Siegfried Marck

Die dialektische Soziologie des Marxismus[1]

 

a) Dialektischer Materialismus?

Die Macht des dialektischen Motivs zeigt sich im gegenwärtigen Geistesleben auch darin, dass es zugleich in der spekulativen Religionsphilosophie wie in der unmittelbar praktischen Soziologie im Vordergrunde steht. Dialektik schlägt sogar eine Brücke zwischen der christlichen Offenbarungstheologie und der Soziologie des Marxismus, die sonst wenig mit einander gemein haben dürften. Wir können an die Betrachtung der dialektischen Theologie die der dialektischen Soziologie des Marxismus anschließen, die vom anderen Pole des globus intellectualis aus das dialektische Problem in gleicher Tiefe und mit geschichtlich unvergleichbar gewaltiger Wirkung stellt. Tillichs religiöser Sozialismus zeigt dabei die Möglichkeit des Überganges zwischen diesen geistigen Strömungen. Marxistische Dialektik steht als Anthropologie jeder Theologie gegenüber. Dort ergab sich die Dialektik aus dem Bestreben, von radikaler Transzendenz aus die Immanenz zu überwinden, im Marxismus entspringt sie aus dem entgegengesetzten Wollen der Aufhebung alles Transzendenten im Menschlich-Immanenten.

Der ganze Komplex der Beziehungen zwischen Marx–Feuerbach – Hegel kann hier nicht aufgerollt werden. Wir finden bei Marx die Beibehaltung Hegelscher Methodik, ihre originelle und vertiefende Umformung und zugleich ihre Verpflanzung auf einen Boden, auf dem sie dem Verkümmern oder Absterben überantwortet wird.[2] Auch im Bewusstsein Marxens steht das bloße „Kokettieren” mit der Hegelschen Ausdrucksweise und die zentrale Wichtigkeit der Dialektik für den gesamten historischen Materialismus etwas unvermittelt nebeneinander. In den Verschlingungen der Entwicklung Marxens ist es zwischen der „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie” und dem ökonomischen System eben nicht zum Aufbau der selbständigen Methodologie gekommen, die als umfassende Dialektik von ihm geplant war. So ist man für die ursprünglich marxistische Dialektik auf die zusammenfassende Interpretation durch Engels angewiesen, die teils bewusst die Gedanken popularisiert, teils sie ungewollt abflacht. Auf der Basis dieser Darstellung aber hat sich eine Vulgärdialektik entwickelt, die vom offiziellen Kommunismus (Lenin, Bucharin, Deborin) kanonisiert wurde. Sie tritt als dialektischer Materialismus in engster Fühlung mit dem naturwissenschaftlichen Materialismus und der erkenntnis„kritischen” Abbildstheorie auf. Die Abkehr von Hegel wird von Engels bereits in die Formel gebracht, dass an Stelle der Idee als Demiurg des Wirklichen unsere Vorstellungen als Abbilder der Realität gesetzt würden. Diese erkenntnistheoretische Grundhaltung soll angeblich mit der Naturwissenschaft im Einklang stehen. Und auch die Dialektik wird zur erkenntnistheoretischen Umschreibung des modern naturwissenschaftlichen Grundgedankens der Entwicklung. Die Durchdringung der Gegensätze, die Auflösung jeder starren gedanklichen Setzung, der Umschlag der Quantität in die Qualität werden an Beispielen, meist aus der organischen Naturwissenschaft, dargestellt. In Verbindung dieser beiden Motive wird der dialektische Prozess im Erkennen als Widerspiegelung der realen Prozesse und Entwicklungen in der Natur betrachtet. Historische Dialektik ist Spezialfall dieses allgemeinen Prinzips, historischer Materialismus Unterart des allgemeinen dialektischen Materialismus.

Mit besonderer Energie ist die Verbindung von Dialektik und abbildstheoretischem Materialismus von Lenin im Kampfe gegen jede idealistische und empiriokritizistische Strömung im Marxismus festgehalten worden.[3] Jeder Versuch, den historischen Materialismus als eine rein soziologische Methode mit einer nicht-materialistischen Philosophie zu verbinden oder in ihr zu begründen, wird hier als dualistische Abirrung, als philosophischer „Menschewismus“ verdammt. Der naturwissenschaftliche Materialismus aber fällt für Lenin mit dem naiven Realismus zusammen. Er ist bewusste theoretische Formulierung der instinktiven Überzeugung, die jeder Erfahrungswissenschaft zugrunde liegt. Diese Überzeugung beruft sich auf die vom Bewusstsein unabhängige Existenz der Außenwelt und ihr Abbild durch unsere Empfindungen. Die Welt ist ein Ding an sich, das in der Wissenschaft erkannt, d. h. immer genauer im unerschöpflichen Prozesse der Erkenntnis abgebildet wird.

Die Gegner dieses Standpunktes haben den historischen vom naturwissenschaftlichen Materialismus und vom naiven Realismus abrücken wollen. Sie haben das „kopernikanische“ Element des marxistischen Denkens richtig erkannt, sie haben den relativistischen Bestandteil der Dialektik als Gegensatz zum Absolutismus der Abbildtheorie empfunden. Denn arbeitet nicht die Abbildstheorie – soweit sie überhaupt ausdenkbar ist – mit einem ruhenden Erkenntnisobjekte und einer ihm zugeordneten statischen und ruhenden Erkenntnis? Kann ein Prozess abgebildet werden, ist er nicht vielmehr in immer neuen Ansätzen zu bestimmen? Kann solch immer erneutes Bestimmen im fließenden Erkenntnisprozesse noch als Abbilden bezeichnet werden? Ein ruhendes Objekt der Erkenntnis ist einem dynamischen Erkenntnisbegriffe ebenso wenig zuzuordnen wie eine vollendete statische Erkenntnis einem prozesshaften Objekte. Kurz: die Dynamik des dialektischen Erkenntnisbegriffs und die Statik des materialistischen Abbilddogmas reiben sich auf Schritt und Tritt aneinander und können auf keinen Fall mit einander verkoppelt werden. Lenins erkenntnistheoretischer Dogmatismus wendet die Dialektik nirgends auf sich selbst an und kennzeichnet sich so tatsächlich als Verabsolutierung bürgerlicher Philosophie des 18. Jahrhunderts an einer bestimmten Stelle seines Denkens. Dass seine Auseinandersetzung mit dem als Agnostizismus betrachteten Kritizismus ein totales Vorbeireden darstellt, braucht hier keinem Kundigen besonders versichert zu werden. Das Ding an sich, vom dem dauernd die Rede ist, ist nicht Kants Ding an sich, der transzendentale metaphysische Gegenstand, sondern die „Außenwelt“. Es ist das „Ding an sich“ des common sense, das für Kant den Ansatz, nicht die Lösung des Erfahrungsproblems bedeutet. Aber der common sense des naiven Realismus stellt allerdings eine unbewusste Metaphysik dar, Dass der naive Realismus seinen eigenen metaphysischen Charakter, die metaphysische Belastetheit des „an sich“ Gesetzten nicht kennt, liegt an seiner Unfähigkeit, seine eigenen Voraussetzungen weiterzudenken. In der kritischen Philosophie werden der Ding- und Existenzbegriff nicht unanalysiert hingenommen, sondern zum Problem gemacht. Hier wird das Transzendenzproblem auf der Grundlage der Bewusstseinsimmanenz diskutiert. Vor allem in einer Dialektik hat das Wirklichkeitsproblem allein in dieser Gestalt Platz. Mancherlei Ansätze bei Lenin weisen in Richtung der Realdialektik auch in der Erkenntniskritik, in der Abwehr des subjektiv-empirischen, also unkritischen Idealismus der Machschen Schule wird manches Berechtigte ausgesprochen. Aber das hartnäckige Festhalten der naiven Grundlage, die aus ihr resultierende Verkoppelung von Dialektik und Materialismus ist kein Boden einer umfassenden Philosophie des Marxismus, einer entfalteten marxistischen Dialektik.

 

b) Georg Lukács’ historische Dialektik

Den bedeutsamsten Versuch in der Richtung einer marxistischen Dialektik hat Georg Lukács in seinem Werke „Geschichte und Klassenbewusstsein“ unternommen.[4] Auch andere Denker haben nach Abstreifung der vorkantischen Elemente im vulgärmarxistischen Philosophieren die marxistische Dialektik weiterentwickelt, so vor allem Max Adler. Lukács aber hat alle inhaltlichen Probleme des Marxismus und damit der gesamten Soziologie der Gegenwart dialektisch durchgearbeitet. Dadurch rückt sein Aufbau in die Linie aller Versuche, die bloss formalen Betrachtungen in der Gegenwartsphilosophie zu überwinden. Aber weit über diese Tendenz macht seine Erörterung der Transzendenz-Immanenzbeziehungen die Philosophie selbst in entscheidender Weise zum Problem. An diesem Punkte wird marxistische Dialektik zu einem wesentlichen Beitrage für das revolutionierende „existentielle Denken“ der Epoche.

Lukács’ Philosophie wächst auf dem Boden der historischen Dialektik. Sie ist durch den klassischen Idealismus hindurchgegangen, kennt seine volle Tiefe und weiß, dass er nur von innen her überwindbar ist. So macht sie vollen Ernst mit der im Marxismus oft verkündeten Erbschaft der klassischen Philosophie. Sie sucht den Hegelianismus wirklich als Marxismus zu erfüllen, sucht zu zeigen, wie der Fortschritt über Hegel nur im Übergang in das qualitativ neue Element des Marxismus erfolgen kann. Das „Auf-die-Beine-Stellen“ Hegels als eine bloße geistesgeschichtliche Reaktion, als eine Umstülpung, bei der jenes System seinen eigenen Sinn verlieren muss, wird hier zum wirklichen Zu-Ende-Denken des Hegelianismus, Sein Zu-Ende-Denken aber ist Übergang zum denkenden Handeln, zur praktischen Theorie. Dieser Gedanke steht für Lukács im Mittelpunkte. Mit dem Übergange von der Interpretation zur Veränderung der Welt wird philosophischer Ernst gemacht, Veränderung unmittelbar durch die Theorie, nicht erst durch die aus ihr abgeleiteten praktischen Konsequenzen, Veränderung als philosophische Aufgabe – darum handelt es sich hier. Das gibt dem Marxschen Satze über Interpretation und Veränderung der Welt erst seine paradoxe und revolutionäre Schärfe, ohne die er psychologische Maxime des Politikers gegenüber dem Philosophen, nicht selbst philosophischer Grundsatz wäre. Die Theorie, die in dem Gegenstand gestaltend eindringen soll, muss das Selbstbewusstsein dieses Gegenstandes darstellen. Die Hegelsche Bedeutung des Selbstbewusstseins, der Selbstverwirklichung wird beibehalten. Praktische Theorie steht unter der Voraussetzung der Identität von Erkenntnis-Subjekt und Erkenntnis-Objekt. Nur in ein sozusagen stofflich gleichartiges Objekt vermag das erkennende Subjekt einzudringen, nur in einem ihm wesensgleichen Subjekt gelangt das Objekt zu seiner Wesenserfassung. In der praktischen Theorie repräsentiert die Praxis das Objekt der Wirklichkeit, die Theorie das erkennende Subjekt: praktische Theorie weist als philosophischer Begriff auf die Identität von Erkennen und Wirklichkeit, von Realität und Idee bin. Mit dem Motiv des Selbstbewusstseins bleibt ein Grundmotiv des Idealismus erhalten. Für diesen war die Wirklichkeit Selbstverwirklichung des absoluten Geistes, auf idealistischer Metaphysik beruhte die Einheit von Subjekt und Objekt. In der marxistischen Dialektik verwandelt sich diese idealistische Metaphysik in realistische Soziologie. Die Wirklichkeit ist Subjekt-Objekt als Geschichte, das Bewusstsein ist Subjekt-Objekt als Klassenbewusstsein. Geschichte und Klassenbewusstsein treten somit an die Stelle von Realität und Geist, von Wirklichkeit und Vernunft bei Hegel. Das „Wirkliche“ ist „vernünftig“, weil es als Geschichte Gestalt des menschlichen Bewusstseins ist, die Vernunft ist wirklich, weil der Mensch Verfasser des von ihm dargestellten, nicht nur angeschauten Schauspiels der Geschichte ist. Die realistische Soziologie fungiert also hier nicht als Einzelwissenschaft, sondern als Philosophie. Sie ist mit ihrem Subjekt-Objekt Gedanken an die Stelle der idealistischen Metaphysik getreten. In Historie und Psychologie scheint sich damit Philosophie aufgelöst zu haben: aber nicht Geschichte als betrachtende Spezialwissenschaft kommt hier in Frage, sondern als handelnd-schöpferisches Erkennen der universellen menschlichen Wirklichkeit. Die kollektiven Bewusstseinsgestalten, vor allem das Klassenbewusstsein, sind als Subjekt der Geschichte nicht Gegenstände einer theoretisch-seinswissenschaftlichen Psychologie, sondern einer philosophisch-dialektischen, die selbst zu einem wesentlichen Faktor des Geschehens wird. Im Mittelpunkte der marxistischen Dialektik stehen menschliches Handeln, Existenz und Gegenwart. So haben wir es hier mit einem die traditionelle Philosophie umwälzenden Typus einer dialektischen Existenzialphilosophie zu tun. Diese „Anthropologie“ ist nicht auf das Einzelsubjekt bezogen, die dialektische Anthropologie ist soziale Anthropologie. Der vergesellschaftete Mensch ist Träger der Geschichte und Maß aller Dinge. Die Gesamtwirklichkeit ist gesellschaftliches Geschehen. Eine bedeutende Rolle in dieser Dialektik und in der Ableitung des Kollektivbewusstseins spielt die Idee der Totalität. Die Geschichte wird zur universalen Wirklichkeit (denn auch die Natur ist als Erkenntnisobjekt kulturell-geschichtliche Angelegenheit!). Aber diese Bedeutung der wahren Wirklichkeit kommt nicht den vereinzelten Geschichtsfakten, sondern der Totalität des Geschehens zu. „Die Herrschaft der Kategorie der Totalität ist der Träger des revolutionären Prinzips in der Wissenschaft“.[5] Alles Vereinzelte bildet eine dingliche Schranke für das Bewusstsein und ist niemals von ihm restlos durchschaut und verstanden, deshalb auch nicht endgültig handelnd gestaltet. Die Totalität des Geschehens erfordert ebenso Totalität auf der Subjektsseite: diese stellt nicht das Einzel-, sondern ein soziales Kollektivbewusstsein dar. Da für die marxistische Geschichtsauffassung die Klasse den Träger der Geschichte bildet, ist somit das Klassenbewusstsein das geforderte Subjekt-Objekt. Und zwar soll aus Gründen inhaltlicher Geschichtsbetrachtung das Klassenbewusstsein des Proletariats das erste vollentfaltete Klassenbewusstsein im Gange der Geschichte darstellen. Geschichte ist Selbstverwirklichung des menschlichen Sozialbewusstseins, dieses vollendet sich als Klassenbewusstsein. Es wird als Klassenbewusstsein des Proletariats im Marxismus seiner selbst und zugleich seiner Beziehung auf den Gesamtsinn der Geschichte bewusst. Allerdings kann nicht das unmittelbare empirisch-psychologische Bewusstsein des Proletariats der Aufgabe genügen, welche die in Realdialektik verwandelte Geschichtsmetaphysik ihm stellt. Vielmehr muss ein ideales, den objektiven Sinn der geschichtlichen Situation erfassendes Klassenbewusstsein den unentwickelten und zersplitterten Ansätzen des empirischen Klassenbewusstseins substituiert und dessen Äußerungen zugerechnet werden. „Indem das Bewusstsein auf das Ganze der Gesellschaft bezogen wird, werden jene Gedanken, Empfindungen usw. erkannt, die die Menschen in einer bestimmten Lebenslage haben würden, wenn sie diese Lage, die sich aus ihr ergebenden Interessen sowohl in Bezug auf das unmittelbare Handeln wie auf den diesen Interessen gemäßen Aufbau der ganzen Gesellschaft vollkommen zu erfassen fähig wären, die Gedanken … also, die ihrer objektiven Lage angemessen sind.“[6] Soll allerdings dieser Gedanke nicht rein idealistisch verstanden werden und damit die Realdialektik unmöglich machen, so muss er durch den anderen ergänzt werden, dass das empirische Klassenbewusstsein seinem Zurechnungspunkte entgegenrieft. Vorbehaltlich unserer Kritik an diesem Punkte ist zunächst festzustellen, dass die Scheidung des unmittelbaren Klassenbewusstseins vom sinnerfüllenden Bewusstsein den Gegensatz der hier vorliegenden Psychologie zu jeder empirischen Psychologie deutlich ausdrückt. Ebenso ist in der Gegenüberstellung der Geschichtstendenzen mit ihrer höheren Realität und der geschichtlichen Tatsachen die Abgrenzung zur empirischen Geschichte vollzogen.

Die Quintessenz der marxistischen Dialektik sieht Lukács in dem Kapitel über den Fetischcharakter der Ware, dem dieselbe Bedeutung für den Marxismus zukomme wie der Triade Sein-Nichtsein-Werden für die Hegelsche Logik. Zwei Momente charakterisieren die bürgerliche Ökonomie als „fetischistisch“: die Dinghaftigkeit und die Unveränderlichkeit ihrer Kategorien. Beides entspringt derselben Quelle: der notwendigen, weil interessierten Verkennung der ökonomischen Grundbegriffe als Wechselbeziehungen vergesellschafteter Menschen in einer bestimmten geschichtlichen Epoche. Die Unfähigkeit, zum menschlichen Grunde der Wirtschaft, zu ihrem soziologischen Fundament durchzudringen, bedeutet die Grenze der bürgerlichen Ökonomie. Beziehungen werden so in Dinge umgedeutet und treten dem Menschen als eine ihm fremde zweite Natur gegenüber. In der Befangenheit der Selbstentfremdung könne das bürgerliche Bewusstsein die Gesetzlichkeiten dieser fetischhaften Dingwelt nicht als seine eigene Schöpfung durchschauen. Das wirke sich methodisch in der Erkenntnis wie im Handeln aus. Die Frontstellung der dialektischen Methode richtet sich also sowohl gegen den dogmatischen Dingbegriff – in schärfstem Gegensatze gegen die Abbildstheorie der Vulgärdialektik – wie gegen den statisch-platonischen Wesensbegriff ewiger Kategorien. Auf dem Standpunkte radikaler „humanistischer“ Immanenz, der hier zur Durchführung gebracht werden soll, wird jede transzendente Wesenheit, die dem geschichtlichen Menschen fremd gegenübersteht, dem dogmatischen Dingbegriffe in ihrer Struktur gleichgesetzt. Mit dem Fetischismus der Bürgerlichkeit wird als gewaltigerer Gegner der Platonismus jeder Form bekämpft.[7] Denn die platonischen Ideen sind ja reale ewige Objekte und als solche nicht Produkte der einzigen geschichtlichen Wirklichkeit, Naiv realistische und idealistische Transzendenz gelten gemeinsam als Fetischismus. Der Bruch mit dem Platonismus und daher mit aller bisherigen abendländischen Philosophie meldet am deutlichsten den revolutionären Anspruch dieser Dialektik in der Philosophie an. „Darum muss die dialektische Methode mit dem Zerreißen der Ewigkeitskategorien zugleich ihre Dinghaftigkeitshülle zerreißen, um den Weg zur Erkenntnis der Wirklichkeit freizulegen.“[8] Jede dem menschlichen Bewusstsein fremde Setzung, ob Naturding, Gesellschaftsding oder Wertobjektivität, fällt unter die Kritik des Fetischismus. Wir haben also den radikalen Gegenpol zum Objektivismus gerade auch in den Formen, die bei Emil Lask und Nikolai Hartmann auftreten, vor uns. „Die Reflexionsbestimmungen der fetischistischen Gegenständlichkeitsformen haben ja gerade die Funktion, die Phänomene der kapitalistischen Gesellschaft als übergeschichtliche Wesenheiten erscheinen zu lassen.“[9]

Die monistische Dialektik hebt bei Lukács eine Reihe von Dualismen auf, die Theorie und Praxis des Marxismus oft beunruhigen. Nur bei undialektischer Denkweise kann der Gegensatz von Voluntarismus und Fatalismus, von Anarchismus und Opportunismus auftreten. Der Revisionismus zerfällt die einheitliche wirklichkeitsverändernde Theorie in Empirismus und Utopismus. Indem die Tatsachen in ihrer Unmittelbarkeit hingenommen und nicht als Momente einer von uns selbst erschaffenen Totalität angesehen werden, entsteht der Empirismus. Die aus den Tatsachen selbst entfernte, sie nicht mehr als Tendenz beherrschende Totalität wird in die dinglich starre Utopie des Endziels verlegt. Die fatalistische Hinnahme der Tatsachen kann nur voluntaristisch durchbrochen, die aus der wieder rein betrachtend gewordenen Theorie entfernte Praxis muss durch Ethik ersetzt werden. „Die »ethische« Neubegründung des Sozialismus ist die subjektive Seite der fehlenden, zur Zusammenfassung einzig fähigen Totalitätskategorie“.[10] Dialektische Praxis steht also weder unter der Kategorie der Naturgesetzlichkeit noch unter der des ethischen Sollens. Sie ist weder ein Glied in der Kette einer naturgesetzlichen Entwicklung noch eines unendlichen Annäherungsprozesses an die ethische Forderung. Mit der Kairosphilosophie berührt sich die Bejahung des Entscheidungshandelns und der aus der Zeit herausgehobenen Gegenwart. Doch nicht durch Einbruch eines Transzendent-Ewigen kennzeichnet sich der entscheidende Augenblick, sondern durch seine Verbundenheit mit der Totalität der Entwicklung, durch seine Zugehörigkeit zu den in die Zukunft weisenden Tendenzen. Diesen zukunftsträchtigen Augenblick ergreift das Handeln im Geiste der praktischen Theorie in zugleich verantwortungsvoller und richtiger Entscheidung. Nicht ein verborgenes Absolutes, sondern ein wissbares Zukünftiges ist der Maßstab handelnder Entscheidung. Die Ausschaltung naturgesetzlicher Berechenbarkeit macht also das Handeln nicht irrational und entfernt nicht den Maßstab der Richtigkeit für die Entscheidung. Der historische Erfolg, nicht im opportunistischen, sondern in dem methodischen Sinne der wahrhaft wirklichen geschichtlichen Zukunft rechtfertigt das Handeln. „Für diese Gewissheit des Sieges der proletarischen Revolution kann es keine »materielle« Gewähr geben. Sie ist nämlich uns nur methodisch durch die dialektische Methode garantiert.“[11] Auch eine Gestalt wie die Lenins wird für Lukács begreifbar, nicht von instinktiv-irrationaler Genialität aus, sondern durch das sichere Funktionieren der dialektischen Totalitätskategorie in seinem praktisch-theoretisch fundierten Handeln.

Unter dem Gesichtspunkte der Verdinglichung hat Lukács eine umfassende Kulturkritik der Gegenwart unternommen und die gesamten Motive des klassischen Idealismus in diese hineingearbeitet. Formaler Rationalismus ist ihm der Grundcharakter der bürgerlichen Kultur, Ein spezialistischer Rationalismus der Teilgebiete, die untereinander inkohärent sind, herrscht in ihr. Damit wird ihre Totalität selbst irrational. Kapitalistische Wirtschaft, bürgerliche Wissenschaft und Philosophie werden auf den Generalnenner dieser Struktur gebracht. Die Schranken der Gegebenheit der aus den rationalen Formen unableitbaren Inhalte treten überall auf und verhindern zugleich das durchrationalisierte System der Gesamtkultur. Der platonisierende Kantianismus wird somit der zusammenfassende Ausdruck der bürgerlichen Weltepoche. Er arbeitet mit den Formen als ewigen Kategorien und zugleich mit ihrer Beschränkung durch die Irrationalität des inhaltlich Gegebenen. Er begründet die einzelnen Kulturgebiete rational und lässt sie systemlos autonom nebeneinander bestehen. Die kantische Philosophie zeigt klassisch die korrelative Zusammengehörigkeit von Irrationalität und Vereinzelung, von Ding an sich (als methodischem Ausdruck des Irrationalen) und mangelndem Vernunftsystem. „Aus der verdinglichten Struktur des Bewusstseins ist die moderne kritische Philosophie entstanden.“[12] Die Antinomien, in die sie ausläuft, sind nach Lukács nicht ewig, sondern Antinomien des bürgerlichen Bewusstseins und nur innerhalb seiner Schranken unvermeidlich.

Der absolute Idealismus von Fichte bis Hegel hat nach Lukács die Schranken der bürgerlichen Philosophie vergeblich zu sprengen versucht. Er hat das Problem des Subjekt-Objekts und der Totalität gestellt, aber nicht lösen können. Dazu ist er zu sehr Platonismus geblieben. Jeder Platonismus aber sei im Banne der Unveränderlichkeit kontemplativ, nicht aktiv. Er bleibe Dualismus von Idee und Wirklichkeit, von Erkennen und Handeln. So könne er nicht vorstoßen zur Erkenntnis der Geschichte als absoluter Wirklichkeit. So muss das vom klassischen Idealismus gesuchte „Subjekt der Tathandlung“, der Erzeuger der kulturellen Wirklichkeit, „Bewusstsein überhaupt“ bleiben. Es könne nicht geschichtliches, handelndes Kollektivsubjekt werden. Die idealistische Philosophie gelangt nicht zur Veränderung der Wirklichkeit durch praktische Theorie. Der Geist kommt als post-festum-Betrachter zur existentiellen Wirklichkeit, aus seiner Heimat des Zeitlos-Wirklichen! Aber „das Absolute ist nichts anderes als die gedankliche Fixierung, die mythologisierend positive Wendung der Unfähigkeit des Denkens, die Wirklichkeit konkret als geschichtlichen Prozess zu begreifen.“[13] Jeder Übergang zum Dualismus, zur Transzendenz wird also hier als Abfall vom Humanismus, vom rein existentiellen Denken aufgefasst. Die Aufgabe des Denkens ist, einen Aufbau der Kategorien zu liefern, der dem Menschen Klarheit über die Grundlagen seiner Existenz und seiner Beziehungen verschafft. Die Kategorien fungieren so, um den Terminus Heideggers zu gebrauchen, als „Existenziale“, freilich als soziale Existenziale. Die Gleichsetzung von Geschichte und Wirklichkeit und die damit verbundene Einsicht in das praktisch erkennende Sozialsubjekt als Geschichtsträger und Wirklichkeitserzeuger ist immer wieder der Schlüssel zu dieser gesamten Dialektik. „Das von uns selbst Gemachte der Wirklichkeit verliert hier sein sonst mehr oder weniger fiktionsartiges Wesen: wir haben nach dem bereits angeführten prophetischen Worte von Vico unsere Geschichte selbst gemacht, und wenn wir die ganze Wirklichkeit als Geschichte (also als unsere Geschichte, denn eine andere gibt es nicht) zu betrachten imstande sind, so haben wir uns tatsächlich zu dem Standpunkt erhoben, wo die Wirklichkeit als unsere »Tathandlung« aufgefasst werden kann.“[14]. Auch dieser entscheidende Satz zeigt deutlich, wie an die Stelle des kritischen relativen Rationalismus ein absoluter Rationalismus treten soll, der die Wirklichkeit durch das Subjekt restlos bewältigt. Dieser Rationalismus (und als solcher auch Idealismus) ist nicht mehr theoretischer, sondern praktischer, besser: existentieller Rationalismus. Es ist ein absoluter Standpunkt, dessen radikale Immanenz die Gegensätze des Absoluten und Relativen selbst zu relativieren sucht, ein praktischer Rationalismus, der nicht im Gegensatz zum theoretischen steht. Eben deshalb erscheint die Bezeichnung „existentiell“ für den theoretisch-praktischen Idealismus angemessen. Der Übergang in das Praktische weist gewiss Verwandtschaft mit dem praktischen Idealismus der Klassik auf, der absolut gegenüber dem theoretischen Relativismus gesetzt wird. Dort aber wird die Praktik in Gegensatz zur Theorie gestellt, man tritt mit dem Durchhauen des Knotens aus der kontemplativ philosophischen Praxis, die selbst in ihrem kontemplativen Zustande belassen wird. Bei Lukács aber soll die Philosophie als solche praktisch werden und die Alternative von Theorie und Praxis hinter sich lassen.

Wesentlich bleibt für diese Art von Dialektik stets ihre Zukunftgerichtetheit. „Nur wer die Zukunft herbeizuführen berufen und gewillt ist, kann die konkrete Wahrheit der Gegenwart sehen.“[15] Für R. Kroner bildete das Problem der Zukunft die Schranke seines logisch-metaphysischen Denkens der Gegenwart und der Selbstverwirklichung des Geistes. Er machte Halt, um in die Unmittelbarkeit zurückzukehren. Bei Tillich war das Problem der Zukunft überschattet durch die Beziehung von Ewigkeit und Gegenwart. Es kennzeichnet die Einstellung der marxistischen Dialektik, dass der Gedanke der Zukunft für sie grundlegende Bedeutung hat. Geschichtliche Totalität ist hier weder Unmittelbarkeit noch Gegenwart als Repräsentation der Ewigkeit. Sie ist als Zukunft bestimmt. Sie vermittelt sich in den Tendenzen, die von der Gegenwart in die Zukunft überleiten.

 

c) Zur Auseinandersetzung mit Lukács

Man wird der historischen Dialektik bei Georg Lukács nicht gerecht werden, wenn man sie als eine neue Form der Metaphysik kritisiert. Gewiss sucht er den Hegelianismus im bekannten dialektischen Sinne des Wortes „aufzuheben“. Der historische Materialismus soll bei Lukács die Welträtsel lösen, die Geschichte wird zur absoluten Wirklichkeit. Dennoch muss der Aufbau aus der Tendenz heraus verstanden werden, durch Übernahme der metaphysischen Probleme in eine völlig andere Sphäre die Metaphysik zu überwinden.[16] Metaphysik wäre dieses System nur dann, wenn es sich in den Rahmen der Voraussetzungen aller Philosophie seit Sokrates, also in die des Platonismus würde einspannen lassen. Dazu wäre die Entgegensetzung von Idee und Wirklichkeit nötig, die Kennzeichnung der Geschichte als wahre Wirklichkeit (ὄντως ὄν) gegenüber der Erfahrung. Das ist bei Hegel trotz der Identifizierung von Vernunft und Wirklichkeit der Fall, da die empirische Existenz von der vernünftigen Wirklichkeit getrennt bleibt. Der Aktivismus, das Praktischwerden der Theorie soll bei Lukács diese Sphäre der „faulen Existenz“ in die Vernunft miteinbeziehen. Diese Sphäre ist das Material des revolutionär gesellschaftlichen Bewusstseins, das keinerlei Rest einer bloß vorgefundenen Unmittelbarkeit mehr übriglässt. So wird nicht eine neue Metaphysik der Geschichte neben die empirische Wirklichkeit gestellt, wie es durch die rein theoretische Verabsolutierung des gesellschaftlichen Seins der Fall sein würde. Das Existenzproblem soll an Stelle des Seinsproblems in den Mittelpunkt treten, die Fragen des gesellschaftlichen Daseins die metaphysischen Probleme durch ihre Vermenschlichung und Entfetischisierung lösen. Sie sind nicht mehr im kantischen Sinne unlösbare, auch nicht. theoretisch falsch gestellte Fragen. Sie sind praktisch verkehrte, ideologisch verfälschte Fragen. Sie zeigen beim Übergang von der Mythologie zum existentiellen Denken ein anderes Gesicht und werden lösbar.

Diese dem revolutionären Charakter des Lukácsschen Denkens gerecht werdenden Erwägungen zeigen, dass hier radikal die entscheidende Frage zwischen Platonismus und existentiellem Denken, zwischen Philosophie und praktischer Theorie gestellt ist. Ist das Seinsproblem durch die Überführung in das Problem der menschlichen Existenz wirklich erledigt, sind alle Wirklichkeitsfragen in solche des gesellschaftlich-geschichtlichen Seins zu überführen? Ist reine Erkenntnis durch praktische Theorie überwindbar? Schon oberflächliche Betrachtung muss die Ausschaltung sowohl des Natur- wie des Wertproblems in diesem System bemerken. Hier wiederholen wir durchaus die Frage früherer Kritik, ob das Sein der Natur restlos als Gesellschaftsprodukt aufzufassen ist, ob die Welten der Werte (ideales Sein der Logik und Mathematik, ethische und ästhetische Geltungsmodi) in Schöpfungen des sozialen Bewusstseins auflösbar sind. Gewiss ist im Gegensatze gerade zu den marxistischen Anhängern des „bürgerlichen“ Materialismus die Natur uns nur als Erkenntnisgegenstand zugänglich. Dieser Gegenstand entwickelt und wandelt sich als Funktion der zur Kultur gehörigen Naturwissenschaft. Aber meint nicht Naturwissenschaft bei allem Selbstbewusstsein der eigenen Wandelbarkeit ein Unveränderliches, sich gesetzlich Wiederholendes, ein Statisches als ihren Gegenstand? Ist nicht gerade Erfassung dieses Statisch-Substantiellen der Natur mit Funktionsbegriffen ein Merkmal naturwissenschaftlicher Dialektik, ein Spezialfall der Dialektik von Immanenz und Transzendenz in allem Erkennen? Die Naturwissenschaft ist ein geschichtlich-gesellschaftliches Kulturprodukt, das auf ein außergeschichtliches Sein gerichtet ist. Der Seinsbegriff der Naturwissenschaft ist also seinem formalen Sinne nach nicht in Funktionen sozialer Existenz aufzulösen, so sehr seine inhaltliche Ausprägung vom Wandel der Wissenschafts- und damit der allgemeinen Kulturgeschichte abhängig sein mag. Die restlose Identifizierung der Wirklichkeit mit der menschlichen Geschichte als Gesellschafts- und Kulturgeschichte muss an dieser Struktur des Naturbegriffes scheitern. Sie ist aber selbst dann nicht durchführbar, wenn in einer abstrakteren Fassung (die bei Lukács ebenfalls angebahnt ist) die Geschichtlichkeit des Wirklichen lediglich dessen Prozesscharakter kennzeichnen soll. Auch diesem radikalen Funktionalismus gegenüber behauptet sich der Platonismus zunächst durch das unaufhebbare Recht des Dingbegriffes selbst.[17] Auch nach Überwindung des naiven Dingbegriffes und seiner Auflösung in die Funktion ist der methodische Anspruch unabweisbar, den die Termini in der Relation, der Träger des Prozesses, kurz der Substanzgedanke, in der Funktion selbst stellen. Dieses statische Element in jedem Erkennen exponiert das Hinausweisen des Wirklichkeitsgedankens über das rein geschichtliche Werden. Dieses muss eben doch als γένεσις εἰς οὐσιον, als Werden zum Sein betrachtet werden. Wie der Seinsfaktor dem geschichtlichen Werden, so steht aber der Wertfaktor dem Bewusstsein unauflösbar gegenüber. Sein wie Wert repräsentieren in Bezug auf das anthropologische Subjekt-Objekt das Überhumane, das rein objektive und transzendentale Prinzip. Beide hemmen den vollen Triumph, den im existentiellen Denken des 20. Jahrhunderts die Sophistik nachträglich über Sokrates und Plato erringen soll. Der Sinn der Bewusstseinshaltung ist in seine Akte niemals restlos auflösbar. Er hat seine objektive Eigengesetzlichkeit, die Anerkennung vom Bewusstsein verlangt. Der Maßstab für richtiges oder unrichtiges Verhalten kann nicht im Bewusstsein selbst gelegen sein. Auch das vergesellschaftete und im Handeln die Zukunft erschaffende Bewusstsein muss unter diesen Wertmaßstab gestellt werden. Denn es kann sich auch nach Lukács als empirisch-reales Bewusstsein unrichtig verhalten, d. h. den Tendenzen der geschichtlichen Entwicklung entgegenhandeln. Mit dem Maßstabe außerhalb des Bewusstseins, mit der Besinnung auf die Bedingtheit aller Bewusstseinshaltungen durch ihre Intentionalität auf Werte, lässt sich nicht der absolute Primat des Handelns vor dem Erkennen und ebensowenig die völlige Verschmelzung von Theorie und Praxis vereinigen, die formale Aktivität des Bewusstseins im Sinne der Intentionalität auf allen Gebieten wird erst von bestimmten Geltungsmodi aus inhaltlich bestimmt. Vom Objektiven der Geltung her bestimmen sich auch die Gegensätze des Erkennens und Handelns, da die Bewusstseinsakte hier verschiedenen Wertgesetzlichkeiten zu genügen haben. Von da aus differenzieren sich die Kulturgebiete gegenüber der unmittelbaren Totalität des Bewusstseins. Diese Differenzierung kann nicht ohne weiteres der fetischistischen Verdinglichung gleichgesetzt werden.

Geschichte wie Bewusstsein bedürfen mithin des Transzendenzelements, das ihre radikale Immanenz überschreitet. Die Geschichte ist in die objektive Wirklichkeit einzuordnen, das Bewusstsein auf das „Ist“ der Werte zu beziehen. Mit Recht war das Sein selbst als ein Sinn, dem sich das Bewusstsein gegenüberstellt, von den Voraussetzungen Kroners her charakterisiert worden. Von der Idee des Sinnes selbst aus zeigt sich die Unüberwindbarkeit des Seinsbegriffes. Geschichte und Bewusstsein stehen unter der Gesetzlichkeit des Sinnes und haben damit das objektive Sein anzuerkennen. Die Auflösung des Seins in Existenz kann daher nicht gelingen. Da-Sein setzt Sein voraus. Der Platonismus behauptet sich gegen existentielles Denken. Er behauptet sich dagegen gerade unter dem Gesichtspunkte der Dialektik. Reine Geschichte, reines Bewusstsein sind reine Immanenz. Damit kehren diese Begriffe in die Unmittelbarkeit zurück und werden undialektisch. Es steht mit dieser Selbstaufgabe der Dialektik bei der dialektischen Soziologie auf der Seite der radikalen Immanenz nicht anders wie bei der dialektischen Theologie auf der der Transzendenz. Kritische Dialektik setzt sich auch dem Typus des sozialexistentiellen Denkens entgegen. Der schwächste Punkt bei Lukács gibt für das Ausgeführte eine indirekte Bestätigung; seine Konzeption des richtigen Klassenbewusstseins als Zurechnungspunkt des empirisch-unmittelbaren. An dieser Stelle wird auch bei ihm das Sein der Realität gegenübergestellt, Platonismus und Dualismus dringen hier in sein System ein. Das sinnvoll-ideale Klassenbewusstsein ist im Grunde die marxistische Theorie gegenüber den anarchistischen oder opportunistischen Regungen des empirisch wirklichen Proletariats. Soll das Klassenbewusstsein als Zurechnungspunkt eine reale geschichtliche Potenz bleiben, so droht allerdings die unvermeidliche Konsequenz des metaphysischen Platonismus, des Hegelschen Idealrealismus. Der Marxismus als ideales Bewusstsein des Proletariats würde alle Merkmale einer metaphysischen Sinnwirklichkeit tragen. In der Setzung des idealen Klassenbewusstseins und seiner metaphysischen Gefahr rächt sich aber nur die mangelnde Verbindung der Existenz selbst mit einem transzendenten Sinn. Jene Konstruktion ist der Ersatz für die ausgeschaltete Idee, die dem empirischen Bewusstsein gegenübertritt. Die Verdrängung einer Werttranszendenz wird mit der Gefahr einer metaphysischen Transzendenz bezahlt, die im schärfsten Gegensatze zu dem System der Immanenz steht.

Lukács sucht dieser Gefahr der Metaphysizierung des Klassenbewusstseins zu entgehen, indem in der Zukunft das ideale Klassenbewusstsein zur Realität wird.[18] Ebenso sind ja jene geschichtlichen Tendenzen, die in der Gegenwart eine höhere Wirklichkeit als die Tatsachen besitzen, in der Zukunft selbst zu Tatsachen geworden. Doch droht bei dieser Flucht vor der Scylla der Metaphysik die Charybdis des Utopismus. Ist denn jene Zukunft etwas Fertiges und Endgültiges, ist sie wirklich ein Ende der Geschichte? Auch Marxens Begriff der „klassenlosen Gesellschaft“ hat utopische Belastungen: er soll als Reich der „Freiheit“ die Vorgeschichte der Menschheit zum Abschluss bringen. Wird dieser Gedanke ganz im Sinne der empirischen Soziologie und Ökonomie verstanden, so ist er vom Utopischen relativ freizuhalten, doch gerade in seiner geschichtsphilosophischen Rolle der Überwindung aller bisherigen Gesellschafts- und Denkformen tritt seine utopische Seite wieder stark in den Vordergrund. Ist also jene geschichtliche Totalität etwas Erreichbares und wird alle geschichtliche Wirklichkeit im menschlichen Selbstbewusstsein restlos durchschaubar? In der Unterscheidung der Realdialektik vom ethischen Sollen und dem diesem Sollen entsprechenden unendlichen Prozess musste in der Tat mit einem Ende der Bewegung, mit einer Erreichbarkeit des Ziels gearbeitet werden. Der absolute praktische Rationalismus verlangte dies, er forderte ein Ende der Dialektik, bei dem wir aus den Antinomien heraus zur restlosen Widerspruchslosigkeit kommen. Die Dialektik wird auch hierbei ein Mittel zur Selbstaufbebung, sie steht ebenso im Gegensatze zur kritischen Dialektik wie die spekulative Identitätsphilosophie. Bei aller Dialektik und aller Daseinsphilosophie handelt es sich stets um verschiedene Stellungen zum Zeitproblem.[19] – Für den Historismus hat die Vergangenheit den Primat, für die Kairoshaltung die Gegenwart, für den Moralismus die Zukunft. Spekulative Identitätsphilosophie hebt alle Zeitmomente in der Ewigkeit des Absoluten auf. Was für diese die Ewigkeit bedeutet, stellt für den praktisch-absoluten Rationalismus die Zukunft dar. Zu ihren Gunsten verschwinden die anderen Zeitmodi, freilich nicht zugunsten des Moralismus und seiner ewigen Aufgabe, sondern im Sinne der Utopie, d. h. der Auszeichnung einer bestimmten Zukunft als endgültiger. Kritische Dialektik wird allen diesen Haltungen gegenüber an der Äquivalenz der Zeitmodi festhalten, vor allem an der Gleichwertigkeit der Gegenwart und der Zukunft. Bei dieser Haltung wird die Gegenwart in ihrem Getragensein von der Vergangenheit und in ihrer Produktivität für die Zukunft erfasst. In der Auszeichnung des Präsenzgedankens durch die kritische Dialektik besteht ihre Verwandtschaft zur Kairosphilosophie. Die Verschmelzung der Zeitmodi in der Identitätsphilosophie wird durch gleichwertige Zuordnung überwunden. Gegenüber der Utopie erhält die unendliche Aufgabe des Moralismus ihr Recht, aber nur ein relatives, da auch die Gegenwart unmittelbar sinnbezogene, unentwertbare Voraussetzung der Zukunft ist. Auch in der Geschichts- und Sozialphilosophie wird sich diese Haltung von spekulativer wie praktischem Rationalismus unterscheiden. Verantwortliche Entscheidung in jeder Gegenwart ohne Berechnung der Folgen des Handelns durch Naturgesetz oder rational-dialektische Methode steht im Gegensatz zur Kanonisierung der Politik eines geschichtlichen Vortrupps und zur Rationalisierung der schöpferischen Intuition.

 

[1] Siegfried Marck, Die Dialektik in der Philosophie der Gegenwart, I. Halbband, J. C. B. Mohr, Tübingen 1929, 122–134. – der Hrsg.

[2] Vgl. hierzu meine Schrift „Hegelianismus und Marxismus“, Berlin 1922.

[3] W. I. Lenin, „Materialismus und Empiriokritizismus“. Sämtl. Werke. Bd. XIII. Wien, Berlin (ohne Angabe des Jahres)

[4] Berlin 1922.

[5] Lukács a. a. 0., S. 37.

[6] A. a. O., S. 62. (Schrägdruck von Lukács)

[7] Vgl. dazu meine Schrift „Marxistische Staatsbejahung“, Breslau 1925.

[8] A. a. O., S. 28.

[9] A. a. O., S. 27.

[10] A. a. O., S. 50.

[11] A. a. O., S. 55.

[12] A. a. O., S. 22.

[13] A. a. O., S. 205.

[14] A. a. O., S. 160.

[15] A. a. O., S. 223.

[16] In einem Aufsatze über „Neukritizistische und neuhezelsche Auffassung der marxistischen Dialektik („Gesellschaft“ 1924. Heft 8) habe ich selbst diese metaphysische Deutung vorgenommen, die ich jetzt für falsch halte. In einer späteren Auseinandersetzung „Dialektisches Denker in der Philosophie der Gegenwart“ („Logos“ 1926 Jahrg. XV S. 21) habe ich drei Punkte in den Vordergrund der Kritik an Lukács gestellt 1. das Durchbauen der theoretischen Probleme durch die Praxis, 2. die Abflachung zeitloser Fragen zu zeitbestimmten soziologischen Problemen, 3. die Beibehaltung des dualistisch-platonischen Elementes in der Trennung von unmittelbarem und richtigen Klassenbewusstsein und von Tendenzen und Tatsachen. Wieweit diese Kritik aufrechterhalten bleibt, werden die folgenden Ausführungen zeigen. Die Anti-Kritik, die K. Thieme gegen meine Logos-Ausführungen gerichtet hat („Gesellschaft“ 1928, Heft 8), wird im folgenden ebenfalls implizit beantwortet. Nur ist bei den Ausführungen Thiemes die Stellungnahme zum Naturproblem bei Lukács durch Hinweis auf die proletarische Wanderbewegung der „Naturfreunde” nach meinem Geschmack allzusehr – praktische Theorie!

[17] Vgl. die Bemerkungen über Idee und Dingbegriff in E. Honigswalde „Philosophie des Altertums”, S. 172 ff.

[18] In der klassenlosen Gesellschaft würde es sich als Klassenbewusstsein natürlich aufheben. Sein erster Akt als absolut entwickelten Klassenbewusstsein: die Schaffung des Sozialismus, wäre auch sein letzter. Darin gleicht seine Rolle der des Staates bei Marx und Engels. Das Klassenbewusstsein bei Lukács hat als Träger und Vollender der Geschichte die Funktionen, die im Idealismus dem Staate zukommen.

[19] Auch rein politische Gegensätze wie Reformismus und Radikalismus zeigen diese verschiedene Einstellung der Zeit gegenüber. Denn der Reformismus arbeitet mit dem Vorrang der Gegenwart gegenüber der Zukunft, der Radikalismus zeigt die umgekehrte Einstellung, Vgl. meine Schrift „Reformismus und Radikalismus in der deutschen Sozialdemokratie. Grundsätzliches und Historisches“. Berlin 1927.