Werner Jung

Die Zeit – das depravierende Prinzip

Kleine Apologie von Georg Lukács‘ Romanpoetik

 

Vorbemerkung

Als Angehöriger jener Generation, die vor einigen Jahren ein gewiefter Publizist einmal die Generation 78 genannt hat: nämlich eine Generation, die ihre entscheidenden Sozialisationsschritte – insbesondere intellektueller Art – während der 70er Jahre erlebt hat, mithin für 1968 zu jung und für den hemmungslosen Hedonismus der 80er und 90er Jahre (Stichwort: Generation Golf) wiederum zu alt war, verdanke ich, der sein Studium 1974 aufgenommen hat, der Kritischen Theorie von Adorno bis zu Habermas, vor allem aber Georg Lukács‘ Philosophie entscheidende Denkanregungen. Von hier sind allererst die Impulse ausgegangen, sich intensiver mit den Klassikern Marx, Engels und auch Lenin (samt den Vertretern des sog. ‚westlichen Marxismus‘) auseinanderzusetzen, und von hier aus – Lukács gleichsam als intellektuelles Take off-Erlebnis! – ist die kritische Beschäftigung ebenso mit der Philosophie- und Ideologiegeschichte ausgegangen, wie der in die philologischen Wissenschaften erst hineinschnuppernde Student insbesondere im Frühwerk von Georg Lukács – also in „Die Seele und die Formen“, in der „Theorie des Romans“ und in „Geschichte und Klassenbewußtsein“ – eine bis heute fortwirkende Inspirationsquelle gefunden hat. Daher mag dieser Essay auch als eine Art von Zusammenfassung und als persönlicher Rückblick (nicht nur auf Lukács, sondern auf die Beschäftigung des Verfassers mit diesem Denker) zu verstehen sein.
 

Wohl im Zusammenhang mit der Konzeption der Gesamtausgabe seiner Schriften gab der Marxist Georg Lukács schweren Herzens dem Drängen seines deutschen Lektors nach, eine Neuausgabe seiner „Theorie des Romans“, die er als 30jähriger geschrieben hatte, zu veranstalten. Das auf Juli 1962 datierte Vorwort zu dieser Neuausgabe beginnt mit der Feststellung des inzwischen 77jährigen Lukács: „Diese Studie wurde im Sommer 1914 entworfen, im Winter 1914/15 niedergeschrieben.“ (ThR, S. 5) Um in der Folge dann die Leser darauf hinzuweisen, daß das Buch „ein typisches Produkt der geisteswissenschaftlichen Tendenzen“ (a. a. O. S. 6) sei, wiewohl auch schon deutlich erkennbare Spuren einer Hegelrezeption erkennbar seinen: „Ihr erster, allgemeiner Teil ist wesentlich von Hegel bestimmt; so die Gegenüberstellung der Art der Totalität in Epik und Dramatik, so die geschichtsphilosophische Auffassung der Zusammengehörigkeit und Gegensätzlichkeit von Epopoe und Roman usw.“ (a. a. O. S. 9) Dennoch spricht Lukács wiederholt von einem „mißglückten Versuch“ (a. a. O. S. 11 u.ö.), der zwei Inkompatibilitäten zu synthetisieren beabsichtige: eine ‚linke‘ Ethik mit einer ‚rechten‘ Erkenntnistheorie. (vgl. a. a. O. S. 15) Darunter versteht er seinen Antikapitalismus, der, aus romantischen und utopischen Quellen gespeist, zugleich „mit einer traditionsvollkonventionellen Wirklichkeitsauslegung gepaart erscheint.“ (ebd.) Schließlich vergißt er am Ende seiner Selbstabrechnung auch nicht, für den modernen Leser Arnold Zweigs Lektüreeindruck anzuführen: „Arnold Zweig las als junger Schriftsteller ‚Die Theorie des Romans‘ zur Orientierung; sein gesunder Instinkt führte ihn richtigerweise zur schroffsten Ablehnung.“ (a. a. O. S. 17)

An dieser späten Einschätzung seines Frühwerks gibt es einige bedenkenswerte Punkte: zum einen unterschlägt Lukács völlig den Kontext, der zur Konzeption der „Theorie des Romans“ mit ihrem fragmentarischen Ende geführt hat, um statt dessen die Geradlinig- und Zwangsläufigkeit seiner intellektuellen Entwicklung herauszustreichen, zum anderen – und geradezu systemnotwendig – muß er die richtungsweisenden, weiterführenden Überlegungen seiner Romanpoetik herabwürdigen, weil sie kaum mehr zur geschichtsphilosophischen Orientierung, die die „Theorie des Romans“ nur raunend andeutet und die der spätere Marxist dann mit materialistischem Fleisch und einer diesseitigen Heimat zu verknüpfen weiß, passen wollen.

Dafür allerdings gießt Lukács wieder selbst viel Öl ins Feuer seiner Gegner, die unter Rückgriff auf das späte Vorwort gleich ihre Vorurteile bestätigt sehen und nach rückwärts bereits all das verlängern, was am Marxisten so übel aufstoßen mag: die Klassikerorientierung – die Traditionen des Realismus – die Vorstellung vom organischen, harmonisch geschlossenen Kunstwerk usw.

Doch schauen wir noch einmal ein wenig genauer hin! – Die ursprüngliche Absicht des jungen Lukács ist es gewesen, eine große Monographie über den seinerzeit von ihm geschätzten Dostojewski zu verfassen. In der Tat, wie von Lukács bemerkt, in der Zeit um 1914/15. So schreibt er in einem Brief, datiert auf März 1915, an den befreundeten Schriftsteller Paul Ernst: „Ich mach mich jetzt endlich an mein neues Buch: über Dostojewski (die Ästhetik ruht vorläufig). Es wird aber viel mehr als Dostojewski enthalten: große Teile meiner – metaphysischen Ethik und Geschichtsphilosophie etc.“ (Briefwechsel, S. 345) Doch schon kurze Zeit später, wiederum in einem Brief an Ernst vom 2. 8. 1915 heißt es dann: „Ich habe das Dostojewski-Buch, das zu groß war, abgebrochen. Es ist (ein) großer Essay daraus fertig geworden: Die Ästhetik des Romans.“ (a. a. O. S. 358) Neben dem „großen Essay“, der 1916 zunächst in der ‚Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft‘ erscheint, hat sich noch ein großes Konvolut an Aufzeichnungen, Konspekten und Exzerpten zu der geplanten Dostojewski-Monographie erhalten, das erst postum 1985 in Ungarn durch Christoph Nyiri ediert worden ist. Dabei hat schon Nyiri feststellen können, daß „eine gewisse Spannung“ zwischen dem fertiggestellten Teil und den Dostojewski-Aufzeichnungen besteht, die möglicherweise „mit inneren, theorieimmanenten Gründen“ zusammenhängen. (Dostojewski, S. 13) Nyiri glaubt weiterhin, wie im übrigen auch der Lukács-Schüler Ferenc Feher, an dessen Arbeiten er anknüpft, daß Lukács‘ Konzept scheitern mußte, weil er einerseits die geschichtsphilosophische Dimension nicht mit seinen metaphysisch-metapsychologischen Anschauungen recht vermitteln konnte, andererseits auch, daß Lukács zwar in Dostojewskis Oeuvre die Vorboten einer neuen Zeit und Gesellschaft zu erkennen glaubte, daß jedoch „völlig die Vermittlung zwischen geschichtlicher Wirklichkeit und geschichtsphilosophischer Konstruktion“ fehlte. (vgl. a. a. O. S. 24f.)1

Um es pointiert und mit anderen Worten auszudrücken: während die Dostojewski-Notizen zur geplanten Monographie schon in die Richtung weisen, die der Marxist dann seit 1919 einschlagen wird, was zusätzlich noch gestützt wird durch Äußerungen zu Dostojewski in dem Bändchen „Béla Bálazs und die ihn nicht mögen“ (ungar. 1918 unter dem Titel „Balázs Béla és akiknek nem kell“), schreckt Lukács am Ende der „Theorie des Romans“ ausdrücklich vor aller „geschichtsphilosophischen Zeichendeuterei“ zurück, ob und inwiefern nämlich in Dostojewskis Werken „diese neue Welt, (…), als einfach geschaute Wirklichkeit“ aufscheine. (vgl. ThR, S. 137) Noch ist sich Lukács also nicht sicher, und er beläßt es im veröffentlichten Text lediglich bei einer Theorie und Typologie des modernen Romans, den er hart bis an die Grenze der eigenen Zeit heranführt.

Im Unterschied zum offenen Ende legt sich Lukács in den weithin bekannten und oftmals perhorreszierten Anfangssätzen der „Theorie des Romans“ fest. „Selig sind die Zeiten, für die der Sternenhimmel die Landkarte der gangbaren und zu gehenden Wege ist und deren Wege das Licht der Sterne erhellt. Alles ist neu für sie und dennoch vertraut, abenteuerlich und dennoch Besitz. Die Welt ist weit und doch wie das eigene Haus, denn das Feuer, das in der Seele brennt, ist von derselben Wesensart wie die Sterne; (…).“ (ThR, S. 21) Ein idealisiertes und gewiß idyllisches Griechenbild, das Lukács aus dem deutschen Idealismus bruchlos in die eigene Zeit verlängert, bildet die geschichtsphilosophische Hintergrundfolie, vor der dann die ebenfalls numinosen, historisch eher unspezifischen Zeiten der Moderne als Ab-Fall, als Welt der Zerrissenheit und als transzendental heimat- bzw. obdachlos gewordene Zeit gedeutet werden. Sogleich kommt auch – mit Hegel zu sprechen – ‚wie aus der Pistole geschossen‘ die Kategorie der Totalität vor, die Lukács folgendermaßen definiert: Totalität „bedeutet, daß etwas Geschlossenes vollendet sein kann; vollendet, weil alles in ihm vorkommt, nichts ausgeschlossen wird und nichts auf ein höheres Außen hinweist; (…) Totalität des Seins ist nur möglich, wo alles schon homogen ist, bevor es von den Formen umfaßt wird; wo die Formen kein Zwang sind, sondern nur das Bewußtwerden, nur das Auf-die-Oberfläche-Treten von allem, was im Inneren des zu Formenden als unklare Sehnsucht geschlummert hat; (…).“ (a. a. O. S. 26) Ausdruck dessen ist – in der Verlängerung der Hegelschen Ästhetik – das antike Epos als paradigmatische Form des Weltgestaltens. (vgl. a. a. O. S. 27)

Im Unterschied nun zur klassischen Antike existiert in der Moderne kein transzendentales Obdach mehr – bzw.: der Mensch hat mit dem Eintritt in seine befristete (Lebens-)Zeit zugleich wieder seine Heimat verloren. Der moderne Mensch befindet sich in der paradoxen Situation, die Lukács in einer terminologischen Gemengelage aus lebensphilosophischen, existenzphilosophischen, klassisch-idealistischen und soziologischen Reflexionen beschreibt, daß in dem Maße, wie im Prozeß des neuzeitlichen Rationalismus und einer sich dazu komplementär entwickelnden bürgerlich-kapitalistischen Wirtschaft und Gesellschaft (Um-)Welt und Wirklichkeit angeeignet und ‚gesichert‘ werden, diese doch zunehmend in der Lebenszeit der Menschen wieder ihre Bedeutung als verläßliche Orientierungsbojen verlieren. Hierin nun, so scheint mir, steckt – wiewohl zugegebenermaßen kryptisch – die These von Lukács‘ „Theorie des Romans“: Denn der Roman, diese bürgerliche Epopoe, stellt die künstlerisch-literarische Form dar, die in ihrer Entwicklung – einem permanenten Werden, wie noch neuere Theoretiker und Narratologen bemerken – den Zustand von Geschichte und Wirklichkeit reflektiert – und nicht bloß: widerspiegelt. Kunst ist Konstruktion – der Roman, so Lukács durchgängig in seinem Essay, nur „eine erschaffene Totalität, denn die naturhafte Einheit der metaphysischen Sphären ist für immer zerrissen.“ (a. a. O. S. 29) Zugleich lehnt er den Gedanken der Utopie strikt ab; alle Versuche „einer wahrhaft utopischen Epik“ müßten scheitern, weil sie eben über die Empirie hinausgingen. (vgl. a. a. O. S. 37)

Komplementärbegriff zur Totalität bzw. zum Geltungsverlust der Totalität in der modernen Welt ist für Lukács das „problematische Individuum“, d. h. die Verfaßtheit eines Ichs, das sich nicht länger souverän seiner selbst bewußt ist und in seiner Lebenswelt zu situieren weiß, sondern das sich stets auf die Probe zu stellen hat, sich herausfinden und überprüfen muß. Die Protagonisten der Romane werden als Suchende vorgestellt. (vgl. a. a. O. S. 51) „Der Roman ist die Epopoe eines Zeitalters, für das die extensive Totalität des Lebens nicht mehr sinnvoll gegeben ist, für das die Lebensimmanenz des Sinnes zum Problem geworden ist, und das dennoch die Gesinnung zur Totalität hat.“ (a. a. O. S. 47) Diese problematische Konstellation führt dazu, daß zwei typische Erscheinungsweisen des neueren Ichs der Verbrecher auf der einen, der Wahnsinnige auf der anderen sind (vgl. a. a. O. S. 51) – womit Lukács mit kühnem Blick, aber doch einer gewissen Berechtigung dominante Entwicklungstendenzen des Romans wahrgenommen hat; denn im Grunde genommen zieht sich eine breite Spur von Outcasts, Underdogs und Verlierern, die man unter den Rubriken Wahnsinniger und Verbrecher typologisch fixieren kann, durch die nationalen Literaturgeschichten spätestens seit dem Ende der Aufklärung: von Jean Paul und E. T. A. Hoffmann und Kleist über Balzac, Dickens und Eugène Sue bis zu Zola und Dostojewski, um nur in dem von Lukács abgesteckten Zeitraum zu bleiben. Tatsächlich kennt das Epos beide Figuren – sozusagen in Reinform –  noch nicht, weil es, wie Lukács formuliert, „entweder die reine Kinderwelt“ oder aber „die vollendete Theodizee“ darstellt, wohingegen Wahnsinn und Verbrechen „Objektivationen der transzendentalen Heimatlosigkeit“ sind: „der Heimatlosigkeit einer Tat in der menschlichen Ordnung der gesellschaftlichen Zusammenhänge und der Heimatlosigkeit einer Seele in der seinsollenden Ordnung des überpersönlichen Wertsystems.“ (a. a. O. S. 52)

An anderer Stelle spricht Lukács gar davon, daß die Entstehung des epischen Individuums, des Romanhelden also, an die „Fremdheit zur Außenwelt“ (a. a. O. S. 57) gebunden ist. Im Blick auf die Individualität heißt das weiter: sie muß sich auf sich selbst besinnen (vgl. ebd.) – der Held müsse, wie sich Lukács einmal in anderen Zusammenhängen ausgedrückt hat, dabei Friedrich Schlegel ins Visier nehmend, aus Eigenem Eigenes bauen (vgl. SF, S. 28). Damit ist auch die Einsamkeit des modernen, bürgerlichen Individuums und Subjekts gesetzt; Lukács spricht folglich vom „Sich-auf-sich-selbst-Besinnen der einsamen und verirrten Persönlichkeit.“ (a. a. O. S. 57) Schließlich lautet das zusammenfassende Resümee: „Kontingente Welt und problematisches Individuum sind einander wechselseitig bedingende Wirklichkeiten. Wenn das Individuum unproblematisch ist, so sind ihm seine Ziele in unmittelbarer Evidenz gegeben, und die Welt, deren Aufbau dieselben realisierten Ziele geleistet haben, kann ihm für ihre Verwirklichung nur Schwierigkeiten und Hindernisse bereiten, aber niemals eine innerlich ernsthafte Gefahr. Die Gefahr entsteht erst, wenn die Außenwelt nicht mehr in bezug auf die Ideen angelegt ist, wenn diese im Menschen zu subjektiven seelischen Tatsachen, zu Idealen werden.“ (a. a. O. S. 67f.)

Hiermit ist implizit die Typologie jener Romanformen vorgezeichnet, die Lukács im zweiten Teil seiner Theorie entwirft. Denn das Verhältnis von Ich und Welt, dem problematischen Individuum und den vorgefundenen gesellschaftlichen Verhältnissen läßt sich auch als „Zwiespalt von Sein und Sollen“ umschreiben (vgl. a. a. O. S. 71), damit aber als ein letzten Endes niemals aufhebbares Problem: „nur ein Maximum an Annäherung“, schreibt Lukács, „ein ganzes tiefes und intensives Durchleuchtetsein des Menschen vom Sinn seines Lebens ist erreichbar.“ (ebd.) Wo diese Erkenntnis dann reift und greift, setzt sich als künstlerisches Darstellungs- bzw. Gestaltungsprinzip im modernen Roman die Ironie durch. „Die Ironie des Dichters“, so definiert Lukács das seit Friedrich Schlegel und Sören Kierkegaard im 19. Jahrhundert verbreitete und heftig befehdete, weil mit Willkür und Subjektivismus assoziierte Phänomen, „ist die negative Mystik der gottlosen Zeit: eine docta ignorantia dem Sinn gegenüber; (…) und die tiefe, nur gestaltend ausdrückbare Gewißheit in diesem Nicht-wissen-Wollen und Nicht-wissen-Können das Letzte, die wahre Substanz, den gegenwärtigen, nichtseienden  Gott in Wahrheit getroffen, erblickt und ergriffen zu haben. Deshalb ist die Ironie die Objektivität des Romans.“ (a. a. O. S. 79) In den letzten Zeilen des ersten Teils seiner Theorie erteilt Lukács dem Roman durch die Ironie seine höchsten Weihen, weil durch sie der Roman gerade „zur repräsentativen Form des Zeitalters“ werde, „indem die Aufbaukategorien des Romans auf den Stand der Welt konstitutiv auftreffen.“ (a. a. O. S. 82)

Während der erste Teil vor allem in der Philosophie und auf kulturkritische Reflexionen späterer Dezennien gewirkt hat, haben sich vom zweiten Teil der „Theorie des Romans“ insbesondere Literaturwissenschaftler und Narratologen inspirieren lassen. Lukács‘ Idee oder – durchaus im naheliegenden Bergsonschen Sinne – Basisintuition ist, daß es nacheinander zwei ‚Reinformen‘ gibt, in denen sich die moderne Romanentwicklung spiegelt: und zwar anhand des Verhältnisses von – hegelisch gesprochen – Subjekt und Objekt, von – nun in der Terminologie der Jahrhundertwende – Seele und Außenwelt. Es existiere nämlich a limine, so konstatiert Lukács, eine „Unangemessenheit“: „die Seele ist entweder schmäler oder breiter als die Außenwelt, die ihr als Schauplatz und Substrat ihrer Taten aufgegeben ist.“ (a. a. O. S. 83) Das drücke sich dann wieder typologisch in den Formen des Romans aus, die Lukács als „abstrakten Idealismus“ einerseits und „Desillusionsromantik“ andererseits bezeichnet. Wobei für den einen, historisch zuerst auftretenden Typ des abstrakten Idealismus „Don Quichotte“ das fortlaufende Muster abgibt, für den – in etwa – seit Mitte des 19. Jahrhunderts auftretenden Typ der Desillusionsromantik dagegen Gontscharows „Oblomow“, ganz besonders aber Flauberts „Education Sentimentale“.

Das Muster, das Lukács‘ Typologie zu erkennen glaubt, besteht darin, daß zunächst die ‚Seele‘ des Protagonisten – Sammelbegriff für Psyche, Intellekt und wohl auch Persönlichkeit – mit abstrakten, unangemessenen und historisch überkommenen

(Ideal-)Vorstellungen handelnd ins Geschehen der Außenwelt eingreifen möchte und dabei auf groteske Weise zuwiderhandelt, wie eben Don Quichotte im Kampf mit den Windmühlen oder auch noch Balzacs unermüdlich um die Geldtöpfe rivalisierende Protagonisten. Hierbei ist die Seele zu eng, wohingegen sie dann bei der Desillusionsromantik wiederum zu breit ist, was seinen Ausdruck in einer resigniert-enttäuschten Haltung des ‚zu-spät‘ findet, in der Ansicht, daß es – auch und insbesondere nach den ernüchternden Erfahrungen, die der Bildungs-, Erziehungs- und Entwicklungsroman gezeigt habe – keine Möglichkeit mehr gebe, in den Lauf der Dinge und (Real-)Geschichte verändernd, ja überhaupt tätig einzugreifen. Seinen sinnlich-plastischen Ausdruck dafür liefert „das ewige, hilflose Liegenbleiben Oblomows.“ (a. a. O. S. 106)

Damit sind wir auch bei den bahnbrechenden und weiterwirkenden Erkenntnissen der „Theorie des Romans“ angekommen. Lukács greift, um die eminente Bedeutung Flauberts und vor allem von der „Education Sentimentale“ herauszustellen, auf Bergsons Zeitphilosophie zurück, die es Lukács erlaubt, die von Hegel verabschiedete Kunst und deren höchste Bestimmung im Blick auf den modernen Roman zu restituieren, ja allererst neu zu begründen. „Die größte Diskrepanz zwischen Idee und Wirklichkeit“, so leitet Lukács mit grundsätzlichen theoretischen Reflexionen die nachfolgende Interpretation Flauberts ein, „ist die Zeit: der Ablauf der Zeit als Dauer. Das tiefste und erniedrigendste Sich-nicht-bewähren-Können der Subjektivität besteht weniger in dem vergeblichen Kampfe gegen ideenlose Gebilde und deren menschliche Vertreter, als darin, daß sie dem träg-stetigen Ablauf nicht standhalten kann, daß sie von mühsam errungenen Gipfeln langsam aber unaufhaltsam herabgleiten muß, daß dieses unfaßbar, unsichtbar-bewegliche Wesen ihr allen Besitz allmählich entwindet und ihr – unbemerkt – fremde Inhalte aufzwingt. Darum ist es, daß nur die Form der transzendentalen Heimatlosigkeit der Idee, der Roman, die wirkliche Zeit, Bergsons ‚durée‘, in die Reihe seiner konstitutiven Prinzipien aufnimmt.“ (a. a. O. S. 107)

Lukács, der in diesem Zusammenhang auch noch auf seinen preisgekrönten Erstling, die „Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas“ (ungar. 1912; dt. postum 1981), verweist und hiermit zugleich auf eigene literatursoziologische Überlegungen („Zur Theorie der Literaturgeschichte“, ungar. 1910, dt. postum 1973), knüpft an verschiedene Arbeiten Bergsons an, in denen dieser – wie zeitnah etwa erst wieder in den verschiedenen Vorträgen unter dem Titel „Die Wahrnehmung der Veränderung“ (1911) – gegen die gewöhnlichen Zeitvorstellungen mit dem Hinweis auf die innere Zeit als Dauer argumentiert: „Es gibt eines allein, die konstitutive Melodie unseres inneren Lebens – eine Melodie, die vom Anfang bis zum Ende unserer bewußten Existenz unteilbar weitergeht und weitergehen wird. Und das ist unsere Persönlichkeit.“ (Bergson 1946. S. 169) Diese innere Zeit sei dasjenige, „was man immer die Zeit genannt hat, aber die Zeit als unteilbar wahrgenommen.“ (a. a. O. S. 170) Natürlich existiert ‚im Raum‘ das ‚Vor‘ und das ‚Nach‘ im Sinne einer „klare(n) und deutliche(n) Unterscheidung von Teilen, die scharf gegeneinander abgegrenzt sind.“ Und wir halten uns auch, so Bergson weiter, „für gewöhnlich“ „in der verräumlichten Zeit“ auf. Doch die wahre Dauer steckt im „ununterbrochene(n) Rauschen unseres tieferen Lebens.“ (vgl. ebd.)

Man könnte Bergsons Metaphysik der Zeit – mindestens im Blick auf die Lukácssche Rezeption – auf die schlichte Entgegensetzung von subjektiver, erlebnishafter Zeit und objektiver, meßbarer Zeit(ordnung) hin verknappen und zuspitzen, weil Lukács genau darin den Vorwurf für die Desillusionsromantik schlechthin erkennt. Gilt bereits allgemein, daß die Zeit erst dann „konstitutiv werden (kann), wenn die Verbundenheit mit der transzendentalen Heimat aufgehört hat“ (ThR, S. 108), wenn wir also unser Paradies – wo auch immer dies gewesen sein mag – verloren haben, so verschärft sich die Situation seit Mitte des 19. Jahrhunderts noch dramatisch. Ja, wenn, wie Lukács im Einverständnis mit Hegels Bemerkungen über den Roman glaubt, „die ganze innere Handlung des Romans (…) nichts als ein Kampf gegen die Macht der Zeit (ist)“, so bildet in der Desillusionsromantik – post Hegel und mit Bergson – nun die Zeit sogar „das depravierende Prinzip.“ (a. a. O. S. 109) Die Konsequenz daraus hat Gustave Flaubert – und deshalb beginnt mit und in ihm die eigentliche „Prosa der Moderne“ (Peter Bürger), in deren Spuren sich Proust, Joyce, V. Woolf, Musil oder Th. Mann weiterbewegen – gezogen, indem er das Romangeschehen ganz in den Innenraum der Protagonisten zurückverlegt oder –gestaut hat, in jene innere Zeit also, die dem äußeren Strömen und Verfließen – einem „ungehemmten und ununterbrochenen Strömen“ (ThR, S. 111) in einer „in heterogene, morsche und fragmentarische Teile“ zerfallenden äußeren Wirklichkeit (a. a. O. S. 118) – versucht mit den beiden Existenzialien „Hoffnung“ und „Erinnerung“ Paroli zu bieten. Diese beiden nämlich sind für Lukács eminente subjektive „Zeiterlebnisse“ – und zwar solche, „die zugleich Überwindungen der Zeit sind: ein Zusammensehen des Lebens als geronnene Einheit ante rem und sein zusammensehendes Erfassen post rem.“ (ebd.) Wobei man sogleich hinzufügen sollte, daß Lukács hier nicht an die gewöhnliche Tradition des Epiphanie-Gedankens anknüpft – allenfalls noch modo negativo, um Überlegungen Karl Heinz Bohrers zum emphatischen Augenblick in modern-postmoderner Literatur mit, wie es bei Bohrer heißt, „abnehmender Repräsentanz“ ins Spiel zu bringen (vgl. etwa Bohrer 2004. S. 261 u.ö.). Denn auch für Lukács handelt es sich im Rückgriff auf Flaubert um banale Empfindungen (das schönste Erlebnis, von dem die Helden der „Education“ ständig schwadronieren und das ja tatsächlich ein Nicht-Erlebnis ist!), die da im gelebten Augenblick ‚plötzlich‘ aufblitzen: „Und dieser Augenblick ist so reich von der zugleitenden und hinweggleitenden Dauer, als deren Stauung er einen Moment des bewußten Schauens bietet, daß sich dieser Reichtum auch dem Vergangenen und Verlorenen mitteilt, ja damals unbemerkt Vorbeigegangenes mit dem Wert des Erlebens ziert. So ist, in merkwürdiger und melancholischer Paradoxie, das Gescheitertsein das Moment des Werts; das Denken und Erleben dessen, was das Leben versagt hat, die Quelle, der die Fülle des Lebens zu entströmen scheint. Es ist die völlige Abwesenheit jeder Sinneserfüllung gestaltet, aber die Gestaltung erhebt sich zur reichen und runden Erfülltheit einer wirklichen Lebenstotalität.“ (a. a. O. S. 112f.)

Ein Augenblick, aus dem und nach dem eben nichts mehr folgt, sondern nur sich der gewöhnliche Alltag – zumeist unterhalb der bewußten Aufmerksamkeitsschwelle – wieder einpendelt. Mit geradezu divinatorisch anmutendem Weitblick hat Lukács in Flauberts Roman Momente wahrgenommen, die sich allererst in der Weiterentwicklung der Gattung für die breite Leserschaft sichtbar zeigen. Jahre bevor Proust seine ebenfalls an Bergsons Zeitphilosophie orientierte Recherche mit der Idee von der ‚memoire involontaire‘ abschließt und Thomas Mann in der Zauberberg-Welt der abgeschiedenen Davoser Berge alle gängigen Zeit-Diskurse durchdekliniert, verdeutlicht bereits Lukács‘ „Theorie des Romans“ die Signaturen der Moderne, die um den Problemkreis von Zeitwahrnehmung und –gestaltung, um die Asynchronie von subjektiver und objektiver Zeit, von „Erlebnis und Dichtung“ gravitieren – um hier mit dem Titel des einflußreichsten Essaybandes von Lukács‘ Berliner Lehrer Wilhelm Dilthey zu sprechen. Das Erlebnis nämlich, das den modernen Dichter prägt und dem Lukács in seiner Essaysammlung „Die Seele und die Formen“ im Blick auf Stefan George nachgespürt hat (vgl. SF, S. 117-133), ist die Einsamkeit – die Einsamkeit des sensiblen Intellektuellen zumal, der Entfremdung und Vermassung, Kontingenz und Neurasthenie, die Beschleunigung der ‚objektiven Kultur‘ (Georg Simmel) und die dazu diskrepanten Vermögen des Subjekts am eigenen Körper verspürt.

An vorderster Front befindet sich der moderne Zeitroman; er gestaltet sozusagen die Pointe des gesellschaftlichen Seins, auf der das Subjekt, das moderne bürgerliche Individuum, nachdem es in der bisherigen Historie alle Spiel– und Gestaltungsmöglichkeiten ausprobiert hat, sich wieder ganz auf sich selbst besinnt und in den passiven Erlebnis-Begegnis-Innenraum zurückzieht. Erzählerischer Möglichkeiten gibt es eine Vielzahl, die von den Formen des Komischen über das Stilmittel der Ironie (Mannscher Herkunft oder Musilscher Provenienz) bis zu beinharten Realismen (vom ‚Nouveau Roman‘ zum ‚Neuen Realismus‘ der Kölner Schule) reichen, die allesamt jedoch – ästhetisch spielerisch – auf die Depravation der Zeit antworten. Ein modernes Märchen wie der Kinder- und Jugendbuchklassiker „Momo“ von Michael Ende, in dem die „seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte“ (wie der vollständige Untertitel lautet), erzählt wird, geht voran, und ein nicht minder verbreiteter populärer historischer Abenteuerroman wie „Die Entdeckung der Langsamkeit“ von Sten Nadolny gibt die Antwort: daß auf die rasante Beschleunigung, die als Grundzug der Moderne angesehen werden muß, eine Rückbesinnung auf die eigene Zeit, die „Eigenzeit“, wie es bei der Soziologin Helga Nowotny heißt, erfolgen müsse.

Man mag vielleicht eine andere Begrifflichkeit vorziehen und, wie z. B. Silvio Vietta in seiner transzendentalen Texttheorie, die sechs verschiedene Textualitäten unterscheidet, von einer „Textualität der Reflexion“ sprechen, die „die literarische Moderne im Zeichen der Erfahrung der Ichkrise, des Metaphysikverlustes, der Verdinglichung der Natur und der Übermacht der Rationalität“ geprägt hat. Im Mittelpunkt steht jedoch freilich auch hier wieder der Umgang mit der Zeitlichkeit, genauer: die Ermittlung und (Neu-)Positionierung eines Subjekts, dessen „dezentrierte Icherfahrung“2 allererst bewältigt werden muß. Und es fehlt auch bei Vietta am Ende nicht der schamhaft in eine Fußnote gebannte Hinweis auf die Bedeutung der „Theorie des Romans“ „des frühen, noch undogmatischen Georg Lukács.“3 (a. a. O. S. 63)

Die Lukácssche Spur zieht sich implizit wie teils ganz explizit durch neuere und neueste Arbeiten, die sich im Umfeld der Narratologie, literaturtheoretischer und gattungspoetologischer Überlegungen wie auch literarhistorischer Monographien zur Geschichte des Romans ganz allgemein bewegen.

Der Kölner Schriftsteller Dieter Wellershoff legt 1988 – auf Poetikvorlesungen an den Universitäten Paderborn und Essen zurückgehend – seine Geschichte des modernen Romans unter dem programmatischen Titel „Der Roman und die Erfahrbarkeit der Welt“ vor, in der er die Romanentwicklung von Cervantes bis zu Thomas Pynchon als Geschichte einer fortschreitenden Entgrenzung unserer Wahrnehmung, als Enttabuisierung und Probefeld menschlicher Erfahrungsräume entziffert. Mehrfach bezieht er sich dabei auf Georg Lukács und spricht anläßlich seiner Beschäftigung mit der Proustschen Recherche, dabei die Lukácssche Interpretation des Desillusionsromans verlängernd, von der Kunst und der Literatur als den „einzigen Gegenmächte(n) gegen die Furie des Verschwindens: die Zeit. Denn nur in ihnen kann es eine Gegenwart des Nichtgegenwärtigen geben, die dem tödlichen Verfall im Zeitstrom widersteht.“ (Wellershoff 1988. S. 174)

Der in Osnabrück tätige Germanist und Literaturwissenschaftler Jürgen H. Petersen veröffentlicht 1991 seine umfassende Monographie „Der deutsche Roman der Moderne. Grundlegung – Typologie – Entwicklung“, worin, dem Untertitel entsprechend, ebenso eine Poetik der Gattung wie deren Historie seit 1900 vorgestellt wird. Auf breitem materialen Untergrund und in zahllosen Detailinterpretationen wird u. a. die These herausgearbeitet, daß im Fortgang von der Moderne zur Postmoderne der Roman der Wirklichkeit, wie sich Petersen ausdrückt, vollends zum Roman der Möglichkeiten – mit „einer variablen Offenheit“ – weiterentwickelt.4 Obwohl der ausdrückliche Bezug auf Lukács fehlt und ein – sich auf die Frankfurter Schule und den jungen Lukács gleichermaßen beziehender – Autor wie Peter Bürger von Petersen ausdrücklich zurückgewiesen wird5, ist doch der diagnostische Ausgangspunkt im Grunde genommen exakt derselbe: „Der Mensch“, so Petersen in der „Grundlegung“ seiner Untersuchungen, „kann seiner selbst nicht mehr sicher sein.“6 Demzufolge bestehe die Wahrheit der Welt auch nurmehr „in der reinen Möglichkeit.“7

Eine ebenfalls beeindruckende Monographie hat Viktor Žmegač 1990 unter dem Titel „Der europäische Roman. Geschichte seiner Poetik“ abgeliefert, in der dem jungen Lukács vor dem Hintergrund der Darstellung der Hegel-Nachfolge einige Seiten gewidmet sind und Žmegač die „anhaltende Wirkung“ der „Theorie des Romans“ herausstreicht – nicht zuletzt aufgrund der Wirkmächtigkeit des Begriffs der Kontingenz als zutreffender Beschreibung für den Zustand der modernen, bürgerlich-kapitalistischen Welt.8

Und in den zu Einführungszwecken geschriebenen Abhandlung „Der Roman“ von Christoph Bode, die vor allem eine narratologische Beschreibung der Gattung darstellt, wird im letzten Kapitel, das dem Ende des Romans und der Zukunft einer Illusion gewidmet ist, neben Vertretern der Frankfurter Schule ebenso auf Lukács‘ „Theorie des Romans“ zurückgegriffen. Insbesondere die Sinnstiftungsfunktion, die dem Roman in einer Welt transzendentaler Heimatlosigkeit zukommt, verlängert Bode in ganz aktuelle Zustände und postmoderne Überlegungen hinein. Dabei ist es nicht denknotwendige Voraussetzung, daß die Welt sinnvoll ist; Erzählen braucht „nur den Impetus, etwas (nicht gleich die ganze Welt) sinnvoll zu machen.“9 Ja, radikaler noch: je nachdrücklicher und unabweisbarer Kontingenz in der Realität und im Leben erfahren werden und entsprechend verarbeitet werden müssen, um so notwendiger erscheint Bode die Form des Romans, der die Möglichkeiten umkreist, „wie Sinn in die Welt gebracht wird“, d. h. für Bode weiterhin: „die paradoxe Spannung zwischen Kontingenz und ‚Halt‘ immer wieder aufzubauen, die Haltlosigkeit des Sehnens nach einer narrativ vermittelten Illusion von existentieller Geborgenheit zu erweisen, im selben Zuge wie er durch seine Bearbeitung als völlig legitim anerkennt.“10 Als letzte Äußerung schließlich seiner Abhandlung fixiert Bode den Zweck des Romans folgendermaßen: „Selbstbegegnung im Medium eines Anderen zu ermöglichen – Erfahrung; die, um als sinnvoll verstanden und empfunden zu werden, aber wiederum in eine Erzählung einzubetten wäre.“11 Dies nennt Bode auch „Neuheitserfahrung“12, ein Begriff, auf den man mühelos wieder Lukács‘ Idee vom Aufbau, der Konstruktion einer ästhetischen, transzendentalen Heimat bzw. einer (wie auch immer ironisch gebrochenen) Totalität rückprojizieren kann, die – more aesthetico und in den Worten Dieter Wellershoffs – eine Antwort auf die Situation in einer „offenen, sich entgrenzenden Welt“ (Wellershoff 1988. S. 17)13 darstellt.

Bleibt noch, auf den ambitionierten Versuch des Düsseldorfer Literaturwissenschaftlers Hans-Georg Pott hinzuweisen, der im expliziten Anschluß an Lukács, dessen „Theorie des Romans“ „immer noch die avancierteste und anspruchsvollste Verständigung über den modernen Roman darstellt“14, eine ‚neue Theorie des Romans‘ beabsichtigt – und zwar eine solche, die vor allem das von Lukács Ausgegrenzte in den Blick nimmt, das sich mit vier Autorennamen verbindet: Sterne, Jean Paul, Joyce und Arno Schmidt. Durchaus in Übereinstimmung mit Lukács (und der dahinterstehenden Geschichtsphilosophie, die freilich bei Pott phänomenologisch gemildert wird) spricht der Literaturwissenschaftler vom „Zusammenhang von Lebensformen und den Formen des Romans“15 und weiterhin noch davon, daß „(j)ede bedeutende Romantheorie (…) integrativ immer auch eine zeitgebundene ‚Welttheorie‘ (ist), denn der Roman ist die Prosaform mit der extensivsten Weltbeziehung; das heißt, im Roman kann alles zur Sprache kommen, was der Fall ist, was der Fall gewesen ist, sein wird oder sein könnte.“16 Der Roman, so Pott grundsätzlich, „produziert die Welt als (subjektive) Vorstellung“17 – immer wieder neu und anders, weil er, wie es noch jüngst einer der Gebildetsten unter seinen Verächtern, Heinz Schlaffer, in einem Essay formuliert hat, stets „der Gegenwart zugewandt“ ist: „seine Erscheinung ist immer Neuerscheinung.“18 Ausgezeichneter ‚Chronotopos‘, um die Formulierung Michail Bachtins zu gebrauchen, sei dabei die „alltägliche Lebenswelt“ der Protagonisten19, wodurch Pott – unter Rückgriff auf Husserlsche Überlegungen – zugleich glaubt, sich wieder von Lukács zu unterscheiden. Weiterhin gibt Pott dann auch die Begriffe des ‚problematischen Individuums‘ und vor allem der ‚Totalität‘ preis, in der er „keine lebenspraktische Relevanz“ zu erkennen vermag, ja, schlimmer noch: in der er geradezu eine „Todeskategorie“ sieht.20 Statt dessen bringt Pott den Begriff einer Phänomenologie der spielenden Subjektivität in Anschlag, um darunter die Bemühungen und Leistungen des modern-postmodernen Romans zu subsumieren.21 Insgesamt visiert er eine Theorie des Romans an, die „reiner Phänomenalismus“22 sei.

Abgesehen nun von der Schwierigkeit, wie man einen reinen Phänomenalismus zur Theorie küren kann, ist Potts Preisgabe von Lukács‘ zentralen Kategorien vor dem Hintergrund der verzerrten Aneignung durch den Stalinismus (und durch die Theoreme des sozialistischen Realismus) zwar überaus nachvollziehbar, zwingend und denknotwendig scheint dies allerdings nicht zu sein. Denn ist nicht auch das, was Pott unter der Formulierung von der Welt als subjektiver Vorstellung im Roman begreift, der (unverzichtbare) Versuch, Sinn und Kohärenz herzustellen – mithin: eine Totalität von begrenzter – möglicherweise strikt auf den eigenen Leib und die unmittelbare Lebenswelt bezogener – Reichweite zu kreieren? Der seit den 70er Jahren – nicht nur in der deutschen Literatur – grassierende Boom einer (auto-)bigoraphischen Prosa, strukturell gekoppelt häufig noch mit dem poetologischen Vorsatz, einen Zeitroman zu erzählen, bestärkt diese Vermutung.

Es bleibt ganz gewiß eine der gewichtigsten Einsichten der „Theorie des Romans“, die auch der spätere unnachsichtigste Kritiker, der Marxist Lukács, als Verdienst seines frühen Essays hervorgehoben hat: die Bestimmung der Rolle der Zeit. Was Lukács dabei anhand der Flaubertschen „Education“ grundsätzlich über den Typus des Desillusionsromans bzw. der Desillusionsromantik zum Ausdruck bringt: „die neue Funktion der Zeit im Roman auf Grundlage der Bergsonschen ‚durée‘“ (ThR, S. 8), liefert einen Rahmen, um die nachfolgenden internationalen Romanentwicklungen – im Grunde genommen bis heute! – besser zu verstehen.

Oder – anders ausgedrückt und polemisch zugespitzt: der Desillusionsroman ist und bleibt wohl der letzte Typus des modern-postmodernen Romans, der, wie modifiziert auch immer, unser perennierendes „Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit“ (Lukács via Fichte) zeitgemäß zum Ausdruck zu bringen in der Lage ist. Daran müssen wir uns erinnern, darauf dürfen wir weiter hoffen. Wie hieß es noch gleich bei Lukács? – „Alles was geschieht, ist sinnlos, brüchig und trauervoll, es ist aber immer durchstrahlt von der Hoffnung oder von der Erinnerung.“ (ThR, S. 112)

 
1 vgl. dazu insgesamt Ferenc Feher: Am Scheideweg des romantischen Antikapitalismus. Typologie und Beitrag zur deutschen Ideologiegeschichte gelegentlich des Briefwechsels zwischen Paul Ernst und Georg Lukács, in: Agnes Heller (Hg.): Die Seele und das Leben. Studien zum frühen Lukács. Frankfurt/M. 1977. S. 241-276; Werner Jung: Georg Lukács. Stuttgart 1989; Carlos Eduardo Jordao Machado: Die „Zweite Ethik“ als Gestaltungsprinzip eines neuen Epos, in: Jahrbuch der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft. (Hg.) Frank Benseler und Werner Jung. Bd. 2. Bern 1998. S. 73-116.

2 Silvio Vietta: Ästhetik der Moderne. Literatur und Bild. München 2001. S. 62.

3 a. a. O. S. 63.

4 Jürgen Petersen: Der deutsche Roman der Moderne. Grundlegung – Typologie – Entwicklung. Stuttgart 1991. S. 43, außerdem 46f., 50f., 64.

5 a. a. O. S. 53.

6 a. a. O. S. 16.

7 a. a. O. S. 17.

8 Viktor Žmegač: Der europäische Roman. Geschichte seiner Poetik. Tübingen 1990. S. 142ff.

9 Christoph Bode: Der Roman. Eine Einführung. Tübingen und Basel 2006. S. 312.

10 a. a. O. S. 323.

11 a. a. O. S. 326.

12 ebd.

13 vgl. dazu auch Reinfandt: Der Sinn der fiktionalen Wirklichkeiten. Ein systemtheoretischer Entwurf zur Ausdifferenzierung des englischen Romans vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Heidelberg 1997.

14 Hans-Georg Pott: Neue Theorie des Romans. Sterne – Jean Paul – Joyce – Schmidt. München 1990. S. 9.

15 a. a. O. S. 14.

16 a. a. O. S. 18f.

17 a. a. O. S. 19.

18 Heinz Schlaffer: Der Roman, das letzte Stadium der Literatur, in: Sinn und Form. H. 6. 2002. S.795.

19 Pott a. a. O. S. 27.

20 a. a. O. S. 39.

21 a. a. O. S. 35.

22 a. a. O. S. 44.