Holger Politt

Georg Lukács über Rosa Luxemburg

 
Vor 125 Jahren, am 13. April 1885, begann in Budapest der Lebensweg von Georg Lukács, eines der bekanntesten und bedeutenden marxistischen Philosophen des 20. Jahrhunderts. Zur entscheidenden Wegscheide des Denkers wurde das Jahr 1917, die russische Revolution. Aus dem Sohn eines bestens situierten Budapester Bankdirektors wurde ein Kommunist, der den in Russland eingeschlagenen Weg für zukunftsfähig hielt. Er ahnte nicht, was an Stürmen, Enttäuschungen, jähen Wendungen, an Erfüllung, Anregung und Dramatik ihm diese Lebensentscheidung einbringen wird. Bis zum Schluss wird er dem Gedanken treu bleiben, dass eine sozialistische Alternative zur bürgerlichen Gesellschaft reif sei.
 
I
Als der bis dahin organisatorisch nicht mit der Arbeiterbewegung verbundene Georg Lukács in Ungarn der soeben gegründeten kommunistischen Partei beitrat, ging in Polen durch Bildung einer kommunistischen Partei die Geschichte jener sozialdemokratischen Partei zu Ende, die lange Jahre wesentlich durch die Persönlichkeit und das Wirken Rosa Luxemburgs geprägt gewesen war. Und in Deutschland stritt Rosa Luxemburg in den Tagen der Entstehung einer neuen Partei vergeblich um den Namen „Sozialistische Partei“, den sie für ausreichend hielt, um die inhaltliche und organisatorische Differenz zur alten Sozialdemokratie genügend zum Ausdruck zu bringen. Anfang Januar 1919 waren nun beide, Lukács und Luxemburg, ihrer Mitgliedschaft nach Kommunisten. Er war nie Sozialdemokrat, sie dagegen ihr ganzes bisheriges politisches Leben Sozialdemokratin.

Ähnlich wie die junge Rosa Luxemburg in den 1890er Jahren wurde der politisch unerfahrene Lukács sofort in das tiefe Wasser der Parteiarbeit einer jungen, sich berufen fühlenden Partei geworfen. Er wurde gebraucht, weil er wegen seines bisherigen und durchaus beachtlichen Schaffens den neuen Weggenossen als ein Schriftsteller galt, der etwas von bürgerlicher Gesellschaft, die endgültig zu beseitigen sich angeschickt wurde, verstehen musste. Er ging darauf ein, weil ihm nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs nichts mehr so verhasst war wie die bürgerliche Gesellschaft, der die Reste ihrer geschichtlichen Legitimität in den Schrecken des Kriegs verloren gegangen schien. Rückblickend sprach er von einem Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit, aus welchem proletarische Revolution und Marxsche Philosophie den Weg ebneten.

Als Rosa Luxemburg in Zürich für die Arbeiterbewegung ihrer Heimat zu Wirken begann, machte sie sehr schnell die Erfahrung, dass in der durch die deutsche Sozialdemokratie stark beeinflussten westeuropäischen Arbeiterbewegung weiterhin die Annahme vorherrschte, der uneingeschränkten Macht des Zarenregimes in Russland sei auch auf weitere Sicht kein innenpolitischer Gegner ausreichend gewachsen, auch das Proletariat noch nicht. Alles ordnete sie nun dem Ziel unter, nachzuweisen, dass das Proletariat im russischen Reich selbständig imstande sein werde, das Zarenregime zu stürzen und politische Freiheit zu erlangen. Dieser Überzeugung ordnete sie hartnäckig alle Tradition und alle Orientierung auf die nationale Unabhängigkeit Polens unter, die bei Marx und auch noch bei Engels eine feste Voraussetzung für die Änderungen der Verhältnisse in Russland gewesen waren. Niemand in der westeuropäischen Arbeiterbewegung verstand das Wesen der 1905 im Zarenreich ausgebrochenen Revolution besser als Rosa Luxemburg. Auf der Gründungsversammlung der KPD beschrieb sie die Revolutionen von 1905/06 und 1917 als Teile, die untrennbar einem gemeinsamen Revolutionszyklus zugehörten. Das Erreichen politischer Freiheiten durch das Proletariat und die Errichtung eines sozialistischen Systems gehörten ihr sehr eng zusammen.

Während lange Zeit in der westeuropäischen Arbeiterbewegung die Ansicht bestand, die Arbeiterbewegung in Russland müsse erst nachholen, was ansonsten in Europa größtenteils bereits erreicht worden sei, waren Luxemburg wie Lukács, beide von sehr unterschiedlichen Positionen herkommend, nach der Erfahrung des Ersten Weltkriegs, des Versagens der II. Internationale und der Ereignisse in Russland überzeugt, die Ausgangspositionen in West wie Ost stünden bei allen Unterschieden viel näher beisammen als bisher weithin angenommen. In der Konsequenz ihrer Analysen sprachen sich beide unmissverständlich für einen organisatorischen und programmatischen Neubeginn aus. In der jeweiligen Annäherung an die Bolschewiki unterschieden sie sich.
 
II
Georg Lukács wurde Anfang 1919 durch dramatische politische Umstände in den Strudel heftigster revolutionärer Ereignisse gezogen, wurde für kurze Zeit zu einem Mann der Tat. Als Mitglied des Zentralkomitees der KP und als Volkskommissar für Unterricht der Ungarischen Räterepublik (die von März bis Juli bestand) war er in vorderster Front jener Ereignisse zu finden, die von vielen damals bereits als Beginn einer sozialistischen Weltrevolution gedeutet wurden. Unter ihnen befand sich auch Lenin, der beharrlich nach einem Weg suchte, um das Fanal der Revolution von Russland nach Deutschland zu tragen.

Nach dem Ende der Räterepublik setzte bei Lukács eine Schaffensphase ein, deren prägnanter Ausdruck die 1923 in Berlin veröffentlichte Aufsatzsammlung Geschichte und Klassenbewusstsein geworden ist, die zugleich zu den bekanntesten marxistischen Schriften des 20. Jahrhunderts gehört. Später wird er diese Zeit als wichtigste Etappe seiner als „Weg zu Marx“ bezeichneten Entwicklung bezeichnen. Luxemburg und Lenin sind ihm dabei auffallende, immer wieder angesprochene Orientierungspunkte. Am Ende dieses Weges wird er „Leninist“ sein, galt der unbestrittene Führer der russischen Revolution ihm doch als derjenige, der den Weg heraus aus der bürgerlichen Gesellschaft praktisch gefunden und die dafür unerlässlichen und gültigen Grundlagen in der Organisationsfrage geschaffen hat. Das Bild Luxemburgs als „große, geistige Führerin des Proletariats“ hingegen verblasst mit der Zeit.

In dreien dieser Aufsätze führte Lukács sich näher über Luxemburg aus. Es sind dies „Rosa Luxemburg als Marxist“ (1921), „Kritische Bemerkungen über Rosa Luxemburgs Kritik der russischen Revolution“ (1922) und „Methodisches zur Organisationsfrage“ (1922). Der erste Aufsatz würdigt Die Akkumulation des Kapitals, der zweite kritisiert Paul Levi wegen der Veröffentlichung des nachgelassenen und unvollendeten Manuskripts zur russischen Revolution aus dem Breslauer Gefängnis, der dritte schließlich behauptet, Luxemburg habe sich 1903 im „Organisationsstreit der russischen Sozialdemokratie“ auf die Seite der „die Entwicklung hemmenden Richtung (der Menschewiki) gestellt“.

Die beiden Werke, mit denen die „Wiedergeburt des Marxismus theoretisch beginnt“, waren nach Lukács Die Akkumulation des Kapitals von Luxemburg und Lenins Staat und Revolution. Die „sozialdemokratischen Theoretiker“ gehörten durchweg in die „bürgerliche Wissenschaft“, da bei ihnen anders als bei Marx die „Problemgeschichte für das Problem selbst ein sachlicher und darstellerischer Ballast“ sei, etwas, was höchstens noch für Fachgelehrte interessant sei und ein „geistloses Spezialistentum“ großzüchte. Und anders als bei Luxemburg, deren Darstellung „zur Geschichte der Möglichkeit und Ausbreitung des kapitalistischen Systems“ erwachse, schließlich die Fragestellung mutig und logisch so zuspitze: Wäre das Wachstum in der kapitalistischen Produktionsweise schrankenlos, dann wäre dieselbe unüberwindlich.

Lukács war gleich Luxemburg überzeugt von der „ökonomischen Unhaltbarkeit“ des kapitalistischen Systems, aus der heraus sich die sozialen und politischen Gegensätze zunehmend verschärften. Und er zitierte aus der Heiligen Familie, jenem frühen Werk der Selbstverständigung zwischen Marx und Engels, einen Gedanken, dem die Gegenwart nun zu entsprechen schien: „Das Proletariat vollzieht das Urteil, welches das Privateigentum durch die Erzeugung des Proletariats über sich selbst verhängt“. Der sich abzeichnende Sieg der durch Lenin angeführten Revolution in Russland und die dabei eingeschlagene gesellschaftliche Richtung, die auf die schnelle Beseitigung der alten Gesellschaft und den Aufbau einer sozialistischen orientierte, waren ihm damals genügender Beweis, in der Epoche des beginnenden Untergangs der bürgerlichen Gesellschaft zu wirken. Der Rückschlag im eigenen Land durch die siegreiche Konterrevolution war ihm allerdings Bestätigung dafür, dass alle früheren Überzeugungen eines breiten Siegeszuges des Proletariats auf den kritischen Prüfstand gehörten.
 
III
Nachdem Paul Levi im Frühjahr 1921 in Deutschland aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen wurde, weil er sich der von ihm befürchteten Bolschewisierung der Partei entgegenstellte, beobachtete Lukács diesen Vorgang mit großem Interesse und legte die Unterschiede in einem Zeitungsbeitrag („Paul Levi“) so dar: Es sei eine der wichtigsten Erkenntnisse aus der Novemberrevolution in Deutschland, „dass nur ein sehr geringer Teil des Proletariats infolge des Krieges und des Zusammenbruchs revolutioniert war“. Paul Levi aber habe, als er den Parteivorsitz der Kommunistischen Partei übernahm, lediglich die „alte Politik“ fortsetzen, nämlich das „ganze Proletariat für die Idee der Revolution“ gewinnen wollen. Indem er eine „veraltetete Taktik um jeden Preis zur Geltung zu bringen“ suchte, habe Levi „innerhalb der Internationale die rechte Strömung“ gestärkt. Sein Ausschluss bedeute deswegen Bruch „mit der Vergangenheit, die nicht bereit war, sich vor der Zukunft zu beugen. So musste sie aus dem Weg geräumt werden“.

Bereits ausgeschlossen, veröffentlichte Levi Rosa Luxemburgs Gefängnismanuskript über die russische Revolution. Lukács ergriff die Gelegenheit und stellte die Organisationsfrage in den Mittelpunkt seiner Kritik. Zwar räumt Lukács ein, dass die „ehrwürdige Autorität Rosa Luxemburgs“ durch Levin in den Dienst des Kampfes gegen die Internationale und ihre Sektionen gestellt werden solle, aber er rückte auch Luxemburg in seinen Ausführung über die Organisationsfrage unzweifelhaft dorthin, wohin er zuvor bereits Levin gestellt hatte – auf die Seite der veralteten Taktik. Auch deshalb nannte er seinen Aufsatz „Kritische Bemerkungen über Rosa Luxemburgs Kritik der russischen Revolution“. Er kritisierte also weniger den Fakt der Herausgabe, vielmehr den darin offenbarten Inhalt, und schrieb diesen Inhalt Luxemburg zu, sprach also letztlich kaum von Verfälschung oder Instrumentalisierung. Ihn reizte durchaus, dass er den grundlegenden Unterschied zwischen der „alten“ und der „neuen“ Position in der Organisationsfrage herausstellen konnte („Es kommt also auf den sachlichen Gehalt der Broschüre an.“). Rosa Luxemburg war ihm dabei der alles überragende Gipfelpunkt der „alten“ Position und er war überzeugt, dass Luxemburg in der kurzen verbleibenden Zeit nach ihrer Haftentlassung dicht an die Lösung des Problems, so wie es den Kommunisten sich nun stellte, herangekommen war. Die Kritik war ihm also Mittel, ihr Werk auf seine, auf die Seite der Zukunft herüberzuholen, Levis Veröffentlichung hingegen das allerdings verfehlte Bestreben, Luxemburg für die Seite der Vergangenheit in Beschlag zu nehmen.

Zunächst einmal überschätze Luxemburg – so Lukács – den „rein proletarischen Charakter“ der russischen Revolutionen, unterschätze mithin die Stärke der „nicht-proletarischen“ Elemente außerhalb und den Einfluss der Ideologie derselben innerhalb der Arbeiterbewegung. Das führe bereits zum entscheidenden Punkt „ihrer falschen Einstellung: zur Unterschätzung der Rolle der Partei in der Revolution“. Diese Anschauungen aber folgten konsequent der „Überschätzung des organischen Charakters der geschichtlichen Entwicklung“. Luxemburg, so der Vorwurf, verweigere sich dem Avantgardemodell, der Vorstellung eines bewussten Vortrupps, der zur Führung des Proletariats in der Revolution und den Sozialismus hinein unentbehrlich geworden sei.

Lukács irrte nicht, wenn er den Gegensatz Lenin-Luxemburg „ziemlich weit in die Vergangenheit“ zurückreicht: „Bekanntlich hat Rosa Luxemburg zur Zeit des ersten Organisationsstreits zwischen Menschewiki und Bolschewiki gegen die letzteren Stellung genommen“. Nicht nur dies, Luxemburg hinderte 1903 die Sozialdemokraten aus Russisch-Polen, also die SDKPiL, an der Teilnahme auf der entscheidenden, die Organisationsfragen in den Mittelpunkt stellenden Runde des II. Parteitags der nach Konsolidierung strebenden jungen russischen Sozialdemokratie. Der unmittelbare Anlass für diese Entscheidung ergab sich zwar aus den im Vorfeld nicht zu überbrückenden Divergenzen in der Frage der nationalen Selbstbestimmung, doch auf diese Weise blieb der von Luxemburg mitgeführten Richtung in der polnischen Arbeiterbewegung der Streit zwischen den beiden sich verfeindenden Richtungen in der russischen Sozialdemokratie weitgehend erspart. Auch später ließen sich polnische Kommunisten nicht im gleichen Maße „Bolschewisieren“, wie es mit anderen „Sektionen“ der Kommunistischen Internationale geschah. Freilich darf aus dieser Tatsache nicht gefolgert werden, dass Polens Kommunisten etwa weniger zerstritten oder gar erfolgreicher gewesen wären. Sie waren es nicht.
 
IV
In seiner einzigen ausführlichen Lenin-Untersuchung Lenin. Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken (1924) stellte Lukács die Organisationsfrage in den Mittelpunkt, würdigt Lenin als denjenigen, der als erster „dieses Problem von der theoretisch zentralen und darum von der praktisch entscheidenden Seite in Angriff“ nehme. Auf den Punkt brachte es der Autor mit dieser zusammenfassenden Formulierung: „Der bolschewistische Organisationsplan hebt eine Gruppe von zielklaren, zu jedem Opfer bereiten Revolutionären aus der mehr oder weniger chaotischen Masse der Gesamtklasse heraus“. Anders jedoch Rosa Luxemburg, bei der „Organisation“ ein „Produkt der revolutionären Massenbewegung“ sei. Lukács verstand es kritisch, setzte hier das Potential seiner Analyse des Klassenbewusstseins ein, welche eben zeige, dass die im kapitalistischen System ausgebeuteten Menschen trotz zahlenmäßiger Überlegenheit in der Gesellschaft nicht zwingend auch in ebensolchen Mehrheiten zu revolutionärem Bewusstsein, geschweige denn revolutionärem Handeln gelangen müssen. Die Rezeptionsgeschichte von Geschichte und Klassenbewusstsein unterstreicht die Faszination dieser Seite seines Denkens für mehrere Generationen von Marxisten. Dass er sich, wie die Leninstudie verrät, in der Konsequenz dessen entschieden auf die Seite der Bolschewiki stellte, gehört allerdings dazu.

Der Sozialdemokratie hielt Lukács vor, den Klassencharakter der Demokratie für das Proletariat verdunkelt zu haben (These vom „Hineinwachsen in den Sozialismus“): „Da nämlich die Herrschaft der Arbeiterklasse ihrem Wesen nach die Interessen der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung vertritt, entsteht in vielen Arbeitern sehr leicht die Illusion, als ob eine reine, formale Demokratie, in der die Stimme eines jeden Staatsbürgers in gleicher Weise zur Geltung kommt, das geeignetste Instrument wäre, die Interessen der Gesamtheit auszudrücken und zu vertreten.“ Dabei werde mit der formalen Demokratie jedoch die Vermittlung der konkreten Menschen über ihre jeweilige Stellung in der Gesellschaft ausgeschaltet, werden bloße abstrakte Individuen zusammengeschaltet. Die bürgerliche Gesellschaft werde „politisch pulverisiert“. An die Stelle der formalen Demokratie müsse das Rätesystem rücken, mit dem einerseits die Macht der bürgerlichen Herrschaft strukturell gebrochen und breite Schichten der Gesellschaft aus dem Geführtsein durch die Bourgeoisie herausgerissen werden könnten. Das Rätesystem könne in keinem Falle organisch aus Mehrheitsverhältnissen der formalen Demokratie entspringen. Da „die eigentliche produktive Energie des Proletariats“ erst nach dem „Ergreifen der Staatsmacht erwachen“ könne, sei eben die ziel- und kampfbewusste Vorhut solange vonnöten. Soweit Lukács.

Die „organische“ Rosa Luxemburg hätte dieser schroffen Entgegensetzung entschieden widersprochen. Ihre Vorstellung, die russische Revolution durch einen revolutionären Prozess in weiteren europäischen Ländern zu unterstützen, wollte ohne Avantgarde auskommen.
 
V
Georg Lukács schloss diese wichtige Etappe seines Wirkens, in der er sich für immer der Arbeiterbewegung anschloss, mit politischen Thesen ab, die nach seinem Pseudonym in der illegalen Bewegung als Blum-Thesen (1928) in die Geschichte eingegangen sind, und die ihn politisch innerhalb der auf vollem Bolschewisierungskurs befindlichen Kommunistischen Internationale in eine Außenseiterrolle drängten. Ein Glücksfall für ihn, rettete er so doch höchstwahrscheinlich seinen Kopf und lange Jahre weiteren fruchtbaren Wirkens. Als politischer Emigrant kam er nach Hitlers Machtantritt in Deutschland in die Sowjetunion, arbeitete hier vorwiegend auf theoretischem Gebiet. Als er im Sommer 1941 dennoch verhaftet wurde, genügten bereits wenige Interventionen, um wenigstens nach 8 Wochen wieder freizukommen. Rückblickend sprach er davon, „durch eine der größten Verhaftungskampagnen der Welt gegangen“ und dabei erst festgenommen worden zu sein, als „die eigentlichen Momente dieser Kampagne“ keine Rolle mehr spielten.

Als Georg Lukács auf seinen Jahrhundertweg zurückschaute, verteidigte er 1970 in einem Interview mit der Wochenzeitung „Der Spiegel“ noch einmal den Rätegedanken („Das Rätesystem ist unvermeidlich“). Demokratie ist ihm dabei „ein Versuch, in dem jeweiligen Zustand die jeweilig maßgeblichen Schichten – das ist im Sozialismus die Arbeiterklasse – in Vertretung ihrer wirklichen Interessen in Bewegung zu setzen“. Für den adäquaten Ausdruck dessen hielt er nach all seinen Erfahrungen das Rätesystem, verstand dieses allerdings entschieden als Alternative zum stalinschen System. In einer Manuskript gebliebenen Untersuchung Demokratisierung heute und morgen (1968) kam Lukács noch einmal auf die Lenin-Luxemburg-Kontroverse zu sprechen. Er unterstrich, dass die Rätebewegung „überall spontan entstanden“ und sich „Schritt für Schritt zu einer immer höheren Bewusstheit erhoben“ habe. Die Lenin-Luxemburg-Kontroverse sei in der Stalin-Zeit „manipulatorisch-demagogisch entstellend ausgenützt“ worden, in dem das, was bewusstes Handeln genannt, in einem ausschließlichen Gegensatz zur Spontaneität gestellt wurde. Lenins Autorität sei dabei für diese falsche bürokratische Einstellung ausgespielt worden.

Wer Rosa Luxemburgs Überzeugung, dass es keinen Sozialismus ohne Demokratie, aber auch keine Demokratie ohne Sozialismus gebe, als komplexe Herausforderung auch in unserer Zeit ansieht, wird an Georg Lukács und insbesondere an der hier in den Mittelpunkt gestellten „linksradikalen“ Phase seines Wirkens nicht vorbeikommen. Insbesondere dann nicht, wenn in diesem Bezugspaar von Sozialismus und Demokratie der Sozialismus als derjenige Teil begriffen wird, der uns heute größere Schwierigkeit bereitet.

 
Bibliographie
 
Georg Lukács:

  • Geschichte und Klassenbewusstsein. Darmstadt und Neuwied 1970.
  • Taktik und Ethik. Politische Aufsätze I. (1918-1918). Hrsg. von Jörg Kammler und Frank Benseler. Darmstadt und Neuwied 1975.
  • Revolution und Gegenrevolution. Politische Aufsätze II. (1920-1921). Hrsg. von Jörg Kammler und Frank Benseler. Darmstadt und Neuwied 1976.
  • Organisation und Illusion. Politische Aufsätze III. (1921-1924). Hrsg. von Jörg Kammler und Frank Benseler. Darmstadt und Neuwied 1977.
  • Demokratische Diktatur. Politische Aufsätze V. (1925-1929). Hrsg. von Frank Benseler. Darmstadt und Neuwied 1979.
  • Autobiographische Texte und Gespräche. Werke. Bd. 18. Bielefeld 2005.
  • Demokratisierung heute und morgen. Budapest 1985.

 
Rosa Luxemburg:

  • Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie. In: Gesammelte Werke. Bd. 1/2. S. 422-444. Berlin 1970.
  • Zur russischen Revolution. In: Gesammelte Werke. Bd. 4. S. 332-365. Berlin 1974.
  • Die Akkumulation des Kapitals. In: Gesammelte Werke. Bd. 5. Berlin 1975.

 
Wladimir Iljitsch Lenin:

  • Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück (Die Krise in unserer Partei). In: Werke. Bd. 7. S. 197-430. Berlin 1956.
  • Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück. Eine Antwort N. Lenins an Rosa Luxemburg. In: Werke. Bd. 7. S. 480-491. Berlin 1956.

 
Drei aktuellere Publikationen/Texte zum angerissenen Problemkreis:

  • Rüdiger Dannemann: Lukács´ Lenin oder die philosophische Vision einer klassenbewussten Realpolitik. In: „Die Wache ist müde“. Neue Sichten auf die russische Revolution 1917 und ihre Wirkungen. Hrsg. Von Wladislaw Hedeler und Klaus Kinner. S. 149-166. Berlin 2008.
  • Antonia Opitz: Georg Lukács und Rosa Luxemburg. In: Rosa Luxemburg. Historische und aktuelle Dimensionen ihres theoretischen Werkes. Hrsg. Klaus Kinner und Helmut Seidel. S. 238-247. Berlin 2002.
  • Jörn Schütrumpf: Paul Levi unter den „Doppelzünglern“. Zum Titelbild: Eine Bildunterschrift in Dokumenten. In: „Die Wache ist müde“. Neue Sichten auf die russische Revolution 1917 und ihre Wirkungen. Hrsg. von Wladislaw Hedeler und Klaus Kinner. S. 80-101. Berlin 2008
  • Sozialismus und Demokratie. Georg Lukács´ Überlegungen zu einem ungelösten Problem. Hrsg. von Werner Jung und Antonia Opitz. Leipzig 2002.