schelers entspricht) ihren Rückhalt in einem Immanenzstandpunkt hat, der in der Intention wohl den Gegenstand meint, aber nicht zu der (transzendenten) Realität vorstößt.

[162] Vgl. in a. Zusammenhang Mannheim, Strukturanalyse, a. a. O., S. 64.

[163] Hier wäre auch das Problem der Erkennbarkeitsgrenze und der Denkbarkeitsgrenze, die nicht zusammenfallen, anzuschneiden, wobei das „Denkbare” als Immanenz des Seins im Denken der natürlichen Realitätsthese widerspräche und deshalb nicht die Grenze des Erkennbaren zu markieren vermag, Vgl. Hartmann, a.a.O., S. 266.

[164] Dies ist aber genauso „Setzung” wie die Außenweltthese; sonst ließe sich das Unerkennbare als Unerkanntes, das Nicht-Wissen als Wissen vom Nicht-Wissen systematisch auflösen, womit das Irrationale an die Grenze des Rationalen geschoben wäre.

[165] Vgl. Hartmann, a. a. O., S. 192, 207, 247, 302, 360, 392, ferner auch Hartmann, Logische und ontologische Wirklichkeit, Kantstudien, Bd. 20, S. 13 ff.

[166] Entsprechung der Repräsentation des Objekts mit dem Objekt setzt zur Konstituierung ihrer Möglichkeit „partiale Identität” der kategorialen Grundrelation voraus. Vgl. Hartmann, a. a. O., S. 353 ff.

[167] Wenn Back (Conrads Jahrbücher 71, S. 253) behauptet, Marx habe den allgemeinen Charakter der Wesenszusammenhänge, die nur die Ordnung des Seins betreffen, verkannt, weil er glaubte, alle geistige Kultur auf die konkrete wirtschaftliche Lage der Menschen wesensnotwendig zurück führen zu können, wobei er die tatsächlichen Motivationen nichtwirtschaftlicher Art für Schein erklärte, so bleibt B. selbst im Bereich des phänomenal Vorfindlichen, ohne der Dynamik „als Theorie“ gerecht werden zu können.

[168] „Linksopposition” gegen bürgerlichen Rationalismus und zugleich Synthese aus romantischen Elementen und dem Lebensbegriff der Lebensphilosophie. Vgl. Mannheim, Das konservative Denken, a. a. O., S. 493 ff.

[169] Dazu müssten erst die zeitgebundenen Bestimmungen des historischen Materialismus genetisch aufgezeigt werden, die teils aus seinem philosophischen Ursprung, teils aus seinem Charakter als Angriffsinstrument der aufsteigenden Klasse herrühren. So würde dann die Frage lauten, auf welche Wesenselemente sich der historische Materialismus unter Ausklammerung seiner historischen Erscheinungsform und der Parteien, die sie tragen, würde reduzieren lassen.