Paul Szende
Philosophie und soziales Leben[1]
[…] 4. Die dialektische Philosophie – Siegfried Marck: Die Dialektik in der Philosophie der Gegenwart. Erster Halbband, 166 Seiten. Verlag von J.C.B. Mohr, Tübingen 1929.
Das Buch des Genossen Marck zeichnet sich durch souveräne Beherrschung der schwierigen Materie, durch vorzügliche Gliederung des Stoffes und durch eine klare Schreibweise aus. Ich habe dieses Buch dennoch mit einer gewissen Melancholie gelesen. Der Verfasser ist Sozialdemokrat, man nimmt daher sein Buch mit der berechtigten Erwartung zur Hand, hierin Auskünfte über die soziale Bedingtheit und Strukturbezogenheit der dialektischen Philosophie der Gegenwart zu bekommen. Die ersten zwei Kapitel, die mehr als die Hälfte des Buches einnehmen, erfüllen diese Erwartungen nicht. Sie unterscheiden sich von den meisten, durch bürgerliche Philosophen verfassten ähnlichen Werke nur dadurch, dass sie eindringlicher und verständlicher geschrieben sind. Mag man über den Wert der Philosophie Heinrich Rickerts welches Urteil immer haben, Tatsache ist, dass die Lehren dieses führenden Professors der Heidelberger Universität ganze Generationen entscheidend beeinflusst haben. Im Werke Marcks bekommen wir ein treffliches Bild von den Einzelheiten dieser Lehren, auch ihre Widersprüche und Mängel werden überzeugend aufgezeigt, darüber aber, inwieweit die Rickertsche Philosophie als repräsentativer Ausdruck der modernen deutschen Geistigkeit gelten kann, inwiefern sie dem sozialen Milieu entspringt, erhalten wir keine Antwort. Der Verfasser vertröstet die Leser auf das dritte Kapitel, wo unter anderem auch Tillichs religiöser Sozialismus, der dialektische Materialismus Lenins und Georg Lukács’ historische Dialektik, das heißt solche philosophische Systeme besprochen werden, die ohne soziologische Würdigung und Einreihung überhaupt nicht begriffen werden können. In diesem Kapitel äußern sich gleichfalls die fachwissenschaftlich-philosophischen Vorzüge des Verfassers; übersichtliche Darstellung des Stoffes, prägnante Wiedergabe des gegnerischen Standpunktes, vorzügliche kritische Begabung; doch die Philosophie eines Lenins wird kaum anders behandelt als die Systeme Rickerts und Lasks. Dass die sozialen Zusammenhänge in diesem Kapitel mehr in den Vordergrund treten, ist eher das Verdienst von Tillich, Lenin und Lukács, als das des Verfassers.
Es steht mir fern, die Bedeutung der erkenntnistheoretisch-methodologischen Fragen in Abrede zu stellen, doch habe ich das Gefühl, dass für diese Aufgabe der deutsche philosophische Universitätsbetrieb so viele Kräfte zur Verfügung hat, dass man ihnen die rein fachwissenschaftliche Behandlung dieser Probleme getrost überlassen kann. Ein Sozialist darf auch bei solchen inneren Problemen der Philosophie den Zusammenhang mit den sozialen Problemen nicht außer Acht lassen und dies um so weniger, als methodologische Fragen zu oft eben dazu dienen, die Forschungswege und die sozialen Zusammenhänge zu verdecken. Bei näherem Besehen ist die soziale Bedingtheit dieser Probleme leicht festzustellen. Wer sollte sich dieser Aufgabe widmen, wenn nicht ein Sozialist, der, wie der Verfasser, über so tiefe philosophische Kenntnisse verfügt? Der Philosoph Siegfried Marck hat hier einen gediegenen Beitrag zum fachwissenschaftlichen Betrieb der Universitäten geliefert; im Vertrauen zu seinen großen Fähigkeiten erwarten wir nun von dem Sozialisten Siegfried Marck, dass er uns ein soziologisches Werk über die Dialektik der zeitgenössischen Philosophie bescheren werde.
[1] Aus der Sammelrezension des Verfassers in: Der Kampf (Wien), Juni–Juli 1930 (Jg. 23., Nr. 6–7.), 299–300. (In der Sammelrezension wurden außer Marcks Buch folgende Bücher besprochen: 1. [Unter dem Titel Volkstümliche Philosophie] Professor Dr. M. H. Baege: Soziologie des Denkens. Das vorwissenschaftliche Denken, Uraniaverlag, Jena 1929, ders.: Wie erkennen wir die Welt?, Uraniaverlag, Jena 1926; 2. [Geschichte der Philosophie] Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, Zwölfte Auflage, J. C. B. Mohr, Tübingen 1928; 3. [Die zeitgenössische Französische Philosophie] I. Benrubi: Philosophische Strömungen der Gegenwart in Frankreich, Felix Meiner, Leipzig 1928.) – der Hrsg.