Siegfried Marck

Neukritizistische und neuhegelsche Auffassung der marxistischen Dialektik[1]

 

Das[2] Problem der marxistischen Dialektik ist in den letzten Jahren erneut in Fluss gekommen. Gegenüber ihrer Vernachlässigung durch die Mehrzahl der Schriften über Marxismus und den Angriffen gegen sie im Revisionismus, der in der Dialektik von seiner empiristischen Einstellung aus dem „Fallstrick des marxistischen Denkens“ erblickte, hat Max Adler[3] ihr wieder die von Engels betonte zentrale Rolle für die marxistische Methodik zuerteilt. Durch ihn ist eine Auffassung angebahnt worden, die die marxistische Dialektik von Hegel fort-und in die Nähe Kants rückt, die freilich auch Hegel selber in einem weniger metaphysischen und mehr kritizistischen Sinne verstehen will. Adler hat die Dialektik als eine Methode des Denkens von der sogenannten Realdialektik, die einen wirklichen metaphysischen Prozess bei Hegel bedeutet, getrennt. Damit ist allerdings die innerste Gesetzlichkeit der Hegelschen Dialektik zerbrochen, die ganz und gar auf der restlosen Identität von Denken und Sein beruht. Indem in ihr der absolute Geist denkend in seine Selbstentfremdung und Wiederversöhnung heraustritt, indem er über diese Ertappen zu seinem eigentlichen Selbstbewusstsein gelangt, wird die Bewegung in Natur und Geschichte real erzeugt. In Adlers Neumarxismus hat die dialektische Methode demgegenüber einen entmystifizierten, rein methodologischen Sinn erhalten. In diesem wird sie der Auflösung starrer dinglicher Setzungen im Denken durch ein allseitiges System von Beziehungen gleichgesetzt, also dem, was eine neuere Philosophie als „funktionalistische“ Methode der „substantialistischen“ gegenüberstellt. Sie bedeutet nicht mehr die Vereinigung metaphysischer Widersprüche oder den Versuch, das Sein mit dem schlechthinnigen Nichts in Einheit zu denken, sondern die Beziehung eines jeden Begriffs auf den ihm zugeordneten Gegensatz, die das Denken vorwärtstreibt und beflügelt.

Dialektisch ist für Adler auch der Begriff der geschichtlichen Entwicklung, die er als Differenzierung der scheinbaren Einfachheit und Integrierung der aus ihr hervorgehenden Mannigfaltigkeit auffasst. Revolutionäre Dialektik steckt für ihn ferner in dem Steten umschlagen des Gedankens in die Aktion, in dem er die Einheit von Wissenschaft und Politik und ein Spezifisches der Proletarischen gegenüber der bürgerlichen Wissenschaft erblickt.

Die Auffassung Kranolds über das Verhältnis von Marxismus und Kritizismus weist mit der Adlerschen enge Berührungspunkte auf. Auch er trennt den methodologischen Behalt der Dialektik von ihrem ontologischen. Hierbei ist die kritizistische Umformung der Dialektik von vornherein noch schärfer wie bei Adler ausgeprägt. Der ihr zu Grunde liegende Totalitätsgedanke ist sofort unter den Kantischen Gesichtspunkt der Unterscheidung des regulativen vom konstitutiven Prinzip gerückt, d. h. er wird als eine ins Unendliche weisende Aufgabe des Erkennens, nicht als ein Gegenstand der Erkenntnis aufgefasst. Wenn dabei allerdings Kranold Hegel vorwirft, dass er diesen fundamentalen Unterschied zwischen Kategorie und Idee „übersehen“ habe, so stimmt das wenig mit seiner sonstigen Einsicht in Hegels Dialektik zusammen, bei der ja gerade die bewusste Überwindung jener Kantischen Trennung eine wesentliche Einstellung ausmacht. In der kritizistischen Fassung bedeutet für Kranold die Dialektik auch in dem, was bei Hegel schon von ihr brauchbar ist, die Anwendung der Kantischen System- und Totalitätskategorie auf die geschichtliche Entwicklung. Denn diese ist als eine Ganzheit, in der die Richtung auf ein sinnhaftes Ziel die einzelne Phasen des Geschehens färbt und bestimmt, von bloßer naturhafter Veränderung unterschieden. Sie kann nur von jener übergegenständlichen, auf systematischen Zusammenhang gerichteten Einheitserkenntnis aus geistig durchdrungen werden, die ein über das Erklären von Einzelheiten hinausgehendes Verstehen einer Ganzheit ermöglicht. Der bloß kausale Zusammenhang verbindet sinnhaft isolierte Einzelereignisse in Raum und Zeit, denen Kausalität ihre Stelle in jenen Ordnungen anweist.

Dialektische und kausale Verknüpfung der Ereignisse scheinen also in scharfem Gegensatz zu stehen, die empiristische Auffassung des Marxismus bedeutet kausale gegen dialektische Geschichtsbetrachtung. Demgegenüber betont Kranold die korrelative Zusammengehörigkeit der kausalen und der dialektischen Betrachtungsweise des Geschichtlichen. Die einzelnen Ereignisse müssen als Gegenstände kausal verknüpft sein, um dann zur dialektischen, übergegenständlichen Einheit verstehend zusammengefasst zu werden. Letztgenannte ist also gegründet auf die gegenständliche Betrachtungsweise, die im Kantischen Sinne „leer“ ohne jene Beziehung auf Kausalität bleibt, während die kausale ohne Beziehung auf Dialektik „blind“ ist.

Kranold will, wie bereits oben angedeutet, nicht nur die marxistische, sondern auch die Hegelsche Dialektik selber ins Kritizistische umdeuten. Ich habe in meiner Schrift über „Kant und Hegel“[4] wie auch in der über „Hegelianismus und Marxismus“[5] im Anschluss an den Rickertschen Sprachgebrauch die „heterothetische“ Einheit des Kritizismus der „antithetischen“ bei Hegel entgegensetzt, die Einheit von Gegensätzen wie Form und Stoff, Einheit und Mannigfaltigkeit bei Kant gegenüber der Einheit von Sein und Nichtsein, Natur und Geist usw. bei Hegel. Im Kritizismus bedeutet meiner Auffassung nach die synthetische Einheit die Einheit konträrer Gegensätze, bei Hegel hingegen sollen schlechthinnige Widersprüche zur Einheit gebracht werden. In einer Polemik gegen mich versucht Kranold darzulegen, dass Hegels Einheit der Widersprüche in die Richtung der logischen Einheit des Kritizismus hindränge. Nun sollen die kritizistischen, ja die den Kritizismus zu seiner Vollendung bringenden Motive bei Hegel keineswegs geleugnet werden, ob sie aber bei ihm im Mittelpunkte oder an der Peripherie stehen, ist eine Frage, die gewiss nicht in einzelnen Hegel-Zitaten, sondern allein aus dem Geiste des Systems entschieden werden kann. Bei dieser Prüfung aber ist die nichtkritizistische Auffassung die von der Hegelschen Metaphysik geforderte. Im absoluten Geiste findet jene coincidentia oppositorum, das Zusammenfallen des Entgegengesetzten, statt, in ihm werden die Widersprüche des unmittelbaren Denkens und der Reflexion aufgehoben, ein Grundbegriff, der in der kritizistischen Synthese keine Stelle findet. Kranolds entgegengesetzte Anschauung und ihre Beziehung auf den Marxismus findet jedoch in folgendem Satze ihren prägnanten Ausdruck: „So mag Hegels Dialektik sich der Absicht nach in ihrer Grundeinstellung vom Kritizismus unterscheiden, ihrer inneren Natur nach drängt sie selbst zu Kritizismus hin und in Marx‘ Gestalt vereinigt sie sich mit ihm.“ (S. 164.) Über Adler geht Kranold noch hinaus, wenn er ausdrücklich hierbei ganz im Sinne der Philosophie des Revisionismus den Dualismus von Marx, dem Politiker, und Marx, dem wissenschaftlich Erkennenden, unterstreicht.

In diametralem Gegensatze zu den beiden bisher geschilderten Auffassungen steht Georg Lukacs. Von ihm wird  die Hegelsche Dialektik als eine Denken und Sein, Theorie und Praxis vereinigende Methode, d. h. also in ihrem ontologischen Gehalt restlos angenommen und lediglich die spiritualistische Metaphysik Hegels in den als Metaphysikverstandenen historischen Materialismus umgewandelt. Wie auch bei anderen Neukommunisten zeigt sich bei diesem Autor die von Kautsky neulich anlässlich der Rezension von Korsch (siehe „Gesellschaft“ Nr. 3, S. 306 ff.) hervorgehobene Verwandtschaft mit dem jungen Marx. Auch von Lukacs wird wie bei Kranold die Dialektik wesentlich auf das geschichtlich-gesellschaftliche Sein bezogen, aber dieses selbst wird zur wahren Wirklichkeit, zum Kern alles Seins gestempelt, wird zu dem Realen Substrat der Dialektik. Dieser Zug zur Realdialektik liegt bei Lukacs in der Konsequenz der spekulativen, durchaus auf die letzten philosophischen Zielpunkte bezogenen Fragestellung, auf die ihm der historische Materialismus antworten soll. Er wird bei ihm zu einer philosophischen Weltanschauung, ist nicht mehr heuristisches Prinzip der Forschung. In dem Kernstück seiner Essays „Die Verdinglichung und das Bewusstseins des Proletariats“ untersucht Lukacs den Begriff des philosophischen Systems  und die Unmöglichkeit seiner Entwicklung auf dem Boden der die Vollendung des bürgerlichen Bewusstseins darstellenden klassischen deutschen Philosophie. Er schildert hier sehr richtig die kritizistische Struktur als Rationalismus in den einzelnen Systemteilen bei einem irrationalen Fundament des Systems als Ganzheit, weist auf den engen Zusammenhang der nicht restlosen Rationalisierbarkeit der Erkenntnisinhalte mit dem Autonomismus der einzelnen Systemgebiete hin und zieht bei alledem die überraschende Parallele zwischen dieser Struktur und der wirtschaftlichen des Kapitalismus, der auch bei Rationalität in allem einzelnen die anarchische Zufälligkeit in der Basis der ganzen nicht überwinden kann. Den Weg aber zur Totalität der Erscheinungen, den die bürgerliche Philosophie nicht finden kann, sieht Lukacs in der Erkenntnis der „proletarischen Wissenschaft“ gewährleistet. Sie entdeckt für ihn das Geheimnis der Warenproduktion und mit ihm die Warenstruktur der gesamten bürgerlichen Gesellschaft, sie durchschaut damit die Zufälligkeiten, sie erkennt, indem sie zugleich als wirklichkeitsverändernde und -gestaltende Praxis den Menschen aus der Mechanisierung zu seiner Totalität erlöst. Denn das wahre, von der Philosophie gesuchte Subjekt-Objekt ist das im Erkennen zugleich Handelnde, im Handeln Erkennende, dessen Theorie zugleich praktisch die Wirklichkeit verändert und aus ihrer Starrheit in Bewegung und Prozess verwandelt. Ein solches Subjekt der Geschichte, das zugleich ihr Objekt darstellt, kann aber nach Lukacs nur eine Klasse sein, in der allein Beziehung auf die gesellschaftliche Gesamtwirklichkeit vorhanden ist. Indem das Proletariat als die erste ihre Beziehung auf die gesellschaftliche Totalität klar erkennende Klasse betrachtet wird, erhält es die Rolle des Hegelschen Weltgeistes, dessen Selbstbewusstsein die Geschichte vorwärtstreibt. Dieser Konstruktion sind die Gedanken von der wahren Wirklichkeit des gesellschaftlichen Seins und des daher aus ihr zu gewinnenden philosophischen Systems, der Gedanke einer erreichbaren und gegebenen Totalität der Erscheinungen, der Einheit der Theorie und Praxis zugeordnet. Von diesem Standpunkte aus muss nicht nur das bürgerliche Denken als ein Schwanken zwischen der Dualität des Utopismus und des Fatalismus angesehen, es muss auch der klassischen deutschen Philosophie einschließlich der Hegels der Vorwurf eines Stehenbleibens bei der Kontemplation gemacht werden. Hegels System scheitere daran, dass der Weltgeist immer post festum käme als ein Beschauer der Ereignisse, anstatt durch ihre aktive Formung sie seiner Subjektivität angemessen zu gestalten.

Es ist nicht schwer, den wahren salto mortale zu erkennen, mit dem Lukács die Probleme der spekulativen Philosophie und der Gesellschaftslehre zu gleicher Zeit lösen will. Er ist durch die Metaphysizierung des gesellschaftlichen Seins und die Verabsolutierung des Proletariats gekennzeichnet. Das gesellschaftliche Sein soll etwas anderes wie Hegels metaphysischer Prozess und doch kein bloßer Erfahrungszusammenhang sein, seine Entwicklungstendenzen sollen eine höhere Wirklichkeit als die Empirie besitzen. Die Auf-die-Beine-Stellung der Hegelschen Dialektik bei Marx und Engels ist, wenn auch nicht notwendig mit Empirismus, so doch mit einem Vorrang der empirischen Elemente vor den scholastisch-konstruktiven Hegels verbunden.  Lukacs will diese Auf-die-Beine-Stellung vollziehen, gleichzeitig aber auf die Metaphysik nicht verzichten und muss so bei einer materialistisch-aktivistischen Metaphysik, bei einer Mythologie des Klassenbewusstseins und bei dem Proletariat in der Rolle des Weltgeistes enden. Das Motiv, das diese merkwürdigen Wendungen bei ihm erklärt, ist, dass er die Totalität für gegeben, jederzeit erfassbar, nicht für aufgegeben hält, und dass er im historischen Materialismus nicht eine Methode, sondern eine Weltanschauung erblickt.

Das geistreiche System endet bei Lukacs mithin in Dogmatismus. Das muss auch immer dort der Fall sein, wo die dialektische Methode als die allein beherrschende der Philosophie erscheint. Sie kann nur in Verbindung mit der transzendentalen, kritizistischen Methode ihre Fruchtbarkeit entfalten. Dies haben auf dem Boden der Philosophie Denker wie Rickert, Cohen, Nicolai Hartmann erkannt, dies hat die umfassende Theorie der Dialektik in der Gegenwart bei Jonas Cohn ausgeführt. Innerhalb des Marxismus ist es das Verdienst der obengenannten Arbeiten, diese These durchgefochten zu haben. Die praktischen Konsequenzen, die im übrigen aus der kommunistischen Dialektik gezogen werden, sind uns nur allzuwohl bekannt. Das Klassenbewusstsein des Proletariats, das Lukacs meint, wird von ihm ausdrücklich als ein Idealtypus von dem empirisch-psychologischen Klassenbewusstsein abgegrenzt: d. h. nur bestimmte Handlungen und Reaktionen des Proletariats können dem  Klassenbewusstsein zugerechnet werden, dass als sein wahrhaft Wirkliches den Gang der Geschichte gestaltet. Damit ist eine theoretische Begründung der „Vortrupps“-Diktatur ermöglicht. Denn wer entscheidet in praxi über die Zurechnung des Verhaltens der Arbeiterschaft zum echten Klassenbewusstsein? Wir wissen es, dass sich die kommunistische Zentrale als der Statthalter der metaphysischen Potenz Proletariat auf Erden fühlt. Papismus und Inquisition sind der notwendige organisatorische und praktische Ausdruck eines theoretischen Absolutismus und einer dogmatischen Scholastik der Unfehlbarkeit, resp. jene Theorie ist Überbau der diktatorischen und imperialistischen Praxis. Gerade im Zurechnungsgedanken, den in der Soziologie Max Weber kritisch mit Meisterschaft handhabte, zeigt sich die gefährliche Konsequenz der Verwandlung des Regulativen und Aufgegebenen in eine Gegebenheit auch für die Praxis. So dürfte vielleicht das, was Lukács als die kleibürgerliche Gesinnung der II. Internationale ihr auf jeder Zelte vorwirft, kritische und antidogmatische Einstellung in Theorie und Praxis bedeuten.

 

[1] Die Gesellschaft. Internationale Revue für Sozialismus und Politik, J. H. W. Dietz Nachf., Berlin, September 1924 (Jg. 1, Nr. 6), 573–578. – der Hrsg.

[2] Im Anschluss an Georg Lukács: „Geschichte und Klassenbewusstsein”. (Studien über marxistische Dialektik, Berlin, Malik-Verlag 1923) und Albert Kranold: „Die Persönlichkeit im Sozialismus”. (Abschnitt über Marxismus und Kritizismus, S. 137 bis 207, Jena 1923).

[3] Max Adler, „Marxistische Probleme”, Verlag J. H. W. Dietz.

[4] Tübingen 1917.

[5] Berlin 1925.