Walter Benjamin
Bücher, die lebendig geblieben sind[1]
Was in den letzten Wochen an dieser Stelle genannt wurde, ließe sich um zahlreiche ebenso unbekannte wie bedeutende Dichtungen vermehren. Nur ist zu fürchten: je mehr derart in dieser Rubrik erscheint, desto mehr heben die einzelnen Posten einander auf. Eher wäre vielleicht der eine oder andere Name, der hier erschien, mit Nachdruck zu wiederholen. Gern tue ich das mit Robert Walsers »Gehilfe«, den Max Brod erwähnt hat, ohne zu verraten, dass dieses wundervolle Jugendwerk ein Lieblingsbuch von Franz Kafka gewesen ist. Aber vielleicht ist es im Augenblick das Angebrachteste, den Blick auf einige große Werke deutscher Wissenschaft zu lenken. Auf gelehrte Bekenntnisschriften, deren Verborgenheit in den Fachbibliotheken nur eine besondere Spielart des Vergessenseins darstellt. Für heute auf ein kunsthistorisches, ein architektonisches, ein theologisches, ein ökonomisches.
Das erste und älteste ist Alois Riegls »Spätrömische Kunstindustrie« (Wien 1901).[2] Dieses epochemachende Werk trug das Stilgefühl und die Einsichten des zwanzig Jahre späteren Expressionismus mit prophetischer Sicherheit an die Denkmäler der späteren Kaiserzeit heran, brach mit der Theorie der »Verfallszeiten« und erkannte in dem, was bisher »Rückfall in die Barbarei« geheißen hatte, ein neues Raumgefühl, ein neues Kunstwollen. Zugleich ist dieses Buch einer der schlagendsten Belege dafür, dass jede große wissenschaftliche Entdeckung ganz von selbst, auch ohne es zu prätendieren, eine Revolution des Verfahrens bedeutet. In der Tat hat in den letzten Jahrzehnten kein kunstwissenschaftliches Buch sachlich und methodisch gleich fruchtbar gewirkt.
Das Zweite: Alfred Gotthold Meyers »Eisenbauten« (Esslingen 1907).[3] Dies Buch erstaunt immer wieder von neuem durch den Weitblick, mit dem zu Anfang des Jahrhunderts Gesetzlichkeiten der technischen Konstruktion, die durch das Wohnhaus zu Gesetzlichkeiten des Lebens selbst werden, erkannt und mit kompromissloser Deutlichkeit beim Namen gerufen wurden. Wenn Riegl den Expressionismus vorwegnahm, so dieses Buch die neue Sachlichkeit. Zwanzig Jahre mussten vergehen, ehe Sigfried Giedion in einem ebenfalls ganz ungewöhnlichen Werk (»Bauen in Frankreich. Eisen und Eisenbeton«) Gleiches an einem schon reicheren, geläufigeren Tatsachenmaterial entwickeln konnte. Durchaus unvergleichlich aber ist Meyers Buch durch die Sicherheit, mit der es den Eisenbau des neunzehnten Jahrhunderts fortlaufend ins Verhältnis zu Geschichte und Urgeschichte des Bauens, des Hauses selber zu setzen weiß. Es sind Prolegomena zu einer jeden künftigen historisch-materialistischen Geschichte der Architektur.
Das Dritte: Franz Rosenzweigs »Stern der Erlösung« (Frankfurt a.M. 1921).[4] Ein System der jüdischen Theologie. Denkwürdig wie das Werk seine Entstehung in den Schützengräben von Mazedonien. Siegreicher Einbruch der Hegelschen Dialektik in Hermann Cohens »Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums«.
Das Vierte: Georg Lukács »Geschichte und Klassenbewusstsein« (Berlin 1923).[5] Das geschlossenste philosophische Werk der marxistischen Literatur. Seine Einzigartigkeit beruht in der Sicherheit, mit der es in der kritischen Situation der Philosophie die kritische Situation des Klassenkampfes und in der fälligen konkreten Revolution die absolute Voraussetzung, ja den absoluten Vollzug und das letzte Wort der theoretischen Erkenntnis erfasst hat. Die Polemik, die von den Instanzen der Kommunistischen Partei unter Führung Deborins gegen dies Werk veröffentlicht wurde, bestätigt auf ihre Art dessen Tragweite.
[1] Die literarische Welt, 17. Mai 1929 (Jg. 5, Nr. 20), 6.; aus technischen Gründen aus der folgenden Ausgabe: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, III., Suhrkamp, Frankfurt am Main 1972 – der Hrsg.
[2] Alois Riegl, Die spätrömische Kunst-Industrie nach den Funden in Österreich-Ungarn. Wien: Hof- und Staatsdruckerei 1901.
[3] Alfred Gotthold Meyer, Eisenbauten. Ihre Geschichte und Ästhetik. Nach des Verfassers Tode zu Ende geführt von Wilhelm Frh. von Tettau. Mit einem Geleitwort von Julius Lessing. Esslingen: P. Neff 1907.
[4] Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung. Frankfurt a. M.: J. Kauffmann 1921.
[5] Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik. Berlin: Malik-Verlag (1923).